Sehr geehrter Herr Türkis, liebe ältere und jüngere Teilnehmerinnen und Teilnehmer, meine sehr verehrten Damen und Herren,
mein Nachbar nutzt seine Pensionierung, um tagtäglich mit seinem Computer an der Börse zu spekulieren. Eine Frau in meinem Bekanntenkreis hat ihre aus gesundheitlichen Gründen stattgefundene Frühverrentung genutzt, um mit Ende 50 eine neue Ausbildung anzufangen und verdient heute, mit Ende 60, ein Vielfaches von dem was Sie als Angestellte im öffentlichen Dienst hatte. Aber sie arbeitet auch ein Vielfaches. Wir alle kennen Beispiele älterer Menschen, die sich im Alter von unserem Bild des schwächer und vielleicht krank und pflegebedürftig werdenden Menschen abheben. Frauen, die mit 58 besser aussehen, als jede 20-Jährige; Männer, die mit Mitte 70 Marathon laufen. Wir sehen sie mit Ambivalenz: Gehen Sie Ihren eigenen Weg? Laufen Sie jugendlichen Idealen nach, weil das die Gesellschaft fordert?
Wie will ich leben? ist eine Frage, die sich Menschen nicht jeden Morgen beim Zähneputzen stellen. Es ist eine Frage, die in jeder Situation eine andere Bedeutung hat. Ein Kind bewertet diese Frage anders als ein Erwachsener. Fragen Sie einen Dreijährigen, wie er leben will, wird er Ihnen wahrscheinlich seine punktuellen Bedürfnisse mitteilen: er will auf dem Spielplatz bleiben, er will Gummibärchen, er will nicht ins Bett. Im Laufe des Erwachsenwerdens bekommt die Frage eine umfassendere Bedeutung und richtet sich nicht mehr nur auf das Hier und Jetzt, sondern auch stärker auf die Zukunft aus: Wie will ich später leben? Welchen Beruf werde ich haben? Werde ich heiraten? Werde ich Kinder haben? Werde ich auswandern? Die Frage „Wie will ich leben?“ steht in einem engen Zusammenhang mit den Fragen „Wer bin ich?“ und „Wer werde ich sein?“, also mit Fragen der persönlichen Identität und den Rollen, die wir ausfüllen: ich bin Sohn/Tochter, Bruder/Schwester, Vater/Mutter, reich oder arm, jung oder alt, fußballinteressiert oder nicht, Freiberufler, Angestellter oder Arbeitsloser, gesund oder krank, künstlerisch und/oder mathematisch begabt, Jazzfan und/oder fashionvictim.... Es geht also um unser Leben und die Frage, wohin es sich entwickelt. Können wir dieses Leben entwerfen und planen? Haben wir einen Einfluss auf den Verlauf? Wo sind unsere Spielräume? Und noch wichtiger: Können wir nicht nur unser persönliches Leben, sondern unser Leben im Kontext der Gesellschaft beeinflussen?
Seit den Tagen der antiken Demokratie stehen zwei Fragen im Vordergrund, die für die soziale Existenz der Menschen von großer Bedeutung sind: Die ethisch-normative Frage „Wie sollen wir leben?“ fragt nach den Spielregeln, den Richtlinien und Werthaltungen, mit denen wir Gesellschaft nach innen und außen organisieren: Sind wir für oder gegen die Todesstrafe? Wollen wir den nächsten Weltkrieg anzetteln? - das sind Fragen, die in Demokratien normalerweise anders beantwortet werden als in totalitären Regimen. Unsere Leitfrage für den Kongress „Wir wollen wir leben?“ steht in einem engen Zusammenhang mit der Vorstellung des Gesellschaftsvertrages und verdeutlicht mit aller Klarheit, dass wir es sind, die sich freiwillig zu einer Gesellschaft zusammenschließen. Wir sind die Akteure und geben uns eine Gesellschaftsordnung, eine Verfassung und einen Staat. Wir machen die Spielregeln und wir versuchen, die Prinzipien Freiheit und Gerechtigkeit für uns fair und optimal zu verwirklichen. Wenn es gut läuft, kommt dabei sogar ein Maß an Glück für die Einzelnen heraus.
Es ist allerdings bezeichnend, dass die Fragen „Wie will ich leben?“ und „Wie wollen wir leben?“, eher in Zeiten gestellt werden, wo es mit der Freiheit, der Gerechtigkeit und dem Glück nicht so rund läuft. Es scheint Stillstand zu herrschen; wir kommen nicht weiter; die Gesellschaft und das persönliche Leben stecken in der Krise. Es sind allerdings diese Krisen, denen ein hohes Potential innewohnt. Sie regen uns an, das große Ganze zu sehen und zu hinterfragen. Die Vordenker des heutigen Deutschland und Europa haben Ihre Vorstellungen auch nicht nicht im Kontext sozialer und politischer Ideallagen entwickeln können. Aber sie hatten Visionen und Zukunftsvorstellungen, die unsere Gegenwart entscheidend und zum Besseren mitgeprägt haben. Wie wollen wir leben? Wir brauchen auch heute neue Antworten.
Es ist eine der wesentlichen Aufgaben politischer Bildung, Freiräume bereit zu stellen, in denen neue Gedanken über Gesellschaft entstehen und reifen können. Politische Bildung beruht auf der Grundthese, dass sich Demokratie nur als Geschehen zwischen Menschen verwirklicht und Politik deren Instrument ist. Wir haben uns leider angewöhnt, das eigene Leben für wenig beeinflussbar zu halten und trauen auch der Politik – vielleicht zu recht - zunehmend weniger Steuerungsmacht zu. Wir können seit den 1980er Jahren beobachten, dass unsere Lebensläufe immer fragmentierter werden, dass Lebensplanung unsicherer geworden ist, dass berufliche Erfahrung in den Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung immer weniger zählt, dass viele von uns keine Wurzeln mehr schlagen können. Die Logiken der Unternehmen und danach der Verwaltungen haben sich seit dieser Zeit den Interessen des Finanzmarktes angepasst und orientieren ihre Politik nicht am Prinzip des unternehmerisch Gebotenen, sondern am Reformaktionismus, der die Voraussetzung für schnelle Gewinne ist. Schnelligkeit, Speed, Beschleunigung sind vielfach die Maxime unserer Zeit geworden. Wir kommen alle irgendwie klar damit, aber wir werden älter und viele von uns fühlen sich überfordert. Wie können wir das Blatt zu unseren Gunsten wenden?
Ich glaube, wir haben schon damit angefangen! Sie sind Teilnehmer_innen des ersten Kongresses der bpb, der nicht nur von Fachleuten im Hinterzimmer, sondern gemeinsam mit jungen Menschen entlang ihrer Themen, Fragen und Bedürfnissen entwickelt wurde. Mit Schüler_innen der 10. Klasse einer Realschule haben wir erarbeitet, was für sie im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel und der Alterung der Gesellschaft von Belang erscheint. Sie interessierten sich insbesondere für ihre eigenen Biografien: Was kommt nach der Schule? Was kommt nach der Ausbildung? Ist mit dreißig alles zu Ende? Bedeutet Arbeit im Zeitalter der Globalisierung nur Maloche für den Profit, die wenig besser ist als die Arbeitslosigkeit? Oder kann ich mich in der Arbeit weiter entwickeln, finde Wertschätzung und ein kollegiales Miteinander? Die Jugendlichen störten sich an den gängigen gesellschaftlichen Bildern vom Alter: zum einen scheine niemand mehr alt werden zu dürfen, zum anderen scheint „alt sein“ wenig Spielräume für ein glückliches Leben zuzulassen. Die Schüler_innen sahen das Alter eher als einen biologischen, denn einen kulturellen Zustand, an dem wir etwas ändern können. Aber sie wollten doch, dass die Bilder hinterfragt und diskutiert werden. 'Wohnen', eines unserer begehrtesten Forenthemen, war in den Augen der Schüler_innen mehr als nur Wohnen: es ging in der Diskussion um die Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes, des gemeinsamen öffentlichen Raumes, der am deutlichsten widerspiegelt, ob wir gemeinsam leben oder in sozialen Gegensätzen. Hier die Reichen in gated communities, dort die Armen hinter der Mauer. Die Jungen und Erfolgreichen im Zentrum; die Alten in die Peripherie gedrängt? Oder alle gemeinsam im Mehrgenerationen-Stadtteilprojekt? Das besondere Interesse der Jugendlichen galt dem Wandel der Zukunftsvorstellungen, dem hier auf dem Kongress im Forum Science-Fiction Rechnung getragen wird.
Fiction ist das Wort, das ich Ihnen für die nächsten beiden Tage mit auf den Weg geben will. Lassen Sie uns die Bedenken wenigstens zum Teil beiseite schieben und uns gestalterisch und kreativ mit unserer Zukunft befassen. In den vergangenen Jahren gab es die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Fachkongresse zum demografischen Wandel und der Alterung der Gesellschaft, die jeweils Expert_innen der einzelnen Themenfelder mit Bestandsaufnahmen und Prognosen zu Wort kommen ließen. Wir wollten dieser Reihe von Fachkongressen keinen weiteren anfügen, weil wir Sie für die Expert_innen Ihrer persönlichen und sozialen Zukunft halten und weil eine Zukunft unter demokratischen Bedingungen nicht ohne die Menschen und deren Gestaltungswillen auskommen kann.
Eines unserer besonderen Anliegen war, jüngere mit älteren Menschen ins Gespräch zu bringen, was uns bereits in zweifacher Weise gelungen ist: Ein Blick auf die Teilnehmerliste zeigt, dass sich eine große Zahl von Jüngeren für die Alterung der Gesellschaft begeistern kann. Aber auch unsere Partner beim Kongress spiegeln das intergenerative Miteinander: Es sind die Gemeinschaft Deutsche Altenhilfe GDA mit ihrer Partnerschule, der Stadtschülerrat Frankfurt, die Junge Presse Deutschland und die Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, denen wir schon im Vorfeld herzlich danken möchten. Ich wünsche Ihnen zwei an- und vor allem aufregende Kongresstage. Live long and prosper - Leben Sie lang und in Frieden.