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"Auffällig unauffällig" Identität und Integration – Herausforderungen und Chancen der Zuwanderung am Beispiel der Russlanddeutschen (20. April 2016, Pforzheim)

/ 7 Minuten zu lesen

Sehr geehrte Frau Mast, sehr geehrte Damen und Herren,

„Auffällig unauffällig.“ So beschreiben viele der mehr als zweieinhalb Millionen Russlanddeutschen ihre eigene Integrationsgeschichte in der Bundesrepublik. In der Tat: Es war ruhig geworden um die größte Einwanderungsgruppe, die die deutsche Gesellschaft seit der Zuwanderung der Gastarbeiter aus Südeuropa aufgenommen hat. Jenseits der öffentlichen Wahrnehmung sind Aussiedler und Spätaussiedler zu einem festen Teil unserer Gemeinschaft geworden.

Sie kamen in der Hoffnung, dass die Heimat ihrer Vorfahren sie mit offenen Armen empfängt. Vor allem kamen sie, weil sie sich und ihren Kindern nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein sicheres Leben in Wohlstand wünschten.

Einige hatten dieses Glück, fanden schnell Anschluss an die Arbeitswelt und freundeten sich mit den neuen Lebensumständen an. Günstig waren die Bedingungen vor allem für die Vorreiter der Gruppe, die bereits Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre einreisen konnten. Großzügige Eingliederungshilfen und die deutsche Staatsbürgerschaft waren der Grundstein für eine erfolgreiche Integration. Manche sprechen gar von der „Avantgarde der Migrationsgesellschaft“, an deren Beispiel wir uns auch heute noch orientieren können.

Die Statistiken geben ihnen Recht. Die allermeisten von ihnen sind erwerbstätig, die Arbeitslosenquote liegt ungefähr beim Wert der Personen ohne Migrationshintergrund. Insgesamt sind Aussiedler in Deutschland mit ihrer Lebenssituation zufrieden. Und ihre Nachkommen haben oft die Möglichkeit eine gute Laufbahnen in Schule und Beruf einzuschlagen.

Doch die Erfolgsgeschichte hat auch Verlierer hervorgebracht. Je tiefer man in die „Community“ eintaucht, desto mehr Probleme lassen sich vor allem bei der sozialen Integration feststellen.

Das hat möglicherweise hausgemachte Gründe. Auf die große Anzahl der Einwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken reagierte die Politik mit einer Verschärfung der Aufnahmekriterien.

Entscheidender für jene, die es doch nach Deutschland geschafft haben, war aber etwas anderes:

Das Begrüßungspaket aus Sprachkursen und finanziellen Hilfen fiel spätestens seit 1993 längst nicht mehr so großzügig aus wie noch zu Beginn.

Unzählige Diplome und andere Abschlüsse wurden nicht anerkannt, viele arbeiten deshalb unterhalb ihrer Qualifikationen.

Gleichzeitig machte sich die Ablehnung gegen die auf den ersten Blick gar nicht so deutschen neuen Mitbürger breit.

Wie groß muss auch die Irritation vieler Spätaussiedler gewesen sein, als sie gemerkt haben: Niemanden hier interessiert, dass wir gekommen sind, um als Deutsche unter Deutschen zu leben. Die Aufnahmegesellschaft hat eine Anpassung erwartet, die kaum jemand von ihnen leisten konnte. Auf einmal war die Identität eines ganzen Volkes infrage gestellt. Dazu kamen Gefühle der Ausgrenzung.

Für Außenstehende mag die Auseinandersetzung mit der Nationalität befremdlich wirken. Doch für viele Russlanddeutsche gehört ihre Abstammung nach wie vor zu einem wichtigen Element der Selbstwahrnehmung. Viele schämen sich nun wegen ihrer Herkunft und wegen ihrer schlechten Deutschkenntnisse. Nicht wenige reagieren mit dem Rückzug ins Private.

Es war vielleicht doch kein so guter Start, wie viele denken. Als „Heimkehrer“, so sehen sich die meisten trotz der Entfremdung. Kenner der Gruppe sagen hingegen: Bei den Russlanddeutschen haben wir es mit einer „echten Einwanderungssituation“ zu tun. Einige werden das nicht gerne hören – vor allem jene, die auf die deutsche Abstammung verweisen. Über die Umstände der Einwanderung sollten wir diskutieren – gerade im Interesse jener, die immer noch mit ihrer neuen/alten Heimat fremdeln.

Die meisten von ihnen sind in einer Ideologie aufgewachsen, die sich eklatant vom politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik unterscheidet. Viele haben es zu ansehnlichen Karrieren in der Sowjetunion gebracht. Viele waren trotz Benachteiligungen angesehene Mitglieder der Gesellschaft Russlands, Kasachstans, der Ukraine oder all der anderen Teilrepubliken der UdSSR. Ihre deutsche Kultur konnten jedoch nur die wenigsten pflegen, genauso wenig wie die deutsche Muttersprache. Wen wundert da noch die Entfremdung, die viele nach ihrer Einreise erlebt haben?

Die russischsprachige Community in Deutschland, das sind aber längst nicht nur die Aussiedler. Mehr als 200.000 Russen mit jüdischem Hintergrund folgten der Einladung der Bundesrepublik. Mit der Aufnahme sogenannter Kontingentflüchtlinge kam Deutschland seiner historischen Verantwortung nach und wurde so zu ihrer neuen Heimat. Daneben leben Hunderttausende ethnische Russen, die zum Arbeiten, Studieren oder als Eheleute eingewandert sind. Kaum ein anderes Land außerhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion ist daher so sehr von der russischen Kultur geprägt. Man könnte sagen: das Russische gehört zu Deutschland.

Ersichtlich wird dies durch ambitionierte junge Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie Alina Bronsky oder Olga Grjasnowa, die in deutscher Sprache für ein breites Publikum ihre hybride Identität verhandeln. Aber auch durch die hunderten von Kultur- und Integrationsvereinen, die motivierte, aber auf dem Arbeitsmarkt oft verschmähte Pädagogen ins Leben gerufen haben. In den Städten und Kommunen helfen sie den Menschen dabei, ihre russischen Wurzeln am Leben zu erhalten. Für Kinder sind die Angebote die einzige Möglichkeit neben dem Elternhaus die russische Muttersprache als kulturellen Reichtum zu begreifen. Statt Scham vernimmt man nun einen gewissen Stolz innerhalb der russischsprachigen Gemeinschaft. Keine Frage: Ein noch recht junges russisches Selbstbewusstsein wächst auch hier in Deutschland.

Die Russischsprachigen haben es geschafft, sich auf unterschiedlichen föderalen Ebenen zu organisieren. Mit Recht artikulieren sie immer deutlicher ihre Interessen. Diese mentale Nähe zum Herkunftsland prägt nicht nur die russische Diaspora, sondern auch weite Teile der Aussiedler. Das ist nicht unbedingt problematisch, sondern gehört zum gesunden Umgang mit der eigenen Biografie.

Jedoch wird die Erinnerung an Russland und die Sowjetunion bei einigen sehr verklärt. Das Problem daran ist: Viele tun sich schwer mit den Grundpfeilern unserer demokratischen Gesellschaft.

Wie stark das Misstrauen in Politik, Medien und unseren Staat verankert ist, hat Anfang Januar der „Fall Lisa“ vor Augen geführt. Zehntausende Russischsprachige waren auf die Straße gegangen, um gegen die vermeintliche Gewaltbereitschaft von Ausländern zu demonstrieren. Russische Medien hatten über eine angebliche Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens in Berlin berichtet. Die deutsche Presse entlarvte die Berichte schnell als russische Propaganda. Auch die Behörden dementierten.

Doch warum glauben die Menschen eher den Kreml-Medien als den hiesigen Institutionen? Warum fühlte sich ein großer Teil von ihnen bereits im Ukraine-Konflikt stärker zur russischen Seite zugehörig – der Seite, die kein Hehl daraus macht, sich in einem Informationskrieg mit dem Westen zu befinden?

Die Diaspora in Deutschland ist erklärtes Ziel der Kreml-Propaganda, sagen Kritiker des Kremls. Und tatsächlich hört man immer wieder: Der Ukraine-Krieg hat Freundschaften zerbrochen. Sogar Familien sind auseinandergegangen, weil etwa Eltern und Kinder oder Eheleute sich nicht über Täter und Opfer einig werden konnten. Wie groß der Einfluss Moskaus auf die Aussiedler und die russische Diaspora ist, lässt sich empirisch fundiert nicht sagen. Es gibt auch wenige Hinweise dafür, dass die Mehrheit sich ausschließlich über russischsprachige Medien informiert. Die Jüngeren schon gar nicht. Wir wissen auch nicht, ob die Russlanddeutschen tatsächlich stärker als der Rest der Bevölkerung offen sind für eine radikale Geisteshaltung. Das ist ein Generalverdacht, den die politischen Vertreter der Gruppe zuletzt bei jeder Gelegenheit zurückweisen müssen.

Kurzum: Die Forschung hat diese Gruppe lange Zeit außer Acht gelassen. Einige beunruhigende Hinweise für die Radikalisierung liefert uns aber spätestens der „Fall Lisa“. Die Fremdenfeindlichkeit scheint zumindest bei einem Teil von ihnen zum guten Ton zu gehören. Viele fühlen sich wohler mit der nationalistischen und autoritären Agenda Moskaus als in der demokratischen offenen Gesellschaft der Bundesrepublik. Ein Grund dafür, dass Toleranz und die sogenannte Willkommenskultur als Bedrohung empfunden werden, dürfte auch die teils eigene misslungene Integration sein.

Es wäre tragisch, wenn rechte und rechtspopulistische Kräfte diese Verwirrung ausnutzen können. Dass Parteien wie die NPD seit Langem auch bei Russlanddeutschen auf Stimmenfang gehen, ist bekannt. Doch es gibt Hoffnung, dass immer mehr ihre politische Apathie und Teilnahmslosigkeit abstreifen – trotz aller anti-demokratischer Einflussnahme. Weder in der UdSSR noch in Russland hat den Menschen jemand gezeigt, wie zivilgesellschaftliches Engagement funktioniert. Ganz im Gegenteil: Politische Teilhabe und Emanzipation war den Mächten suspekt und teilweise mit einem erheblichen persönlichen Risiko verbunden. Hier in Deutschland entdecken die Menschen nun die Spielräume, um ihre Umwelt mitzugestalten. Sie bringen sich ein, und das nicht nur in ihren eigenen Kulturclubs oder Migrantenorganisationen. Immerhin sitzt für die CDU der erste russlanddeutsche Abgeordnete im Bundestag. Heinrich Zertik – deshalb in der Community „Heinrich der Erste“ genannt.

Durch die enge Zusammenarbeit mit Vertretern der Community möchte die Bundeszentrale für politische Bildung die Russischsprachigen bei ihrer Integration und Partizipation unterstützen. Wir möchten ihr verlorengegangenes Vertrauen in zivilgesellschaftliche Initiativen wieder herstellen. Auch, damit ihre Stimme in der Öffentlichkeit noch deutlicher vernommen wird. Wenn wir gemeinsam über die russischsprachige Community in Deutschland reden, wenden wir uns aber auch an die Mehrheitsgesellschaft. Die Frage ist: Wie können wir alle vor allem Spätaussiedlern und Kontingentflüchtlingen dabei helfen, endgültig ihren verdienten Platz in der Gesellschaft zu finden? Die Integration mag vielerorts gelungen sein. Nun brauchen die Menschen eine Heimat.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten