Sehr geehrte Mitglieder der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen,
Sehr geehrter Herr Czaja,
Sehr geehrter Herr Prof. von Gottberg,
Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der FSF,
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Sehr geehrte Damen und Herren,
2014 ist ein Jahr vieler 20. Jahrestage! 1994 nämlich war ein ganz besonderes, sehr vitales Jahr.
Vor 20 Jahren schufen wir gemeinsam mit 17 anderen europäischen Staaten den größten Binnenmarkt der Welt; der Europäische Wirtschaftsraum trat in Kraft.
Im selben Jahr gründeten wir zusammen mit über 100 anderen Staaten die Welthandelsorganisation WTO, die auch heute noch Handelskonflikte schlichtet und den Welthandel koordiniert.
Ebenfalls vor 20 Jahren nahm die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen, zusammen mit der USK ihre Arbeit auf – ein wichtiger Schritt für den Jugendmedienschutz. Es war die Leistung der Gründungsmitglieder, die verschiedenen Interessen zu bündeln und daraus eine schlagkräftige Institution zu formen. Die FSF hat ihren Auftrag als Selbstkontrolleinrichtung von Anfang an auf eine ganz besondere und sehr überzeugende Weise mit medienpädagogischen Angeboten verknüpft. Im Unterschied übrigens zu anderen Selbstkontrollen.
1994 war auch das Jahr, in dem der erste legale Musikdownload erschien. Es war ein Song von Aerosmith, bezeichnenderweise mit dem Titel "Head First". Um ihn hören zu können, nahmen die Web-Pioniere des Jahres 1994 einen etwa einstündigen Download in Kauf. Damit Musikdateien überhaupt digitale Verbreitung finden konnten, musste erst ein gemeinsamer Standard entwickelt werden. Die Technologie dafür kam bekanntermaßen aus Deutschland: das MP3-Format.
Die Internet-Pioniere von vor 20 Jahren hatten noch keine gemeinsame Vorstellung davon, wie ihr neues Medium aussehen sollte. Unterschiedliche Versionen der Websprache HTML drohten das gemeinsame Netz in mehrere Teil-Stränge zu zerfasern. Darum gründete einer von ihnen, Tim Berners-Lee, - ebenfalls 1994 - das World Wide Web Consortium (W3C). Er wollte die Web-Technologien vereinheitlichen und so eine Fragmentierung des Internets verhindern. Das W3C sollte den kleinsten gemeinsamen Nenner seiner Mitglieder finden und standardisieren. Sein Vorantreiben von Standards wie HTML beflügelte den Siegeszug des World Wide Webs. Dieses steckte heute vor zwanzig Jahren noch in den Kinderschuhen: Gerade mal 2700 Internetseiten gab es. Der Pioniere dieser Zeit ist es zu verdanken, dass sich die Zahl der Webseiten bereits bis zum Jahresende auf über 10.000 vervielfachte.
Heute sind es zwar ein paar mehr, aber das Grundprinzip des World Wide Web ist dasselbe geblieben: Nämlich die Verlinkung, im Jargon des Jugendmedienschutzes auch "der nächste Porno ist immer nur einen Klick weit weg", genannt. Was 1989 mit der open source software am CERN begann, ist zu einer Medien-Revolution geworden, die weit in die Gesellschaft ausstrahlt und heute fast alle Menschen ergriffen hat. Das W3C entwickelt seitdem stetig unsere Internet-Standards weiter. Und zwar nicht als eine zentrale staatliche Instanz, sondern als offener Verein und anhand offener Standards!
So unterschiedlich die Interessen aller genannten Akteure auch waren: Trotz zunächst eigener Vorstellungen haben sie sich auf gemeinsame Regeln verständigt. So konnten die auf den ersten Blick chaotisch anmutenden Neuentwicklungen ihre volle Kraft entfalten. Auch heute stehen wir vor einer gemeinsamen Herausforderung. Und zwar: Jugendschutz auch im digitalen Zeitalter zu gewährleisten. Und dafür müssen auch wir uns einigen und auf einen gemeinsamen Nenner kommen.
Als die FSF vor 20 Jahren in die Prüfpraxis gestartet ist, hat noch niemand vorausahnen können, in welchem Ausmaß sich die Rahmenbedingungen für den Jugendmedienschutz seitdem veränderten. Denn in den letzten 20 Jahren hat sich unsere Medienwelt dramatisch gewandelt: Schon im Laufe der 90er Jahre stellte das Web 1.0 den Jugendschutz vor ein neues Problem: das der Internationalität. Über das Web versendete Inhalte machen nicht vor Ländergrenzen halt – Gesetze aber schon. Die Grenzenlosigkeit des Web stellt den nationalen Fokus des deutschen Jugendschutz-Systems infrage. Jugendschutz, wie ihn die FSF im Fernsehbereich in einem vorbildlichen System der Selbstklassifikation fair und effektiv durchsetzt, muss daher online neu gedacht werden.
Offline-Jugendschutz setzt beim Anbieter der Inhalte an. Fernsehfilme werden von der FSF im Auftrag der Privatsender eingeschätzt bevor sie ausgestrahlt werden. Auch die statischen Internetseiten der 90er Jahre wurden von ihren jeweiligen Betreibern befüllt, welche daher wie ein Privatsender für ihre Inhalte verantwortlich waren. Internetseiten waren also vergleichbar mit den herkömmlichen Massenmedien TV und Radio: ein Sender, viele Empfänger. Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag von 2003 fasste Internetdienste daher als sogenannte Telemedien mit den Rundfunkmedien zusammen und unterwarf sie Jugendschutz-Regeln, welche auf dem bekannten Anbieter-Ansatz beruhen. Solange die Anbieter mitspielten, und im nationalen Raum taten sie das großteils, schien dieses System im Web 1.0 zu funktionieren.
Bereits im selben Jahr, 2003, machte jedoch der Begriff vom Web 2.0 die Runde: Soziale Netzwerke wie LinkedIn und MySpace wurden gegründet, 2004 folgte Facebook. Die Sozialen Netzwerke stellten keine Inhalte mehr bereit, sondern lediglich Plattformen, auf denen sie ihren Mitglieder alles Nötige an die Hand gaben, um selber Autor zu sein. Das wirbelte erneut die Welt des deutschen Jugendmedienschutzes und seiner alt-bewährten Koregulierung durcheinander: Wenn nicht mehr einer zu vielen spricht, sondern jeder zu jedem – wer ist dann für das Gesagte verantwortlich? Wohl derjenige, der gerade spricht – aktuell sind dies bei Facebook etwa 27 Millionen Deutsche. Indem so die Grenzen zwischen Anbietern und Konsumenten aufgelöst worden sind, ist der Anbieter-Ansatz ad absurdum geführt. Für das Social-Media-Zeitalter ist der Ansatz einer Selbstklassifizierung aller Inhalte nicht mehr praktikabel.
Doch was hat das alles mit dem Geburtstagskind - der FSF zu tun? Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen ist doch nur für Fernsehen zuständig? Das war so lange richtig, wie Fernsehen nur über den Rundfunk stattfand. Heute schauen wir den Tatort in der ARD-Mediathek, kaufen oder leihen Serien über Amazon Prime, diesen oder jenen Internet- oder App-Store, lassen uns Inhalte auf unser mobiles Gerät streamen oder zeichnen die Sachen, die wir schauen wollen, einfach auf, weil wir während des Ausstrahlungstermins lieber im Biergarten sitzen. Gerade letzteres Beispiel unterstreicht die Schwierigkeiten des Jugendmedienschutzes hinsichtlich der beteiligten Nutzerinnen und Nutzer deutlich. Die Mutter oder der Vater, die nichtsahnend die Wiederholung des 20-Uhr-Kinderfilms in der Nacht zur Aufnahme programmieren, weil sie entweder die 20-Uhr-Sendezeitbeschränkung kennen, aber nicht die für 23 Uhr oder – was wahrscheinlicher ist – die FSK-Freigabe "ab 12 Jahre". Die Überraschung der Eltern ist vermutlich groß, wenn ihre Kinder nach dem Genuß des aufgezeichneten Films von diesen ganzen Frauen und auch Männern reden, die man anrufen solle und auch ansonsten ganz ungewöhnliche neue Begriffe kennen.
Sollte YouTube, wie zu vernehmen ist, tatsächlich noch in diesem Jahr eine Streamingplattform anbieten, wird das Bewegt-Bild vermutlich endgültig im Netz angekommen sein. Laut einer Verbraucherbefragung im Auftrag des Branchenverbands BITKOM schaut inzwischen jeder dritte Bundesbürger Fernsehen lieber auf seinem PC. Nach den nationalen Grenzen und dem Anbieterprinzip stellt das All-in-One Medium Internet, der große Gleichmacher, nun auch die Grenzen zwischen den Medienverbreitungswegen infrage.
Doch auf genau diesen Grenzen beruht das Konstrukt des deutschen Jugendmedienschutzes. Je nach dem ob ein Film auf DVD erscheint, für die ARD produziert wurde oder auf einem der Privaten TV-Sender gesendet wird, oder ob er über Amazon vermarktet oder auf YouTube hochgeladen wurde – ganz andere Institutionen sind jeweils zuständig. In diesem Beispiel wäre entweder die FSK, die ARD selbst, die FSF, die FSM oder wohl niemand zuständig. Für Film-Fans und die unzähligen kleineren Anbieter ist das System kaum durchschaubar. Die Gliederung der Kompetenzen nach Verbreitungswegen hat im Offline-Zeitalter noch Sinn ergeben, heute jedoch nicht mehr, da alle Inhalte auch online verbreitet werden können.
Wie können wir also diese drei Herausforderungen meistern: Erstens die Internationalität der Inhalte, zweitens die Masse an Angeboten und drittens die Medienkonvergenz? Wie kann ein neues, modernes Jugendmedienschutz-System aussehen, das auch im digitalen Zeitalter unsere Jugend vor beeinträchtigenden Inhalten schützt?
Wir erinnern uns:
Die letzte große Jugendschutzreform von 2001/2 wurde von drei Grundideen angetrieben:
1. "Zusammenfassung und Vereinheitlichung in zumindest zwei grundlegende Normen: dem Jugendschutzgesetz für sogenannte Trägermedien und dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien,
2. Harmonisierung der Jugendschutzbestimmungen für Rundfunk und Internet,
3. Stärkung der Selbstkontrolleinrichtungen."
Die Forderungen und Begründungen des damaligen Gesetzentwurfs erscheinen heute allzu vertraut. So hieß es im Bundestagsantrag zum Entwurf des Jugendschutzgesetzes: "Bund und Länder streben für den Jugendmedienschutz insgesamt einen einheitlichen Schutzstandard an", und weiter: "[...] die medienrechtlichen Bestimmungen des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG) [müssen] den technischen Entwicklungen angepasst werden".
Die in der Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages angedachte Filtersoftware ist dabei ein vieldiskutierter Weg. Eltern sollen sie bei ihren Kindern installieren können, damit die Software ungeeignete Inhalte herausfiltert. Gegenüber der absurden Praxis der Sendezeitbeschränkungen im Internet erscheint dies als Fortschritt. Wer taggt, kann dann jugendgefährdende Inhalte rund um die Uhr einstellen, weil es ja Filtersoftware gibt. Außerdem tragen Filter dem Umstand Rechnung, dass Alterskontrollen, wie sie an der Kino-Kasse üblich sind, online nicht ohne weiteres machbar sind. Damit der Plan funktioniert, müssen alle Anbieter ihre Inhalte klassifizieren. Davon sind wir jedoch meilenweit entfernt. Denn erstens können wir nur inländische Anbieter dazu verpflichten. Und zweitens wäre es absurd, von tausenden Bloggern, abertausenden YouTubern und Millionen Facebook-Usern zu erwarten, mitzumachen. Selbst die öffentlich-rechtlichen Anbieter ziehen nicht mit.
Eine andere Möglichkeit wären Filter, die eigenständig Inhalte erkennen und einschätzen. Sie könnte Nacktheit als solche erkennen und je nach Einstellung blockieren. Bei bekannten Porno-Seiten mag das noch funktionieren. Aber schon im Bereich der Blogosphäre steht dieser Filter vor einem Problem. Denn es kommt nicht alleine auf den bloße Nacktheit an, sondern ganz entscheidend auf den Kontext. Handelt es sich bei dem Bild oder Video um eine voyeuristische Zurschaustellung, oder ist die Nackheit in einen plausiblen Kontext eingbettet? Erscheint dargestellte Sexualität selbstbestimmt, sind die Beziehungen von Freiwilligkeit, Toleranz und Partnerschaftlichkeit geprägt? Geht es vielleicht sogar um Aufklärung? Wenn man diese – wie ich finde – äußerst plausiblen Kriterien der FSF anlegt, wird klar, dass vollautomatische Filter den prüfenden Elternblick nicht ersetzen können. Es scheint keine gute Idee zu sein, eine Software vollautomatisch darüber entscheiden zu lassen, welche Inhalte für unsere Kinder geeignet sind.
Die voranschreitenden Entwicklungen machen es immer schwerer, die Idee eines restriktiven Jugendmedienschutzes durchzusetzen: ein Jugendschutz also, der zum Ziel hat, Kinder und Jugendliche vom Konsum mutmaßlich nicht für sie geeigneter Medien abzuhalten. Dieser Ansatz, der beispielsweise im Kino prächtig funktioniert, weil es dort eine Kinokasse gibt; der im Rundfunk funktioniert, weil es Sendezeiten gibt. Dieser Ansatz scheitert online an der Grenzenlosigkeit des Web. Die Idee der Inhaltsfilter wirkt wie der verzweifelte Versuch, wenigstens im nationalen Rahmen und wenigstens bei den größten Anbietern doch noch so etwas wie den guten alten Jugendschutz realisieren zu können, obwohl die Informationsflut längst über ausländische Server einprasselt und die Urheber nicht mehr nur die wenigen großen Anbieter, sondern vor allem die vielen Netzbürger sind.
Dabei benötigen Heranwachsende doch Orientierung in der Medienwelt. Diese verschaffen Sie sich mehr und mehr selbständig, indem sie die Medien einfach nutzen. Sie reagieren flexibel auf technische Entwicklungen und machen sich diese zu Nutze. Sie orientieren sich dabei an Gleichaltrigen, der so genannten Peergroup. Heranwachsende nutzen neue Medien viel aktiver, sinnvoller und verantwortungsvoller als wir Erwachsenen vermuten. Natürlich sind Kinder neugierig, natürlich bringen Gleichaltrige Themen und Inhalte mit, die nicht altersgerecht sind. Und genau in diesem Prozess zwischen Coolness und eigener Schwäche sind attraktive Angebote zur Medienkompetenzförderung wichtig und würden auch angenommen werden.
Und auch wenn wir es kaum glauben mögen. Für Kinder sind heute die eigene Entwicklung und unser modernes Leben aufregend genug. Sie sind nicht immer auf der Suche nach der Herausforderung, nach dem Kick. Das war anders zu Zeiten als fast alles verboten war. Heute suchen sich Kinder Inseln der Verlässlichkeit. Eine dieser Inseln ist das Kinderfernsehen. Maja Götz hat gerade in einem Interview aktuelle Zahlen genannt: 93 % der Kinder gucken Kinderfernsehen und sie kommen zum Erwachsenen-TV wenn sie mit der Mutter Brennpunkt gucken oder die Tagesschau läuft. Bis 12 Jahre suchen die Kinder ganz selten Sendungen für Erwachsene. Kennzeichnungen ab 16 signalisieren eher: Das macht mir Angst, was erwartet mich da, wie geht’s mir damit? Und was ist die Lieblingsseite der meisten Kinder im Internet? Nein, keine Pornos oder Gewaltvideos – die Website ihrer Lieblingsfernsehsendung.
Diese Nutzung von Inseln der Verlässlichkeit durch Kinder gilt es zu stärken, für alle Kinder, auch gerade die, deren sozialen Lebensbedingungen schlecht sind, die nicht von zwei kompetenten Eltern begleitet werden bei ihrem Aufbruch in die Medienwelt. Und selbstverständlich können technische Lösungen hierbei assistieren, aber eben nur assistieren. Das Heft in der Hand, oder die Maus, das haben erst mal Menschen, vor allem die Eltern. Und deren Aufklärung, deren Sensibilisierung für die Herausforderungen, deren Problembewusstsein gilt es zu entwickeln und zu fördern. Und zwar nicht fokussiert auf die Vermittlung von Jugendschutz-Regeln, sondern auf die Vermittlung von Medienkompetenz in der digitalen Gesellschaft und das heißt ganz klar: als gesellschaftliche Kompetenz, als politische Bildung. Um Kinder aus benachteiligten Verhältnissen müssen wir uns hierbei gemeinsam kümmern, das ist nicht nur Aufgabe des Jugendschutzes. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat einen eigenen Fachbereich, der sich u.a. der Förderung der Medienkompetenz bildungsbenachteiligter Kinder und Jugendlicher annimmt. Gerade deren Kompetenzen für eine kritische Mediennutzung gilt es zu stärken und im Verbund mit anderen deren selbständige und verantwortungsbewusste Teilhabe in unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam erreichen.
Denn wir sollten bedenken: Jugendmedienschutz ist kein isoliertes gesellschaftliches Handlungs- und Regulierungsfeld. Mit jeder Alterskennzeichnung, mit jeder Novellierung verhandeln und entscheiden wir über Grundrechte und eine Praxis der Wahrnehmung und Ausübung, der Gültigkeit dieser Grundrechte. Und hinsichtlich der Wertigkeiten sollten wir uns gesellschaftlich vielleicht auch nochmal verständigen. Denn auch wenn allmählich eine Versachlichung in die Debatten um den Jugendmedienschutz Einzug gehalten hat und das Pfeifersche Medienfieber auskuriert zu sein scheint – denke ich, dass wir unsere gesellschaftlichen und politischen Prioritäten doch noch besser austarieren sollten. Die Bedeutung, der wir der Frage "Wer schützt unsere Kinder vor Gewalt und Splatter, vor Headshots und Zombies?" beimessen, scheint mir zumindest gegenüber den Fragen "Wer schützt die Zukunft unserer Kinder vor einem die Grundlagen unseres Lebens bedrohenden Klimawandel?" oder "Wer schützt die Demokratie vor der NSA, vor der Datenkrake, vor der Totalüberwachung?" durchaus nochmal justierbar.
Wie können wir also einen zeitgemäßen, zukunftsfähigen und gesellschaftlich akzeptierten Jugendmedienschutz entwickeln?
Zwei Denkrichtungen stehen sich heute gegenüber: Diejenigen, die in staatliche Kontrolle, Verbote und Filterlösungen vertrauen und diejenigen, die auf Selbstregulierung, Bildung und Kompetenzen setzen.
Erziehung zur Selbständigkeit setzt Vertrauen voraus. Die Frage ist: Muss der digitalen Revolution nicht auch die erzieherische Revolution (in den Köpfen) folgen? Muss die Kultur des Verbietens nicht abgelöst werden von der Kultur der Eigenverantwortung?
Wir müssen uns fragen, ob unser bisheriger Anspruch an den Jugendmedienschutz im Netz noch aufrechterhalten werden kann. Oder ob wir unsere Ziele auf das noch Machbare reduzieren sollten. Ob wir weiterhin versuchen sollten, Inhalte vor den Kindern und Jugendlichen wegzusperren. Oder ob es klüger wäre, ihnen das Handwerkszeug an die Hand zu geben, damit sie eigenverantwortlich unangemessene Inhalte erkennen und vermeiden. Ein solcher Jugendschutz würde nie gegen den Willen der Heranwachsenden arbeiten, sondern stets im Einklang damit stehen.
Zu diesem Handwerkszeug kann neben einer deutlich stärkeren Betonung des präventiven Gedankens auch eine Filtersoftware gehören, allerdings sollten wir den aktuell verfolgten Ansatz des Anbieterlabelings kritisch reflektieren. Da nicht jede Webseite professionell eingeschätzt werden kann, könnte eine Filtersoftware stattdessen auch auf Schwarmintelligenz setzen: Sie würde ermöglichen, beim Besuch einer Seite diese mit einem Alterslabel zu versehen. Ganz basisdemokratisch würden die Nutzer so über die Klassifizierung einer Seite entscheiden. Jeder könnte dann in seiner eigenen Installation einstellen, welche Inhalte er sehen möchte, und welche nicht. Das System könnte von außen unterstützt werden, indem bewährte Institutionen Bewertungen erarbeiten und die Qualität der Nutzerbewertungen sicherstellen. Gerade die gut aufgestellte FSF würde hier sinnvoll mitarbeiten können. Auch wenn ein solcher Ansatz sicherlich noch in den Details zu diskutieren wäre, hätte ein solches System aus heutiger Sicht doch einige Vorteile: Erstens würde es über alle Ländergrenzen hinweg funktionieren, und zweitens würde es alle noch so kleinen Privat-Blogs und sogar Social Network-Profile erfassen können, ohne deren Urheber zu belasten. Und es würde die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit eines Jugendmedienschutzes in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung lenken.
Denn auf der Seite der Nutzenden müssen wir aktuell zur Kenntnis nehmen, dass Filter fast nur im Promillebereich zum Einsatz kommen. Für den Schutz insbesondere von Kindern halte ich sie aber durchaus für ein probates Mittel, wenn sie breite Akzeptanz finden und leicht nutzbar sind. Die Wirtschaft hat sich bei der Entwicklung und Verbreitung solcher Software offenbar leider als zu schwach erwiesen. Bund und Länder müssten hier gemeinsam mit der Wirtschaft investieren, um die volle Wirkung und Verlässlichkeit zu erzielen.
Die Erfahrung des Internets lehrt uns, dass sich proprietäre Standards nicht durchsetzen, wohl aber offene. Alte, geschlossene Ansätze, sind nicht geeignet, Jugendschutz online durchzusetzen. "Auf die Medienkonvergenz mit den jugendschutzordnungsrechtlichen Mitteln des Prä-IT-Zeitalters zu antworten, führt zum Scheitern des Jugendschutzes insgesamt", wie es Mark Liesching anlässlich des USK-Jubiläums auf den Punkt gebracht hat. Aber auch die neue Medien-Welt braucht Wertorientierung und hat Regeln. Neu ist: Diese Regeln müssen wir gemeinsam aushandeln. Einzelinteressen und Besitzstandswahrungen, so verständlich sie auch sind, müssen wir alle dabei der gemeinsamen Sache unterordnen.
Es gilt nicht nur, sich eine Entwicklung einzugestehen, die schon lange stattfindet. Es gilt nicht nur, das Hase und Igel-Spiel zu beenden, in dem der Jugendschutz der Kreativität der Anbieter immer hinterher läuft. Es gilt das Heft des Handelns wieder zu übernehmen. Nein, der Zug ist noch nicht abgefahren: Je mehr sich ein Medium zur Norm entwickelt – z.B. Soziale Netzwerke – desto mehr ist die Selbstbestimmung und eigenverantwortliche Nutzung des Individuums gefordert.
Kinder sind meist alleine mit neuen Medien unterwegs, aber wir dürfen sie nicht alleine lassen. Statt Kindern etwas zu verbieten, sollten wir Ihnen etwas bieten: Wir haben kein Ideen-Defizit, sondern ein Defizit politischer Praxis. Junge Menschen sind es inzwischen gewöhnt, immer mehr Verantwortung zu übernehmen. Übrigens auch politische Verantwortung für den Jugendmedienschutz. In mehreren Bundesländern wurde das Wahl-Alter für Kommunal- und Landtagswahlen auf 16 Jahre gesenkt; mit der scheinbar paradoxen Folge, dass dort Jugendliche darüber mitentscheiden können, ob es richtig ist, dass die Novelle des JMStV ihnen bestimmte Inhalte erst ab 18 Jahre zugänglich machen will. Und das ist ja auch gut so. Wir müssen junge Menschen darin unterstützen, Selbstwirksamkeit zu erfahren, Verantwortung zu übernehmen und sich zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu entwickeln.
Aus dieser Perspektive ist Jugendmedienschutz eine primär jugendpolitische Aufgabe. Die Aufgabe, die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern und sie dabei vor Gefahren zu schützen. Medien stellen für Kinder und Jugendliche heute ein wichtiges Feld zur Persönlichkeitsentwicklung dar. Hierzu brauchen sie ausreichend Freiräume, aber ebenso Begleitung, Aufklärung und Schutz. Öffentliche Angebote und Regelungen sollten dabei die erzieherischen Aufgaben der Eltern unterstützen. Dafür braucht präventiver Jugendmedienschutz ein stärkeres Profil. Nur so können wir junge Menschen dazu befähigen, sich selber vor Gefahren zu schützen – jetzt, wo die digitale Revolution auf nahezu alle Lebensbereiche ausstrahlt. Natürlich wird wirksamer Jugendmedienschutz auch in Zukunft sowohl durch eine ordnungspolitisch-schützende als auch eine pädagogisch-fördernde Komponente erreicht. Aber wir sollten die Wertigkeiten anders setzen. Wie vor Inkrafttreten des bestehenden Regulierungssystems im Jahr 2003 bedarf es aufgrund der zwischenzeitlichen Medienentwicklung einer neuen gemeinsamen Anstrengung von Bund und Ländern – mit dem Ziel, im Jugendschutzgesetz wie im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag möglichst wirksame Schutzinstrumente zu verankern.
Die Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags von 2010 ist gescheitert, weil 16 Länder am denkmalgeschützten Fachwerkhaus des Jugendschutzes herumrenovierten, während hunderte neue Anbieter längst auf der grünen Wiese unkontrolliert ihre Produkte anboten. Die Regelung kommt der Entwicklung nicht mehr hinterher, und wird sie den Anbietern doch mal lästig, dann hüpfen sie mit ihrem Server auf das Nachbargrundstück und schon dürfen sie wieder alles. Marc Liesching nannte das sehr schön die „Entrückung des Rechtssystems von der Realität“. Wenn wir Entrückung mit Rausch übersetzen, müssen wir feststellen: einige Akteure des deutschen Jugendmedienschutzes sind gerade ziemlich auf Droge und halluzinieren sich die gesellschaftliche Realität so zurecht wie sie es brauchen.
Wir müssen den Mut haben, Selbstkontrolle und Aufsicht neu zu definieren. Bund und Länder sollten sich trotz eigener Vorstellungen auf eine einheitliche Lösung verständigen, denn wir stehen alle vor einer gemeinsamen Herausforderung. Um Jugendschutz auch im digitalen Zeitalter zu gewährleisten, sollten wir entsprechend gemeinsam einen Kernbestand definieren, was Aufsicht und Selbstkontrolle leisten soll.
Regulatorische Instrumente sind in der heutigen und globalisierten und digitalisierten Medienwelt immer schwerer durchsetzbar, einem präventiven Schutzansatz kommt daher in Zukunft eine noch zentralere Relevanz zu. Die Medienanbieter stehen in der Verantwortung, geeignete Beiträge zur Profilierung und Weiterentwicklung der Instrumente des präventiven Jugendmedienschutzes zu leisten. Ebenso braucht es eine stabile und nachhaltige öffentliche Förderstruktur, Forschung unterstützt bei der Erkennung von Gefahrenkontexten und der Herausbildung geeigneter fachlicher wie gesetzgeberischer Maßnahmen. Eine besondere Bedeutung kommt einer wirksamen Maßnahmenkoordinierung und Qualitätsentwicklung auf übergeordneter Ebene zu, entsprechende Strukturen sind nachhaltig zu fördern und zu stärken. Ich stelle mir hier eine umfassend und angemessen ausgestattete Bund-Länder-Stiftung für Medienkompetenz und Kinder- und Jugendmedienschutz vor, die unabhängig und neutral diese Aufgabe übernehmen könnte. Eine solche Einrichtung wäre ein sinnvoller Schritt zur breiten gesellschaftlichen Legitimierung des Medienschutzes für Heranwachsende. Sie könnte das Forum des notwendigen gesellschaftlichen Diskurses über die mit dem Jugendmedienschutz einhergehenden oder ihm zugrundeliegenden Werte sein. Das bedeutet, dass die jugendpolitische Dimension im Jugendmedienschutz wieder gestärkt wird.
Kinder und Jugendliche für ein souveränes Leben mit Medien stark zu machen ist ein partnerschaftlicher Prozess. Wenn nicht sofort das Schwert des Verbietens droht, sind Jugendliche auch bereit, "Liebe, Sex und Partnerschaft" als Thema in Online-Portalen gemeinsam mit Pädagogen zu reflektieren. Dann sind sie bereit, etwa über Cybermobbing zu sprechen, oder Konsequenzen von Persönlichkeitsdarstellung im Web 2.0 erkennen zu lernen.
Das „Ziel ist vor allem auch die Förderung der Kritikfähigkeit, der kommunikativen Kompetenz und der kreativen wie demokratischen Nutzung der Medien.“ So der Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge Norbert Neuss 2011. Und ich schließe mich ihm gerne an! Und möchte mit Benjamin Jörissen ergänzen: "Medienbildung ist also der Name dafür, [...] dass Bildungsprozesse Neues hervorbringen können: neue Artikulationsformen, neue kulturelle/individuelle Sichtweisen und nicht zuletzt neue mediale Strukturen." Das bedeutet für uns, die Erfahrung neuer Strukturen nicht zu verbieten, sondern zu begleiten.
Die FSF hat schon vor Jahren den Vorschlag gemacht, den bisherigen Schutz um eine Beratung zu erweitern. Angedacht war ein Filmdatenblatt mit pädagogische Hinweisen. Die FSF war damals ihrer Zeit schon weit voraus und hat sich früh als Avantgarde eines zeitgemäßen Jugendmedienschutzes positioniert. Ein kluger Gedanke, denn: Verbraucherinformation ist ja auch Jugendschutz. Einerseits verlagert das einen Teil der Verantwortung auf Erziehende, andererseits stärkt sie das aber auch. Claudia Mikat hat dazu Anfang des Jahres einen sehr bemerkenswerten und treffenden Artikel in tv diskurs verfasst.
Eltern entscheiden dann auf der Grundlage qualifizierter Informationen, unter welchen Bedingungen sie ihren Kindern die Nutzung erlauben wollen. Das heißt aber auch, dass die Informationsmöglichkeiten ausgebaut und die Elternkompetenzen gestärkt werden müssen. Ebenso ist die schulische und außerschulische Vermittlung von Medienkompetenz und Informationen über Jugendmedienschutzaspekte noch längst nicht da, wo wir angesichts der Dimension des Themas hin sollten. Ein Beispiel, wie das aussehen kann, werden Sie als besondere Vorveröffentlichung heute Abend erhalten: die medienpädagogische DVD Fame – Faszination Medien von bpb, FSF und der Filmuniversität.
Das erste deutsche Jugendschutzgesetz stammt aus dem Jahr 1920. Anstoß gab damals der Spielfilm "Anders als die Andern" von Richard Oswald zum Thema Homosexualität aus dem Jahr 1919 . Das Strafgesetzbuch stellte damals sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Im Film hält der Protagonist vor Gericht eine flammende Rede für Akzeptanz von und Toleranz gegenüber Homosexuellen. Das galt damals als jugendgefährdend! Und sollte dementsprechend von der Jugend ferngehalten werden. Die Strafbarkeit von Homosexualität ist seit 1969 Geschichte, aber die Vorstellung jugendgefährdende Inhalte zu identifizieren und durch staatliche Maßnahmen unter Quarantäne zu stellen, lebt fort. Nur, seit dem WWW verstricken wir uns in einem immer größeren, aber wirkungslosen Knäuel von nacheilenden restriktiven Maßnahmen. Es müsse uns irgendwie gelingen, wie nach der sexuellen Revolution auch nach der digitalen Revolution der Realität ins Auge zu schauen.
Wir sollten die Zeit nutzen, bevor der restriktive Jugendschutz wohl möglich an seinem hundertsten Jahrestag als Papiertiger begraben wird, und ihn jetzt neu aufstellen. Wenn wir als Erwachsene einmal noch unserer Verantwortung für unsere Kinder und Jugendlichen gerecht werden wollen, dann, indem wir jetzt gemeinsam ein angemessenes Jugendschutzsystem auf die Beine stellen. Es ist Zeit, die Wertigkeiten umzukehren: Von der restriktiven Kultur des Verbietens mit pädagogischer Begleitmusik, hin zu einem reduzierten Kernbestand rechtlicher Regelungen, der umgeben wird von Maßnahmen zur Stärkung der Eigenverantwortung: Indem wir sowohl Eltern als auch unsere Jugend informieren, unterstützen und im Umgang mit Medien bilden. Wir müssen etwas bieten, statt zu verbieten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
- Es gilt das gesprochene Wort -