Brauchen wir eine „Europäische Zentrale für politische Bildung“? Ich meine ja! Von Thomas Krüger / erstmals erschienen in den Kulturpolitische Mitteilungen (KuMi), Heft 144 I/2014: Kulturpolitik & Planung
„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ Max Webers klassische Definition betont die Reziprozität von Herrschaftsbeziehungen: Eine wirklich dauerhafte Herrschaft benötigt einen Glauben an ihre Legitimität. Übertragen auf die Europäische Union heißt dies: Nur wenn es gelingt, einen „positiven Legitimitätsglauben“ an dieses supranationale europäische Konstrukt zu wecken und ihn langfristig am Leben zu halten, dann ist diese Struktur wirklich stabil. „Positiver Legitimitätsglaube“ soll dabei nicht nur als bloße Akzeptanz verstanden werden, sondern betont die menschliche „Innenseite“ der demokratischen Institutionen. Ein solcher Zugriff richtet den Blick von der Einrichtung der harten institutionellen und organisatorischen Fakten auf die „weichen Faktoren“, interessiert sich für Einstellungsmuster, Verhaltensformen, Werte, Kultur und Lebenswelt der Menschen, für das mentale, zivilisatorische und psychosoziale Gewebe einer Gesellschaft. Betrachtet man diese „Innenseite“, die Einstellungsmuster der europäischen Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf die Institutionen der Europäischen Union, dann kann einem derzeit angst und bange werden.
Europa befindet sich in einer Legitimationskrise. Hatte die EU laut Eurobarometer im Jahr 2007 noch für 52 Prozent aller Befragten ein insgesamt positives Image, ging die Zustimmung seitdem stetig zurück auf nur noch 31 Prozent im Herbst 2013. Das ist wenig verwunderlich, zeigt sich doch gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008, dass eine Europäische Union, die von der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger mehr als Wirtschaftsraum denn als gemeinsame kulturelle, soziale und politische Gemeinschaft verstanden wird, rapide an Legitimation einbüßt, sobald sie das Versprechen dauerhaften, ja steigenden Wohlstands anscheinend nicht mehr einlösen kann.
Wenige Monate vor der Wahl zum Europäischen Parlament – das auf dem Weg zu einer echten europäischen Volksvertretung seit ihrem Bestehen noch nie über derart umfassende Kompetenzen verfügt hat – herrscht verbreitet Katerstimmung. Zwar sollte uns allen insbesondere 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges Jean-Claude Junckers Diktum „Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen“ präsenter sein als je zuvor. Aber es scheint immer häufiger so, als ob die Friedhöfe von Verdun und Minsk ihre Symbolkraft verloren haben und im Dunst der Vergangenheit und unter den Vorwürfen einer „ausufernden Bürokratie“ aus Brüssel ihre Konturen verlieren. Das bloße Rekurrieren auf die Schrecken der Geschichte allein scheint bei vielen Bürgerinnen und Bürgern, zumal bei den jüngeren Generationen, nicht mehr auszureichen, „positiven Legitimitätsglauben“ an die EU zu evozieren. Ein „EU-Skeptizismus“, der dankend von populistischen Kräften abgefischt wird, findet hier einen nährstoffreichen Boden. Demoskopen rechnen mit einem einschneidenden Wahlerfolg für Rechtspopulisten und Rechtsextremisten. Bei allen Unterschieden haben diese Parteien eine Gemeinsamkeit: Sie erklären die Europäische Union als solche zum Feindbild.
Es fehlt an europäischer Öffentlichkeit - und an politischer Bildung
Der Referenzrahmen der meisten Menschen ist national geblieben. In Zeiten der Krise suchen viele Menschen erst recht Zuflucht im nationalen Referenzrahmen. Eine europäische Öffentlichkeit existiert nach wie vor allenfalls in Umrissen. . Und die wenigen zarten Pflänzchen, die es in diesem Feld gibt – ich denke hier beispielsweise an das jüngst eingestellte europäische Debattenportal „Externer Link: Presseurop“ – werden von offizieller EU-Seite nicht eben sorgsam gehegt. Das Wissen vieler Bürgerinnen und Bürger über Europa, über die Aufgaben der Institutionen, ihre an die EU-Mitgliedschaft geknüpften Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten, bleibt begrenzt. Die Wahlen zum Europäischen Parlament stoßen auf wenig Interesse, weil das Europäische Parlament von vielen Wählerinnen und Wählern als „nicht relevant“ wahrgenommen wird. An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Um ihn zu durchbrechen, ist es notwendig, die Menschen in der EU als Bürger zu stärken, ja zu ermächtigen: sie zu befähigen, ihre Rechte wahrzunehmen, Diskurse auf europäischer Ebene zu organisieren, sich aktiv zu beteiligen und auf diesem Wege letztlich auch ihre gewählte Interessenvertretung zu legitimieren und zu stärken. Dazu braucht es politische Bildung für Europa auf europäischer Ebene.
Selbstverständlich gab und gibt es zahlreiche Akteure, die versuchen, beispielhafte Projekte auf europäischer Ebene umzusetzen. Neben zahlreichen Informationsangeboten, Begegnungen und Vernetzungsinitiativen hat sich auch die Bundeszentrale für politische Bildung immer wieder für die Stärkung der politischen Bildung und die Unterstützung einer europäischen Öffentlichkeit eingesetzt. Mit einer mehrsprachigen täglichen Presseschau leistet Externer Link: euro|topics seit 2005 einen Beitrag für eine europäische Öffentlichkeit. Das bpb-Angebot zielt darauf ab, ein realistisches Bild der jeweiligen nationalen Debatten und Diskurse wiederzugeben.
Bereits 2004 wurde das Netzwerk Externer Link: NECE, Networking European Citizenship Education, ins Leben gerufen, um die Akteure auf dem Feld der politischen Bildung europaweit zu vernetzen. Seitdem ist es gelungen, die jeweils maßgeblichen nationalen Einrichtungen in einen dauerhaften Dialog zu bringen. Aus NECE gingen bereits wahrhaft europäische Projekte der politischen Bildung hervor, z.B. das Netzwerk Externer Link: JuniorVoting.eu, durch das 2009 zu den Europawahlen mit zwei Millionen Schülerinnen und Schülern der komplette Wahlprozess simuliert wurde. Ebenfalls zur Wahl erarbeiteten Einrichtungen des Netzwerks den Externer Link: VoteMatch Europe (vergleichbar mit dem deutschen Wahl-O-Mat). Auch 2014 wird es wieder einen europäischen VoteMatch geben.
Die Erfahrungen in der Vernetzung der politischen Bildung haben aus meiner Sicht vor allem zwei Dinge gezeigt: Politische Bildung ist auf europäischer Ebene wenig institutionalisiert, sie ist als Akteur „in Brüssel“ nicht präsent. Zum zweiten sind zwar „soziale Kompetenz und Bürgerkompetenz“ als eine von acht Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen definiert worden. In den Fördermechanismen und Programmstrukturen findet dieses Ziel jedoch zu wenig Niederschlag. Nicht zuletzt aus diesem Grund forderten der Soziologe Ulrich Beck und der Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit vor einiger Zeit „ein Europa der tätigen Bürger“. Ein Schritt neben dem in dem „Manifest zur Neugründung Europas von unten“ vorgeschlagenen „Freiwilligen Europäischen Jahr für alle“ könnte die Stärkung und Institutionalisierung einer europäischen Förderstruktur von politischer Bildung sein. Was stünde einer „Europäischen Zentrale für politische Bildung“ entgegen? Eine Institution, deren explizites Ziel es wäre, den positiven Legitimitätsglauben an die Europäische Union und die europäische Demokratie zu stärken. Und ich meine damit keine weiteren „EU-PR-Maßnahmen“, und der Schreckbegriff „Zentrale“ ist selbstverständlich verhandelbar. Ich meine vielmehr eine Institution, die sich der Instrumente der seit über 60 Jahren praktizierten politischen Bildung bedient, die sich mit den Grundprinzipien des „Beutelsbacher Konsens“ - dem „Überwältigungsverbot“, dem „Konotroversitätsgebot“ und der „Schülerorientierung“ - mit aktuellen Fragen europäischer Politik beschäftigt. Eine solche Einrichtung könnte europaweit Projekte der zivilgesellschaftlichen Arbeit fördern und in allen Amtssprachen überparteiliche Informationen, Lehrmaterialien und Online-Angebote bereithalten. Sie könnte europäische Debatten begleiten und sie anzetteln, sie könnte ein Stipendiatenprogramm zum Austausch von politischen Bildnern („Erasmus für politische Bildner“) auflegen und vieles mehr. Und sie könnte ein kleiner aber gewichtiger Baustein werden für die Stärkung der europäischen Demokratie und Zivilgesellschaft.
Einen Versuch wäre es wert, für Europa!