Sehr geehrter Herr General Weigt, meine sehr geehrten Damen und Herren,
"Flüchtling" - "Gutmensch". Zwei Worte, die auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammengehören. Zwei Worte, die von unterschiedlichen Stellen zum "Wort, beziehungsweise Unwort des Jahres 2015" gewählt wurden. Zwei Worte, die gemeinsam auf das Thema hindeuten, das alle politischen und gesellschaftlichen Debatten der vergangenen Monate beherrscht hat: die große Zahl der nach Europa und Deutschland fliehenden Menschen aus den Krisenregionen der Welt.
Was haben die Worte also miteinander zu tun?
"Flüchtlinge". Das Wort des Jahres 2015, bildet laut Gesellschaft für deutsche Sprache - und da stimmen Sie der Jury gewiss zu - das beherrschende Thema des vergangenen Jahres ab. In der Begründung für die Wahl dieses Wortes heißt es jedoch auch, dass das Substantiv sprachlich interessant sei, da es für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig klinge. Analoge Bildungen mit der Nachsilbe –ling, wie Eindring-ling, Emporkömm-ling oder Schreiber-ling seien negativ konnotiert. Andere, positiv behaftete Worte mit der Endung - wie beispielsweise Prüf-ling, Lehr-ling oder Schütz-ling - hätten im Gegensatz zum Begriff des Flüchtlings jedoch eine deutlich passivere Komponente.
Nun, wer ist denn überhaupt Flüchtling? Dies wurde in der Vergangenheit immer wieder neu verhandelt - auch im Jahr 2015. Die juristische Antwort auf diese Frage ist jedoch recht eindeutig. Die Genfer Flüchtlingskonvention definiert einen Flüchtling - vereinfacht dargestellt - als eine Person, die sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Landes befindet und Schutz eines anderen Staates in Anspruch nehmen kann. Dieser Staat garantiert dann soziale Rechte und den Schutz vor Abschiebung. Im Normalfall müssen Personen vor ihrer Anerkennung als Flüchtling nachweisen, dass ihre Angst vor Verfolgung begründet ist. Die Genfer Flüchtlingskonvention, das wichtigste Instrument des internationalen Flüchtlingsrechts, bezieht sich bei der Definition des Begriffs nicht explizit auf Menschen, die vor Konflikten fliehen; obgleich in den letzten Jahren die meisten großen Flüchtlingsbewegungen durch Bürgerkriege ausgelöst wurden.
Kommen wir zum zweiten Begriff, der 2015 ausgezeichnet wurde: "Gutmensch". Ein Wort, das einige von Ihnen vielleicht selbst schon einmal benutzt haben. Möglicherweise wurden Sie aber auch als ein solcher bezeichnet. 2011 kam der Begriff bei der Wahl des Unworts schon einmal auf Platz zwei. Im Duden heißt es, ein "Gutmensch" sei jemand, der sich in einer als unkritisch, übertrieben und nervtötenden Weise im Sinne der "Political Correctness" verhält. Und laut Jury - die übrigens aus Sprachwissenschaftlern, Journalisten und Kabarettisten besteht - wurden 2015 vor allem ehrenamtliche Flüchtlingshelfer mit diesem Wort diffamiert. Hier schließt sich der Kreis zur Flüchtlingsthematik.
Sprache ist wirkungsmächtig. Man kann einiges mit ihr bewirken – ja, auch anrichten. Sie ist nicht einfach nur ein Medium zur Beschreibung der Realität oder zur Vermittlung von Bedeutung. Sie schafft Realitäten - sie kann Denken und Handeln beeinflussen. Die Begriffe, die wir verwenden, prägen unser Bild von der Wirklichkeit. Und dies trifft natürlich auch auf das Thema Fluchtmigration zu. Und wie wird in Deutschland eigentlich über Fluchtzuwanderung gesprochen? Wir finden Beides: eine idealisierende und eine dämonisierende Sprache.
Auf der einen Seite wird häufig ein Bedrohungsszenario kreiert, in dem immer wieder dieselben Bilder benutzt werden. Bilder, die auf Bedrohungen und Katastrophen anspielen, wie zum Beispiel „Ansturm der Flüchtlinge“, "Flüchtlingswell" oder "Flüchtlingsflut". Es werden Verben wie "strömen", "überrollen" und "überschwemmen" genutzt. Die Menschen werden in der Berichterstattung nur selten als Einzelpersonen skizziert. Sie werden eher zu einer Masse von Vielen - scheinbar zu einer Naturkatastrophe, derer man "Herr werden müsse". Diese Wortwahl ist nicht neu. Sie zieht sich seit Jahrzehnten durch die Berichterstattung über Menschen, die Schutz vor Verfolgung, Krieg und Elend suchen. Salonfähig ist dabei vor allem das Bild des "vollen Bootes". Das Boot ist voll, die Aufnahmekapazität ist erschöpft. Wenn noch mehr "Fremde" kommen, dann gehen wir unter.
Diese Wortwahl wurde bereits während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz benutzt. Angesichts einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen aus dem benachbarten Deutschland setzten die Schweizer 1942 auf eine rigorose Einreisesperre. Tausende Juden, die aus dem Deutschen Reich flohen, wurden an der Grenze abgewiesen und kamen später in den Vernichtungslagern des NS-Regimes ums Leben. Die Schweiz sei ein "schon stark besetztes kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten", hieß es. Ein sprachliches Bild. Mit realen Konsequenzen für die Betroffenen, die abgewiesen und nicht mehr aufgenommen wurden.
Während die Metapher des vollen Bootes in der Schweiz auch in den 1980er Jahren im migrationspolitischen Diskurs präsent war, wurde sie in Deutschland zunächst überwiegend als Stammtischparole abgelehnt. Stattdessen etablierte sich hier die negativ konnotierte Vokabel des "Asylanten", mit der jedoch auch in Deutschland ein besonders bedrohliches Bild gezeichnet wurde. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung forderte beispielsweise im Mai 1980 in einem Leitartikel "Dämme gegen die Asylanten-Springflut". Gewarnt wurde auch vor "Asylmissbrauch" durch "Scheinasylanten". Ein Kompositum, das den damit Bezeichneten die Notwendigkeit der Flucht abspricht. "Wirtschaftsflüchtlinge" heißen sie heute.
Schleichend erhielt das Bild des vollen Bootes dann doch Einzug in die Berichterstattung der deutschen Mainstream-Medien. Zunächst wurde es von den Republikanern vor der Hamburger Bürgerschaftswahl im Juni 1991 auf einem Wahlplakat verwendet. Das Plakat zeigte ein überfülltes kleines Holzboot - die "Arche Deutschland" - und war mit dem Headliner "Das Boot ist voll!" überschrieben. Den Insassen wurde Asylbetrug vorgeworfen, den die Republikaner beenden wollten. Wenige Monate später brachte der Spiegel die Titelstory "Flüchtlinge - Aussiedler - Asylanten. Ansturm der Armen" und griff auf dem Titelbild das Bild der Arche Deutschland auf. Die Metapher des „vollen Bootes“ schlich sich nach und nach ein und wurde in den Monaten danach von vielen weiteren Medien aufgegriffen. Bedrohungsszenarien wurden kreiert, Sprache beeinflusste.
Sowohl die Berichterstattung der Medien als auch das politische Reden über die Asylzuwanderung sind mittlerweile vermutlich sensibler und ausgewogener. Die Vokabel "Asylant" wurde weitestgehend durch den Begriff "Flüchtling", teilweise sogar durch "Geflüchteter" ersetzt. Dennoch schwingen in der Sprache der Politik, Medien und Öffentlichkeit weiter die alten Muster mit. Immer noch ist der Rückgriff auf Vokabeln aus der Natur, insbesondere der Wasserwelt beliebt: "Der Flüchtlingsstrom müsse eingedämmt werden".
Und auch zuwanderungsfeindliche Stimmen nehmen zu. Ängste vor kultureller Überfremdung, vor dem Verlust der "deutschen Identität" und der "Islamisierung des Abendlandes" werden laut. Rechtspopulistische Gruppierungen wie PEGIDA oder die AfD instrumentalisieren und nutzen diese Ängste, um Zuspruch oder Wählerstimmen zu gewinnen. Sie erfreuen sich wachsendem Zulauf und erreichen Spitzenwerte.
Die Gewalt gegen Asylsuchende ist gegenüber den Vorjahren massiv angestiegen. Die Amadeu Antonio Stiftung, die zusammen mit Pro Asyl Übergriffe und Demonstrationen gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte dokumentiert, registrierte im Laufe der Jahre 2014 und 2015 deutlich mehr Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte als in den Jahren zuvor. Auch die rassistische Hetzte in den sozialen Medien nimmt zu. Wer Anschluss an die rechte Szene sucht, wird bei Facebook und Co. schnell fündig und ist nur ein „Gefällt mir“ von der Sympathiebekundung entfernt. Hunderte Organisationen verbreiten hier ihre Propaganda. Und ihre Sprache ist teilweise äußerst menschenverachtend.
Um das Weltbild der PEGIDA-Anhänger besser verstehen zu können, hat die Süddeutsche Zeitung sämtliche Kommentare und Interaktionen, die auf der Facebook-Seite der Organisation im vergangenen Jahr stattgefunden haben, analysiert. Die PEGIDA-Verantwortlichen mobilisieren hier ca. 200 000 Anhänger. Die Ergebnisse sind zwar nicht repräsentativ, erlauben jedoch einen Einblick in die Gedankenwelt. Die rassistische Hetze von PEGIDA versteckt sich nämlich im Detail. Die Anhänger der Bewegung pflegen ihre Rolle als besorgte Bürger und nutzen auf den ersten Blick eine eher neutrale Sprache. Doch darin liegt die Gefahr. Denn die Aussagen über Migranten zielen durchgängig auf Ablehnung und Schuldzuweisungen ab. Die Wortwahl in den Kommentaren ist laut Sprachwissenschaftlern verallgemeinernd. Flüchtlinge werden zu einem Feindbild. Ihnen wird vorgeworfen Deutschland erobern und islamisieren zu wollen. Nach dieser Logik wäre es möglich, Angriffe auf Flüchtlinge als Verteidigung zu werten, so die Wissenschaftler.
Neben dieser negativen und dämonisierenden Beschreibungs- und Betrachtungsweise lässt sich nun jedoch auch eine positive, ja teilweise sogar idealisierende Seite erkennen. So wird nicht nur das Potenzial für die demografische Entwicklung und der Wirtschaft aufgegriffen, sondern auch von der Willkommenskultur in Deutschland berichtet. Der Slogan "Refugees Welcome" wurde zeitweise zum Mainstream. Übrigens wurde diese Bezeichnung zum "Anglizismus des Jahres 2015" gewählt. Wieder ein Ausdruck aus der Flüchtlingsdebatte, der gekürt wurde. Damit hat die deutsche Sprachgemeinschaft laut Jury die unmittelbare Barriere zu den Flüchtlingen überwunden. Und signalisierte zudem Weltoffenheit. Flüchtlinge wurden in vielen Städten Deutschlands mit Willkommensplakaten und Begeisterungsstürmen empfangen. An vielen Orten bildeten sich Initiativen, die Geflüchtete bei ihrer Ankunft unterstützen, Spenden sammeln und verteilen, Deutschkurse anbieten. Die Menschen haben das Heft selbst in die Hand genommen, haben sich selbst organisiert und erkannt, dass der Staat nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen kann. Ohne das großartige bürgerschaftliche Engagement wäre das System der Flüchtlingsaufnahme und -versorgung letztes Jahr vermutlich zwischenzeitlich zusammengebrochen.
Ein großer Teil des Landes war und ist optimistisch. Er möchte helfen. Angela Merkels "Wir schaffen das" motivierte Deutschland. Und hier liegt der Ursprung für das Unwort des Jahres 2015. Von den Asylgegnern wurden Personen, die sich engagierten, als "Gutmenschen" abgetan. Denn eigentlich seien die mit der Einreise der Flüchtlinge verbundenen Probleme zu groß, das „Boot sei doch bereits längst voll“. Das Schlagwort diffamiert so die Hilfsbereitschaft vieler Menschen als naiv.
Was denken Sie? Ist die Metapher des vollen Bootes an dieser Stelle nicht äußerst unangebracht? Viele, der nach Europa kommenden Menschen, saßen auf ihrem Weg tatsächlich in einem überfüllten Boot. Dabei haben sie dem Tod ins Auge geschaut, haben Angehörige verloren, Leid gesehen und erlebt. Das Bild des toten Flüchtlingsjungen Aylan an der türkischen Küste ging um die Welt. Ein Bild, dessen Veröffentlichung stark diskutiert wurde. In einem verzweifelten Versuch wollte die Familie dem Krieg in Syrien entkommen und ein neues Leben in Frieden beginnen. Doch das überladene Boot, das sich von der türkischen Küste zur griechischen Insel Kos aufmachte, kenterte. Aylan starb zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter. Nur der Vater überlebte.
Der Junge ist einer von sehr Vielen, die es nicht nach Europa geschafft haben. Ein Europa, von dem die geflüchteten Menschen dachten, es sei eine Insel der Glückseligkeit. Die meisten Flüchtlinge geben als ihr präferiertes Zielland Deutschland an. Wir erinnern uns auch an die Selfies von glücklichen Flüchtlingen mit der Bundeskanzlerin, die um die Welt gingen. Bilder, die Hoffnung machten. Bilder, die aber auch diskutiert wurden. Werden damit falsche Hoffnungen geweckt? Diejenigen, die es bis hierher schaffen, müssen viel Kraft und Geld aufbringen. Und es gibt Menschen, die vom Leid der Flüchtlinge profitieren: organisierte Schlepperbanden.
Um diesen Herr zu werden, beteiligt sich auch die Bundeswehr an Maßnahmen im Mittelmeer - zunächst zur Rettung von Menschen in Seenot. Deutsche Soldaten haben bereits weit über 10.000 Menschen buchstäblich aus dem Wasser gezogen. Vielleicht war ja auch der ein oder die andere von Ihnen bereits selbst aktiver Teil dieser Einsätze.
Die deutschen Schiffe fahren unter der Flagge der EU Mission EUNAVFOR MED, kurz für European Union Naval Force Mediterranean. Ein doch recht sperriger Namen. So wurde die Mission in der zweiten, der aktiven Phase gegen Schleuser, kurzerhand „Operation Sophia“ getauft. Benannt nach einem Flüchtlingsmädchen, das auf der Bundeswehr-Fregatte Schleswig Holstein zur Welt kann.
Seit Oktober nun machen die Einheiten der EU, und somit auch die der Bundeswehr, gezielt Jagd auf die Schleuser im Mittelmeer. Sie dürfen Schiffe anhalten, durchsuchen und beschlagnahmen, wenn der Verdacht auf Schleusung von Flüchtlingen besteht. Außerdem sollen gemeinsam mit den Anrainer-Staaten im Osten und Süden kriminelle Schlepperbanden wirksam bekämpft werden.
Die Erwartungen an Deutschland sind auch in dieser Hinsicht groß. Im Kampf gegen die Schleuser hat die Bundeskanzlerin eine deutsch-italienische Trainingsmission für lybische Sicherheitskräfte in Tunesien vorgeschlagen. Beide Staaten haben ein „maximales Interesse“ daran, dass Libyen Schritt für Schritt wieder ein stabiles staatliches Gebilde werde.
Durch solche und ähnliche Formen der Nachbarschaftspolitik sollen die Fluchtursachen bekämpft werden. Die EU unterstützt die Staaten des südlichen Mittelmeeres dabei, sich wirtschaftlich und politisch zu stabilisieren. So erhalten die Menschen vor Ort eine Perspektive und die Zahl der Flüchtlinge soll nachhaltig verringert werden.
Trotzdem ist der Schutz der Außengrenzen ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Thema der Flüchtlingsdebatte auf der Ebene der EU. Hier zeigt sich die europäische Gemeinschaft gespalten. Einige Staaten schließen ihre Grenzen und schützen sie mit Zäunen, es werden Obergrenzen für Flüchtlingszahlen beschlossen. Deutschland wiederum setzt auf eine europäische Lösung. Die Lasten der Aufnahme und Integration schutzbedürftiger Flüchtlinge sollen innerhalb der EU gerecht verteilt werden. Der EU-Rat mahnt zur Eile. Es blieben nur wenige Wochen Zeit, um den Schengenraum und somit die EU zu retten.
Im März treffen sich die Staats- und Regierungschefs zu einem Gipfel in Brüssel. Laut EU-Ratspräsident Donald Tusk der letzte Augenblick, um zu beurteilen, ob die gemeinsame Flüchtlingsstrategie greife. Wenn nicht, drohe die EU als politisches Projekt zu scheitern.
Am morgigen Tag werden wir uns mit der europäischen Perspektive der Flüchtlingsfrage genauer beschäftigen. Dazu hören wir interessante Vorträge und gestalten Workshops, in denen auch die Migrationsrouten und die Schlepperorganisationen betrachtet werden. Am Nachmittag wollen wir dann den globalen Süden, das heißt die Herkunftsländer der Migranten und das dortige Fluchtgeschehen genauer unter die Lupe nehmen.
Politische und rechtliche Diskurse in Bezug auf Fluchtmigration waren immer schon interessengeleitet – auf europäischer Ebene, aber auch in Deutschland. Das zeigt zum Beispiel ein Blick auf die als "Asylkompromiss" bekannte Asylrechtsreform, die 1993 in Kraft trat. 1949 hatte der Parlamentarische Rat das Recht auf Asyl im Grundgesetz verankert - in Erinnerung an Verfolgung und Vertreibung während der NS-Zeit und die dadurch ausgelösten Massenfluchtbewegungen. Politisch Verfolgte sollen Asylrecht genießen. Ohne Wenn, ohne Aber. Damit hatte sich Deutschland im weltweiten Vergleich ein sehr großzügiges Asylrecht gegeben. In den 1980er Jahren stieg die Zahl der Asylsuchenden stetig an. 1992 betrug sie fast 440.000 und erreichte einen Höchststand, der übrigens erst 2015 wieder erreicht wurde. Anschläge auf Häuser von Zuwandererfamilien nahmen zu, Unterkünfte für Asylbewerber brannten und zahlreiche Menschen wurden verletzt oder kamen zu Tode. Die Politik begann Einschränkungen des grundgesetzlichen Rechtes auf Asyl zu verhandeln. Der getroffene "Asylkompromiss" legt fest, dass fortan niemand mehr das Recht auf Asyl hat, der entweder aus einem sogenannten "sicheren Herkunftsland" kommt oder über einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Deutschland ist lückenlos von sicheren Drittstaaten umgeben und ist somit für Asylsuchende auf dem Landweg kaum mehr legal zu erreichen.
Die Einschränkungen des Asylrechts im Grundgesetz spiegeln sich auch in den Schutzquoten wider. Heute erhalten jährlich weniger als zwei Prozent der Asylbewerber eine Asylberechtigung nach Art. 16a GG. Geflüchtete, die über den Landweg einreisen und um Schutz bitten, können allerdings einen Flüchtlingsstatus nach den in der Genfer Flüchtlingskonvention aufgezeigten Kriterien erhalten. Die meisten der Syrer, die 2015 nach Deutschland kamen und um Asyl baten, haben diesen Flüchtlingsstatus erhalten. Aber auch ihre Fälle wurden und werden weiterhin verhandelt.
So wurde im November des vergangenen Jahres beispielsweise vorgeschlagen, dass Syrern der sogenannte "subsidiäre Schutz" erteilt werden solle. Personen erfahren in Deutschland dann lediglich den „subsidiären Schutz“, wenn ihnen in der Heimat keine individuelle Verfolgung droht, aber durch allgemeines Kriegsgeschehen ein "ernsthafter Schaden" widerfahren könnte. Die Schutzsuchenden erhielten danach lediglich eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung und dürften nicht sofort einen Antrag auf Familiennachzug stellen.
Solch eine generalisierende Umsetzung fand nicht statt. Die große Koalition einigte sich jedoch Ende Januar auf das sogenannte "Asylpaket II". Was beinhaltet dies nun genau?
Zunächst dürfen Flüchtlinge mit eingeschränktem, also subsidiärem Schutz, ihre Familien nicht nach Deutschland holen – zwei Jahre lang soll der Nachzug ausgesetzt werden. Die Ausnahmen bilden jene Angehörige von Flüchtlingen, die noch in Flüchtlingscamps in der Türkei, Jordanien und dem Libanon verweilen. Das sind vor allem Syrer. Sie sollen vorrangig mit Kontingenten nach Deutschland geholte werden. Die Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien werden im „Asylpaket II“ als sichere Herkunftsländer eingestuft, um Asylbewerber aus diesen Staaten wieder schneller zurück in ihre Heimat schicken zu können. Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsländern sollen außerdem künftig in neuen Aufnahmeeinrichtungen untergebracht werden.
Aber es wird noch über weitere Maßnahmen nachgedacht. Generell müsse die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern optimiert werden. Außerdem sollen vor allem junge Asylbewerber in Deutschland besser integriert werden. Gleichzeitig sollen ausländische Straftäter zügiger ausgewiesen werden. Das ist auch eine Konsequenz, auf die sich die Bundesregierung nach den Übergriffen von Köln am Silvesterabend verständigt hat. Dies diene zusätzlich dem Schutz unbescholtener Flüchtlinge und solle den rechtspopulistischen Vereinigungen den Wind aus den Segeln nehmen.
Am dritten Tag unserer Gespräche wollen wir uns verstärkt der innerdeutschen Diskussion über die Migrationszuwanderung zuwenden. Wir diskutieren beispielsweise Fragen einer Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge. Erscheint es sinnvoll, die Migranten - die meist in die Großstädte ziehen wollen - auf dem Land zu verteilen? Raus aus den Ballungszentren, um eine Ghettoisierung und Gewalt von und unter Asylsuchenden zu vermeiden? Die Kölner Silvesternacht steht zurzeit wie kein anderes Ereignis für diese Gewalt. Die sexuellen Übergriffe am Domvorplatz werden in Teilen der Gesellschaft zum Sinnbild einer gescheiterten Politik der Bundesregierung gemacht. Sie seien Beweis dafür, dass sich Deutschland in der Flüchtlingsfrage übernommen hat. Und sie werden teilweise als Beleg dafür gewertet, dass Männer aus islamisch geprägten Ländern grundsätzlich eine Gefahr für Frauen darstellen. Haben Muslime ein anderes, aus westlicher Sicht vielleicht sogar falsches Frauenbild? Zeigen sich hier die Probleme und Folgen von ungesteuerter Zuwanderung? Die Angst der Deutschen vor Gewalt, aber auch explizit vor Terror im eigenen Land ist gestiegen - obgleich Deutschland bis jetzt von Anschlägen verschont blieb. Die Lage ist angespannt. Das Bundeskriminalamt zählt zurzeit über 440 sogenannte islamistische „Gefährder“ aus der Bundesrepublik. Das sind jene Personen, denen eine erhebliche Straftat zugetraut wird. Viele von ihnen sind in das Kriegsgebiet nach Syrien gereist. Über 200 halten sich jedoch zurzeit in Deutschland auf. Sie alle sind zwar registriert, ihr Aufenthaltsort wird regelmäßig festgestellt, doch eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung ist meist nicht möglich. Man bräuchte schlichtweg zu viel Personal – rund 30 Personen wären für diese Überwachung pro "Gefährder" notwendig.
Die schweren Anschläge, die Paris im letzten Jahr erlebte, sind möglicherweise erst der Anfang einer Offensive der Terrormilizen „Islamischer Staat“ und „Al Quaida“. Sicherheitsexperten befürchten, dass immer mehr verheerende Anschläge in den Staaten der „Ungläubigen“ und somit auch in Deutschland geplant werden könnten.
Wir erinnern uns: Im Januar 2015 attackierten Dschihadisten im Auftrag Al-Quaidas die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo". Parallel überfiel ein Anhänger des IS einen jüdischen Supermarkt in Paris. Und am 13. November starben bei mehreren koordinierten Anschlägen des Islamischen Staates mehr als 130 Menschen. Ein trauriger Wendepunkt. Der IS hat gezeigt, dass er zunehmend international agiert.
Im Januar hat dann ein Mann mit einem Beil bewaffnet - übrigens am Jahrestag des Angriffs auf "Charlie Hebdo" - Pariser Polizisten angegriffen. Der Attentäter wurde erschossen. Mittlerweile wurde bestätigt, dass der 24-Jährige vor der Tat unbemerkt unter falschem Namen durch die EU reiste. In sieben Staaten hat der Angreifer Asyl beantragt und dabei 20 Identitäten vorgetäuscht. Seit September 2014 lebte der Tunesier - der übrigens mehrfach straffällig wurde und auch eine Haftstrafe in Deutschland verbüßte - in einem Asylbewerberheim in Recklinghausen. Die Flüchtlingsfrage wird also auch im Hinblick auf die Terrorgefahr zur Belastungsprobe des Schengen-Abkommens. Potentielle Attentäter können sich frei bewegen, wählen beispielsweise ihr Anschlagsziel in Frankreich, organisieren Waffen in Deutschland und leben in Belgien. Ein EU-Staat, dessen Hauptstadt im letzten Jahr in Verruf gekommen ist. Der Stadtteil Moolenbeek wurde zum Rückzugsort für Islamisten. Die belgische Hauptstadt hat ein großes Dschihadisten-Problem. Und mit ihr, ganz Europa. Hier radikalisieren sich viele Muslime. Molenbeek ist einer der ärmsten Stadteile Brüssels. 50% der Jugendlichen sind arbeitslos. Perspektivlosigkeit und Isolation prägen den Alltag. Die Situation ist scheinbar außer Kontrolle geraten.
Um die Kontrolle wieder zu erlangen bedarf es vieler nationaler Maßnahmen, aber auch einer engeren Kooperation der europäischen Behörden. So wurde erst vor kurzem das neue Europäische Anti-Terror-Zentrum in Den Haag eingerichtet. Hier sollen vor allem drei besonders dringliche Aufgaben angegangen werden:
Die Bekämpfung des Terrorismus und die Vorbeugung der Radikalisierung,
die Bekämpfung der organisierten Kriminalität sowie
der Computerkriminalität.
Am 25. Januar hat das Zentrum seine Arbeit aufgenommen.
Flucht und Asyl bedeuten für die EU und für Deutschland also mitunter auch eine sicherheitspolitische Herausforderung. Generalmajor Jürgen Weigt, der Kommandeur des Zentrums Innere Führung der Bundeswehr wird Ihnen dazu am dritten Konferenztag vortragen.
Können die Ereignisse und die Angst vor Terroranschlägen, wie sie beispielsweise in Frankreich verübt wurden, das öffentliche Leben in Deutschland gefährden?
Im letzten Jahr wurden mehr als eine Million Flüchtlinge in Deutschland registriert. Wie hoch ist die Gefahr also, dass Terroristen als Flüchtlinge getarnt einreisen? Und wie hoch die Gefahr der Stigmatisierung Unschuldiger? Denn viele Schutzsuchende - vor allem aus dem Nahen Osten – müssen befürchten, mit den Straftätern der Kölner Silvesternacht oder gar mit den Terroristen in einen Topf geworfen zu werden. Ein Beispiel ist die Stadt Bornheim, wo männlichen erwachsenen Flüchtlingen der Zutritt zum örtlichen Schwimmbad verboten wurde. Grund waren Beschwerden über das Verhalten der Flüchtlinge. Einige Badegäste hätten gemeldet, belästigt worden zu sein. Das Verbot wurde wieder aufgehoben, der fade Beigeschmack bleibt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die 14. Bensberger Gespräche betrachten die von mir gerade skizzierten Herausforderungen von Flucht und Asyl aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Innerhalb der nächsten Konferenztage werden sowohl die globalen Perspektiven als auch nationale und lokale Aspekte mit Blick auf die Rolle Deutschlands in der Flüchtlingsfrage diskutiert. Ich freue mich, dass dem Gemeinschaftsprojekt des Zentrums Innere Führung und der Bundeszentrale für politische Bildung wieder renommierte Expertinnen und Experten beiwohnen. Denn Ihnen, meine Damen und Herren, kommt als Multiplikatorinnen bzw. Multiplikatoren der politischen Bildung eine besondere Bedeutung zu, um die demokratischen Grundwerte in der Politik und der Gesellschaft zu stärken. Deutschland hat vor dem Hintergrund der NS-Zeit eine besondere Verantwortung, Werte wie Demokratie, Pluralismus und Toleranz zu festigen. Gemeinsam sorgen wir dafür, das Verständnis für politische Sachverhalte und somit auch eine kritische Zivilgesellschaft zu fördern. Eine Gesellschaft, die sich aktiv an der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse beteiligt. Dafür bedarf es unabhängiger und überparteilicher Bildungs- und Informationsangebote.
Allen Akteuren der politischen Bildung ist sehr schnell klar geworden: Die aktuelle Lage fordert von uns kurzfristiges und flexibles Handeln. Die drei Zielgruppen der zu schaffenden Bildungsangebote waren schnell definiert: Die erste Zielgruppe sind die in Deutschland ankommenden Menschen, die wir mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung unseres Landes vertraut machen wollen. Gleichzeitig muss die aufnehmende Gesellschaft mit den Veränderungen vertraut gemacht werden, die die Migration zahlreicher Menschen ins Land mit sich bringt.
Eine Zielgruppe innerhalb der aufnehmenden Gesellschaft, die gesondert genannt werden muss, sind jene Menschen, die haupt- und ehrenamtlich die Geflüchteten dabei unterstützen, im Land anzukommen. In unseren Planungen und der Arbeit an schnell verfügbaren Angeboten dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass die Ankunft der vielen Flüchtlinge kein „vorübergehendes Phänomen“ ist, sondern dauerhafte Wirkungen entfalten wird. Bereits heute muss an jene gedacht werden, die Deutschland mittel- und langfristig zu ihrer neuen Heimat machen werden.
Politische Bildung braucht deshalb eine Infrastruktur, in der Formate entstehen, die auch die "großen Fragen" aufgreifen. Zum Beispiel eben die, wie sich unsere Gesellschaft durch die Flüchtlingszahlen wandeln wird.
Welche strukturellen Veränderungen bringt der Status des "Exillands" mit sich?
Müssen gesellschaftliche Transformationsprozesse neu gedacht werden?
Welche sozialen Konflikte sind hiermit verbunden, und wie kann man sie moderieren?
Es gilt, eine "beiderseitige Integration" zu schaffen. Die Ankommende sollen sich aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen können. Gleichzeitig müssen auch die in Teilen der aufnehmenden Gesellschaft herrschenden Vorurteile entkräftet und alltagstaugliche Argumentationshilfen gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit bereitgestellt werden. Zwar hat sich Deutschland de facto längst zu einem Einwanderungsland entwickelt, dennoch gilt es in unseren Planungen zu beachten, dass das Verständnis vom gesellschaftlichen „Wir“ umfassender und vielschichtiger werden wird. Es kann sich nicht mehr nur an der ethnisch-kulturellen Herkunft orientieren. Wir brauchen einen umfassenden Paradigmenwechsel. Neben der Frage, welche Akteure unsere Partner sein werden, um die skizzierten Herausforderungen anzugehen, bedeutet das auch eine Pluralisierung unserer Themenschwerpunkte, Perspektiven und Inhalte.
Das Thema "Flucht und Asyl" ist emotionsgeladen. Der Populismus verdrängt häufig die Sachlichkeit. Die deutsche Flüchtlingsdebatte ist gekennzeichnet durch Dämonisierung und Idealisierung. Sehr oft scheint es so, als stünden sich zwei Seiten gegenüber, die sich grundsätzlich ablehnen. Die Gegner einer offenen Flüchtlingszuwanderung und die Befürworter. Häufig gehen die Diskussionen mit verschiedenen Verunglimpfungen einher. Der Wille eines Perspektivwechsels und der sachlichen Prüfung der Argumente scheinen häufig sehr niedrig zu sein; zu emotionsgeladen ist das Thema.
Die politische Bildung soll und muss zur Veranschaulichung beitragen, um eine Spaltung der Gesellschaft in diese zwei Lager zu verhindern. Aber auch, um der teilweise erschreckenden rassistische Mobilisierung in der Bevölkerung entgegenzuwirken. Diese betrifft nämlich nicht nur vereinzelte Randgruppen, sondern ist längst in der Mitte der Bevölkerung angekommen. Studien zeigen, dass sich in allen Bevölkerungsgruppen in Deutschland manifest rechtsextreme Einstellungen finden. Die jüngste Studie aus dem Jahr 2014 der sogenannten „Mitte-Studien“ um Elmar Brähler und Oliver Decker der Universität Leipzig zeigt zwar, dass die Verbreitung geschlossener rechtsextremer Weltbilder seit Beginn der Messungen 2002 abgenommen hat. Doch gerade Ausländerfeindlichkeit ist in Deutschland weit verbreitet. Laut Studie ist jeder fünfte Deutsche ausländerfeindlich. Die Erkenntnisse zeigen jedoch auch: Bildung ist der Schlüssel. Bildung ist der wichtigste Schutz vor rechtsextremen Einstellungen.
Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich am Ende meiner Einführung zu den 14. Bensberger Gesprächen eine Metapher verwenden, die die Grundmaxime der Aufklärung darstellt. Ein Sprachbild, das ich im Gegensatz zu dem des "vollen Bootes" gerne selbst nutze: Lassen Sie uns gemeinsam "Licht ins Dunkle" bringen!
Ich wünsche uns, dass wir in diesen drei Konferenztagen viele neue Informationen erhalten und vor allem, dass wir spannende - nicht emotionslose - doch trotzdem sachliche Diskussionen führen.
- Es gilt das gesprochene Wort -