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"Man kann auch in der Diktatur Haltung bewahren" | Presse | bpb.de

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"Man kann auch in der Diktatur Haltung bewahren" Rede zum Widerstand im Nationalsozialismus anlässlich des 100.Geburtstag von Libertas Schulze-Boysen am 17. November 2013 auf Schloss Liebenberg

/ 9 Minuten zu lesen

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

auf dem Titelbild der im vergangenen Jahr erschienenen Informationen zur politischen Bildung "Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft" sehen Sie Arbeiter der Blohm und Voß Werft in Hamburg beim Stapellauf des Schulschiffes "Horst Wessel" 1936. Ein Mann hat dabei die Arme vor der Brust verschränkt und hebt nicht den rechten Arm, wie alle anderen um ihn herum.

Was sagt uns dieses Bild? Wer war dieser Mann? Warum handelt er anders als die anderen? Ist er besonders mutig, ist er ein Held? Hatte er durch seine Verweigerung Konsequenzen zu befürchten und war er sich dessen bewusst?

Es ist nicht restlos geklärt, um wen es sich handelt; die Forschung bietet zwei ”Stille Helden” an. Es könnte sich um einen gewissen August Landmesser handeln, der seine jüdische Verlobte Irma Eckler wegen der Nürnberger Rassengesetze nicht heiraten durfte; oder aber um Gustav Wegert, ein Schlosser auf der Werft, der als gläubiger Christ den sogenannten "Hitler-Gruß" verweigerte.

Sie sehen, wie viele Fragen dieses Bild aufwirft, und man könnte diese Frageliste noch viel weiterführen. Das Bild und die Haltung des jungen Werftarbeiters bringt mich zu unserem heutigen Thema: Widerstand im Nationalsozialismus. Und der Frage nach den Menschen, die sich dem NS-Regime widersetzten, ihren Motiven.

Es gab auch in Deutschland viele Menschen, die sich dem Nazi-Regime verweigert haben, ihm politisch entgegentraten. Oft taten sie ganz selbstverständliche Dinge: Anstand und Respekt erweisen, gegenseitige Hilfe und Beistand leisten, Menschen, die sich gegen Unterdrückung, Verfolgung, den Verlust politischer und bürgerlicher Freiheiten und dem Werteverfall in der Diktatur stellten. Sie demaskierten die Verlogenheit und die Menschenverachtung der von den Nazis propagierten "Volksgemeinschaft", die in Wahrheit eine Ausgrenzungsgesellschaft war.

Diese Menschen, die Widerstand leisteten, waren leider nicht in der Mehrheit. Es gab sie, aber es gab sie zu selten und es waren allzu oft nur einzelne Personen und keine großen Gruppen, die sich trauten. Manche waren "stille Helden" - ich erinnere an die verdienstvolle Ausstellung der Gedenkstätte deutscher Widerstand, die diesen ein Denkmal gesetzt hat. Andere, wie die Attentäter des 20. Juli 1944 um Graf Stauffenberg oder aber die "Weiße Rose" um die Geschwister Scholl - sind fest im kollektiven Erinnern des wiedervereinten Deutschlands verankert.

Andere wiederum sind bis heute weitgehend vergessen, es sind die "verdrängten Helden" des Widerstands. Eine solche ist Libertas Schulze-Boysen, anlässlich deren 100. Geburtstags wir heute hier sind.

Meine Fragen heute Nachmittag lauten: Warum und wie wird jemand wie Libertas Schulze-Boysen zu einer „Netzwerkerin des Widerstands“? Was brachte sie dazu, sich irgendwann vom Nationalsozialismus abzuwenden und ihn zu bekämpfen? Warum kommt ihr Widerstand bis heute in kaum in einem Schulbuch vor - während er in meiner Jugend in der DDR als Teil der "Roten Kapelle" heroisiert wurde? Welche Schlüsse können wir aus ihrem - heute würden wir vielleicht sagen: selbstermächtigtem, empowertem - Handeln für Gegenwart und Zukunft ziehen?

Libertas Schulze-Boysen wurde am 20. November 1913 in Paris geboren und am 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee mit nur 29 Jahren hingerichtet. Sie war vor dem Reichkriegsgericht in Charlottenburg angeklagt worden: wegen Hochverrats, Kriegsverrats und Landesverrats. Libertas war neben zahlreichen Männern eine von 19 Frauen, die 1942/43 im Zusammenhang mit der Verfolgung von Mitgliedern der von den Nazis so genannten "Roten Kapelle" zum Tode verurteilt wurden.

Schulze-Boysen stammte aus "besten Kreisen". Ihre Kindheit verbrachte sie in Ausbildungsinstitutionen für "höhere Töchter", zum Beispiel in der Schweiz. Im Jahr 1933 erhielt sie eine Stelle als Pressereferentin bei der amerikanischen Filmverleihgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer in der Berliner Friedrichstraße. Libertas Schulze-Boysen interessierte sich zunächst nicht sonderlich für Politik. Und sie sah weg, wollte es vielleicht nicht wahrhaben, wie das Regime mit den Juden umging. Wie mehrere ihrer Verwandten war sie der Partei beigetreten, nachdem dies in der deutschen Gesellschaft opportun wurde und vorteilhaft für das eigene Fortkommen war. Sie bekam die Stelle, nachdem die Reichsfilmkammer alle jüdischen Angestellten aus den Büros und Niederlassungen amerikanischer Filmgesellschaften in Deutschland hatte entfernen lassen.

Bei der Machtübertragung auf Hitler hatte sie am 30. Januar 1933 vor der Reichskanzlei den Marsch der SA-Kolonnen miterlebt. Sie sympathisierte zunächst durchaus mit dem Nationalsozialismus. Ihr Onkel, Fürst Friedrich Wend zu Eulenburg-Hertefeld, war nach einem Besuch bei Hitler bereits im Februar 1931 Mitglied der NSDAP geworden. Er empfahl befreundeten Gutsbesitzern "Mein Kampf" zu lesen. Baron Rudolf von Engelhardt, Gutsdirektor und mit einer Cousine von Libertas verheiratet, leitete die Liebenberger NSDAP-Ortsgruppe, der Libertas am 1. März 1933 beitrat.

Weniger als ein Jahr nach ihrer Heirat mit Harro Schulze-Boysen trat Libertas 1937 aus der NSDAP aus: Ja, auch das war damals möglich. Sie begründete ihren Austritt damit, dass eine Ehefrau in die Küche gehöre. Und doch hatte sie die Haltung ihres Mannes Harro beeindruckt: Ihr Ehemann gab die linksliberale Zeitschrift "Der Gegner" heraus. Die Redaktionsräume wurden am 20. April 1933 zerstört, die Redaktionsmitglieder in ein Sonderlager verschleppt, Harro Schulze-Boysen wurde misshandelt und mehrere Tage lang festgehalten. Gemeinsam mit Freunden aus dem "Gegner-Kreis" sammelte er Informationen über die NS-Verbrechen und verbreitete Flugblätter. Von Harro Schulze-Boysen und anderen erfuhr Libertas bald nach Beginn des Krieges, was an der Front und in den besetzten Gebieten vor sich ging, und war darüber erschüttert. "Im tiefsten Herzen" sagte sie "habe ich trotz aller Belege und Fotos nicht glauben wollen, dass Deutsche fähig sind zu solch abscheulichen Taten. Dabei weiß ich ja, wie es Harro selbst ergangen ist und Hans Otto und Ossietzky und ungezählten sonst. Aber dieses Hinmorden ganzer Völker: Ich kann einfach nicht mehr!"

Am 1. November 1941 trat Libertas eine neue Stelle an: Sie war von der Deutschen Kulturfilm-Zentrale als Referentin für "Kunst, deutsches Land und Volk, Völker und Länder" aufgenommen worden. Die Kultur-Filmzentrale gehörte zum Verantwortungsbereich des Ministers für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels. Das NS-Regime hatte allen Filmproduzenten den Auftrag erteilt, die Bevölkerung nicht zu indoktrinieren, sondern zu unterhalten und damit die Begeisterung für den Nationalsozialismus zu fördern. Als sich der Krieg hinzog, ging es zunehmend darum, einen patriotischen "Durchhaltewillen" in der Bevölkerung hervorzurufen, sie von der grausamen Realität des Krieges abzulenken und so zu tun, als stünde alles zum Besten. "Unsere Mauern brechen, aber unsere Herzen nicht!", lautete später die infame Parole, an der sich auch die Filmschaffenden zu orientieren hatten.

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden die Schulze-Boysens immer häufiger mit inoffiziellen Berichten über von deutschen Soldaten begangene Gräueltaten konfrontiert. Und die Nachrichten aus dem Vernichtungskrieg im Osten wurden immer entsetzlicher. Libertas entschloss sich, die Position, in der sie sich befand, zu nutzen, um die Verbrechen der Wehrmacht zu dokumentieren und ein entsprechendes Archiv anzulegen. Zunächst wollte sie junge Menschen davon abhalten, den Naziorganisationen beizutreten, doch im Laufe der Zeit setzte sie sich höhere Ziele. Eines Tages würden die Nazis zur Rechenschaft gezogen werden und ihre Ankläger Beweise benötigen. Sie sammelte und ordnete Informationen.

Die meisten Fotos bekam sie von Soldaten selbst. Fronturlauber etwa brachten verstörende Schnappschüsse mit. Es war den Soldaten strengstens verboten, Hinrichtungen zu fotografieren. Dennoch existieren solche Aufnahmen. Libertas sammelte solche Dokumente des Grauens und kopierte sie in den UFA-Ateliers, Bilder von Verhören, von der "Sonderbehandlung" durch die berüchtigten Einsatzgruppen, von "Liquidierungen" polnischer und sowjetischer Bürger, vom Massenmord an den europäischen Juden.

Die Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe umfasste nach heutigen Erkenntnissen etwa 150 Personen, Männer und Frauen aus verschiedensten biografischen und sozialen Zusammenhängen. Die Regimegegner um den Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, Dr. Arvid Harnack, und dem Oberleutnant der Luftwaffe, Harro Schulze-Boysen, dokumentierten die NS-Verbrechen und halfen Verfolgten. Ein Teil der Gruppe, darunter auch Adam und Greta Kuckhoff, stand in Kontakt mit dem sowjetischen Geheimdienst. Daraus strickten die Nationalsozialisten den Sammelnamen "Rote Kapelle", eine verfälschende Bezeichnung, das bis heute das Bild der Gruppe im öffentlichen Bewusstsein prägt.

In der DDR-Ikonographie dagegen wurde der Gruppe eine Steuerung durch die KPD zugeschrieben, die Verbindung zum sowjetischen Geheimdienst galt geradezu als Auszeichnung. Auch diese Darstellung wird den mutigen Männern und Frauen nicht gerecht.

Am 26. August 1941 hatte die deutsche Abwehr einen Funkspruch aus Moskau an Agenten in Brüssel abgefangen, in dem die Namen und Adressen von Libertas und Harro Schulze-Boysen und weiteren Mitgliedern der "Roten Kapelle" in verschlüsselter Form auftauchten. Nach ihrer Festnahme wurde Libertas Schulze-Boysen in das Hauptquartier der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße gebracht. Als sie einsam in ihrer Zelle saß, war sie sich zunächst sicher, dass ihre relativ geringe und unbedeutende Tätigkeit und ihre aristokratische Herkunft am Ende ihr die Entlassung garantieren würden. Libertas versuchte Gefährten zu warnen, vertraute dabei einer Sekretärin des Gestapobeamten, und verriet somit noch weitere Namen, die ebenfalls verhaftet wurden. Libertas, die schon lange befürchtet hatte, dass sie im Ernstfall nicht viel Widerstand würde leisten können, klammerte sich nach wie vor an die Hoffnung, dass die Beziehungen ihrer Familie sie am Ende doch retten würden.

Am 15. Dezember 1942 wurde das Strafverfahren gegen 13 Angeklagte eröffnet, die als Köpfe der "Roten Kapelle" galten. Zwei Tage vor Heiligabend wurden sie hingerichtet.

Die "Rote Kapelle" gehört zu den bedeutendsten, aber noch immer kaum bekannten Widerstandsgruppen gegen die NS-Herrschaft. Nach 1945 wurden sie in Westdeutschland als Landesverräter denunziert, in Ostdeutschland dagegen als Helden gegen den Faschismus gefeiert und instrumentalisiert. Dass Geschichte nicht schwarz und weiß ist, dass Geschichte komplexer und vielschichtiger ist, konnten Wissenschaftler nach dem Ende des Kalten Krieges und der Öffnung der DDR-Archive aufs Neue belegen. Erst nach der Wiedervereinigung sorgte eine Ausstellung der Gedenkstätte deutscher Widerstand 1992 dafür, dass die westdeutsche Ignoranz, ja Diffamierung und die ostdeutsche Instrumentalisierung der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe nach und nach schwindet. Neuere Forschungen, denken Sie etwa an die packende Darstellung von Anne Nelson, oder an die Biographie über Libertas von Silke Kettelhake, aber auch der ZDF-Film von Stefan Roloff, haben endlich dazu beigetragen, der "Roten Kapelle" historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Im Liebenberger Schloss wird seit der deutschen Vereinigung an Libertas erinnert. Zunächst wurde zum 50. Todestag eine Gedenktafel in der kleinen Kapelle angebracht. 1994 beschloss der Gemeindekirchenrat, dass die Schlosskapelle den Namen "Libertas-Kapelle" tragen soll. 2004 richtete die Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand eine Dauerausstellung über Libertas ein.

Nicht alle Geschichten über Widerstand schaffen es in die Geschichtsbücher. Doch wahre Heldentaten beginnen im Kleinen, im Alltag. Echte Helden brauchen keinen Sockel, aber unsere Anerkennung. Sie sollten Ansporn für uns alle sein, dass jeder von uns ein "Held" sein kann.

Beim Blick auf die unbekannten Widerstandskämpfer wird deutlich, dass es selten Helden waren, sondern vielmehr Menschen, mit all ihren Fehlentscheidungen, persönlichen Motiven, individuellen Gründen. Das bringt sie uns näher, holt sie vom Sockel und macht es uns möglich, uns mit ihnen zu identifizieren und gibt uns Raum über uns, unser Handeln und Handlungsoptionen nachzudenken.

Libertas war keine Heldin, die man auf einen Sockel stellt. Sie ist zunächst unpolitisch, profitiert sogar von der Ausgrenzungspolitik der Nationalsozialisten. Aber sie verändert ihre Haltung. Libertas Schulze-Boysens Geschichte zeigt, dass es Handlungsalternativen gibt, sie macht sichtbar, dass es nicht nur Anpassung, Mitmachen, Gehorchen gibt, dass es nicht nur um die eigenen Interessen geht. Sie zeigt uns auf ganz menschliche Weise, dass Rollen nicht festgelegt sind, dass man Meinungen ändern, eine Haltung einnehmen und anders Handeln kann. Sie ist widersprüchlich und ihr Weg zu ihrer Haltung ist nicht geradlinig. Sich mit ihr näher zu beschäftigen hat für die politische Bildung einen hohen Wert. Denn der Mensch hinter der abstrakten Ikone kommt einem näher. Der Blick hinter die „Worthülsen“ lohnt. Es wird klar, dass es Menschen waren, dass ihre Motive nicht immer heldenhaft waren, dass man aber mit kleinen Taten, durch Hinsehen, Hinhören, Aufschreiben, Handeln aktiv werden konnte und es immer wieder kann. Libertas Schulze-Boysen ist so eine Person, die Aufgeschrieben, gesammelt, den Terror dokumentiert hat. Der eingangs erwähnte Werftarbeiter ist ein zweiter, der durch eine kleine Geste sich und der Nachwelt eines bewiesen hat: man kann auch in der Diktatur Haltung bewahren.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten