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Grußwort zur Konferenz "Das System des Kommunismus - Idee und Wirklichkeit" | Presse | bpb.de

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Grußwort zur Konferenz "Das System des Kommunismus - Idee und Wirklichkeit"

/ 6 Minuten zu lesen

bpb-Doppelkonferenz: Kapitalismus-Kommunismus - Glanz und Elend zweier Gesellschaftsmodelle

Das Grußwort hielt Thomas Krüger anlässlich der Eröffnung des zweiten Teils der Tagungsreihe am 7. November 2013 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden.

Sehr geehrter Herr Prof. Vogel, sehr geehrter Herr Prof. Patzelt, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

heute vor 96 Jahren, am 7. November 1917, begann im damaligen Petrograd mit einem Signalschuss des Kreuzers „Aurora“ die Große Sozialistische Oktoberrevolution, wie der Sturz des Zaren in der kommunistischen Ideologie genannt wurde.

Lenin, so schrieb Jörg Baberowski vor einigen Jahren in unserer Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“, nutzte die vielfältigen inneren Konflikte des Zarenreiches in der „Stunde der Bolschewiki“ mit Entschlossenheit: „Er und seine radikalen Gefolgsleute artikulierten den Unmut, die Unzufriedenheit und den Hass der Unterschichten auf die alte Ordnung und die alten Eliten, und es gelang ihnen, sich von den Wogen des Protestes nach oben treiben zu lassen. In der Atmosphäre des Hasses traten die Bolschewiki als Advokaten hemmungsloser Gewalt auf: Der Machokult des Tötens und Mordens, die Primitivität und Bösartigkeit des Vokabulars und nicht zuletzt die Kleidung wiesen sie als Männer der Tat aus.“

Wenn Menschen in einer Krise stecken und soziale Ängste wachsen, reagieren sie auf ganz unterschiedliche Art und Weise: Sie ziehen sich zurück, entwickeln eine blinde zerstörende Wut gegen andere und sich selbst, oder sie gehen auf die Straße und verwandeln ihre Angst in Mut.

Vor ziemlich genau 24 Jahren sind hier in Dresden viele Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die kommunistische Diktatur der DDR zu protestieren. Sie wollten frei sein. Und sie haben es geschafft, sich gewaltlos aus den Zwängen und der Allmacht des Staates und seiner Partei zu befreien. Der noble Ruf „Wir sind das Volk!“ gehört zweifellos zu den Sternstunden der deutschen und europäischen Geschichte.

Im Herbst 1989 schien es so, als habe es „das Volk“ der DDR in seiner breiten Mehrheit satt, weiterhin als Versuchskaninchen eines gesellschaftlichen Großexperimentes zu fungieren. Zwar waren Forderungen nach einem demokratischen Sozialismus noch bis zum Januar 1990 an Runden Tischen und in der Bürgerbewegungen aktuell. Die von der SED stets betonte Systemalternative zwischen Sozialismus und Kapitalismus, so ergab es vor wenigen Jahren eine gründliche Studie des Hannah-Arendt-Instituts hier in Dresden (HAIT), tauchte im Revolutionsherbst kaum irgendwo ernsthaft auf. Vielleicht hatte Erich Honecker ja Recht, als er bei seinem Besuch in Bonn im September 1987 hervorhob, dass die „Realitäten dieser Welt“ bedeuten: „Sozialismus und Kapitalismus lassen sich ebenso wenig vereinbaren wie Feuer und Wasser.“

Ich weiß es nicht sicher, aber ich vermute, dass es auch heute wieder viele Menschen in Dresden und in anderen Teilen Deutschlands und der Welt gibt, die Angst vor „dem System“ haben: nicht Angst vor der Allmacht des Staates, sondern vor der Allmacht der Banken und der Finanzmärkte. Und wieder gehen viele Menschen auf die Straße in Berlin, in Frankfurt/Main, in Lima und Sydney. Sie fordern klarere Regeln für die Finanzmärkte, sie fordern eine funktionierende Demokratie, in der sie als Bürgerinnen und Bürger eine tragende Rolle spielen. „Wir sind die 99 Prozent!“

Ich darf Sie ganz herzlich zur Fortsetzung der zweiteiligen Veranstaltungsreihe „Kapitalismus – Kommunismus – Glanz und Elend zweier Gesellschaftsmodelle“ begrüßen. In den kommenden drei Tagen nähern wir uns dem „System des Kommunismus“, seiner Idee und seiner Wirklichkeit – und damit einer Geschichte des fortgesetzten Utopieverlustes.

Für die Doppelveranstaltung haben sich mein Haus, die Bundeszentrale für politische Bildung, der Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich der TU Dresden und das Hygiene-Museum Dresden zusammengetan, um gemeinsam mit Ihnen tatsächlich die Systemfrage zu stellen – und zu klären. Der Ort dieser Veranstaltung ist nicht zufällig gewählt, ist doch das imposante und traditionsreiche Deutsche Hygiene-Museum ein offenes Diskussionsforum für alle, die an den kulturellen, sozialen und wissenschaftlichen Umwälzungen unserer Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts interessiert sind.

Meine Damen und Herren, sowohl der Kommunismus als auch der ungezügelte Kapitalismus, die beiden großen Gesellschaftsideen des 20. Jahrhunderts – die in ihren theoretischen Ansätzen beide das „gute Leben“, die „gute“ Gesellschaftsordnung anstreben – lieferten und liefern in ihrer real existierenden Form den Menschen keine Sicherheiten und Entfaltungsspielräume im Weltgefüge des 21. Jahrhunderts. Sorgen um die Bestandsfähigkeit des globalisierten Kapitalismus prägen viele politische Diskurse seit der Eskalation der Weltfinanzkrise im Jahr 2008. In Europa kommen Ängste um das Finanz-, Wirtschafts- und Regierungssystem der Eurozone, ja überhaupt der EU hinzu. Und beim jüngsten Weltsozialforum in Tunis im März dieses Jahres wurde zum globalen Handeln gegen den Kapitalismus aufgerufen: „Gemeinsam kämpfen die Völker aller Kontinente darum, sich der Herrschaft des Kapitals zu widersetzen, die sich hinter illusorischen Versprechungen des wirtschaftlichen Fortschritts und der Illusion der politischen Stabilität versteckt.“ Der Prozess der Entkolonialisierung ist noch längst nicht beendet.

Nach marktkapitalistischem Prinzip ist jeder indes für sich selbst verantwortlich. Aber was passiert, wenn kaum einer mehr die Regeln versteht, nach denen im digitalisierten Finanzkapitalismus gespielt wird? Wenn Algorithmen Milliardenbeträge in Nanosekunden bewegen? Staaten und Regierungen scheinen weltweit zu schwach, um den Triumph des Kapitalismus weiterhin so zu regulieren, dass die gigantischen Erfolge der globalen Arbeitsteilung und der stetig wachsenden Produktivität nicht nur einer kleinen Minderheit sondern der ganzen Menschheit zugutekommt. Heute verfügt das wohlhabendste Zehntel der deutschen Gesellschaft über mehr als zwei Drittel des Gesamtvermögens. Weltweit ist die ungerechte Vermögensverteilung noch virulenter.

Dies ruft große Unsicherheiten hervor – vor allem bei den jungen Generationen – und drückt sich aus in einer wachsenden Distanz zum staatlichen System, einem Vertrauensverlust in die staatlichen Institutionen, in zunehmendem Extremismus und in Fremdenfeindlichkeit. Kurz: Die Systemkrise bedroht die Demokratien weltweit.

Es ist also höchste Zeit, aufs Neue über Voraussetzungen und Gefährdungen der Demokratie zu reflektieren. Wie wollen und müssen wir Gesellschaft organisieren, um soziale Gerechtigkeit und Wettbewerbsfähigkeit im globalen Markt zu vereinen? Bieten konfuzianische oder islamische Kulturmuster tatsächlich Alternativen zum Kapitalismus, Stichwort: Islamic Finance? Welche Ansätze liefern uns die großen politiktheoretischen Ideen der Vergangenheit?

Und wenn wir den Kalten Krieg und die Teilung der Welt heute historisieren, müssen wir auch fragen: Was hat uns Karl Marx heute noch zu sagen? Wäre Marx mit seiner fulminanten Kritik der politischen Ökonomie wirklich ein Marxist geworden?

Für unsere Demokratie hängt vieles davon ab, dass die Bürgerinnen und Bürger die Mechanismen der Demokratie nachvollziehen und vor allem partizipieren können. Für die deutschen Politikwissenschaftler der ersten Stunde, die nach 1945 die Politische Bildung und das Fach Politikwissenschaft aufbauten, hatten Einsichten in diese Bestandsvoraussetzungen der Demokratie im Zentrum der Bemühungen gestanden.

Einige von Ihnen waren sicherlich bei der ersten Veranstaltung im Juni bereits anwesend, als wir uns ausführlich mit dem Thema Kapitalismus auseinandergesetzt haben. Beide Tagungseinheiten zielen weniger darauf ab, Geschichte aufzuarbeiten oder eine politische Debatte zu befeuern. Vielmehr sollen mit fachkundiger, analytischer Distanz, die Grundlagen, das Ethos, die Folgen und die Ausgestaltungsnotwendigkeiten beider „Baupläne“ für eine „gute Ordnung“ erörtert werden. Multidisziplinäre Zusammenschau und Einbettung des je Konkreten in seine allgemeineren Zusammenhänge sind die dabei zielführenden methodischen Leitgedanken.

Auch beim zweiten Teil der Veranstaltungsreihe werden wieder Vertreter und Vertreterinnen sehr verschiedener Disziplinen (Biologie, Kulturanthropologie, Geschichte, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft) den zentralen Wissens- bzw. Reflexionsstand der jeweiligen Disziplin zum jeweiligen Tagungsthema festhalten, dies aber nicht stückwerkartig tun, sondern eingebettet in einen klaren, auf Vergleiche und praktische Lehren ausgerichteten Gedankengang. Was folgt für die Ausgestaltung des Kapitalismus, den wir derzeit erleben, aus den Erfahrungen mit jenem Kommunismus, den so viele Gesellschaften bereits durchlebt haben und einige noch erleben?

Eben darin besteht der Mehrwert beider immer zusammen zu denkenden Tagungen. Es geht explizit nicht darum, von aktuellen Problemlagen inspirierte Thesen gegeneinander ins Spiel zu bringen, sondern schrittweise „Gestaltungserkenntnis“ zu gewinnen:

Meine Damen und Herren, ich stehe hier als Repräsentant der politischen Bildung und verteidige voller Überzeugung und mit glühenden Worten die Grundwerte einer demokratischen Ordnung. Nach den Erfahrungen, die ich drei Jahrzehnte lang mit dem Regime des real existierenden Kommunismus der DDR machen musste, wird es für den Rest meines Lebens keine freie Wahl mehr geben, an der ich nicht teilnehme. Ich möchte Sie hier und heute einladen, sich mit der Ideengeschichte des Kommunismus auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, welche Aspekte daraus einer gerechten Gesellschaftsordnung im 21. Jahrhundert gut tun können.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie das Gehörte und Gesehene zum Nachdenken anregt und dass Sie während der Veranstaltung Zeit finden, sich mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung auszutauschen, Kontakte knüpfen, die die Tagung überdauern, und dass gerade Ihre unterschiedlichen persönlichen Hintergründe und Arbeitskontexte zu einem fruchtbaren Dialog führen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und gutes Gelingen.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten