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"Die (Re-)Politisierung der Jugendarbeit in Zeiten von occupy, Piraten & Web 2.0" | Presse | bpb.de

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"Die (Re-)Politisierung der Jugendarbeit in Zeiten von occupy, Piraten & Web 2.0"

/ 9 Minuten zu lesen

Sehr geehrte Damen und Herren,

das 22. Forum Jugendarbeit hat sich in diesem Jahr mit dem Thema „Die (Re-)Politisierung der Jugendarbeit in Zeiten von occupy, Piraten & Web 2.0“ dem Kernthema und der aktuellen wie zukünftigen Herausforderung der politischen Bildung gewidmet: Wie können wir in unserer Arbeit Jugendliche erreichen und in ihrem politischen Engagement bestärken? Wie können wir junge Leute dort abholen, wo sie stehen? Und wie helfen uns die sozialen und digitalen Medien dabei? Kurzum: Wie kann politisch bildende Jugendarbeit gelingen, so dass sie bei den Jugendlichen ankommt, statt an ihnen vorbeizugehen?

Sie haben jetzt drei Tage lang Expertinnen- und Experten-Meinungen zum Thema gehört, sich ausgetauscht, eifrig diskutiert – sicherlich sind Sie bereits zu handfesten Ergebnissen und Thesen gelangt, die Sie von hier mitnehmen und in Ihre Arbeit integrieren können. Ergänzend dazu und dieses Forum abschließend, möchte ich Ihnen gerne auch die Erfahrungen aus der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung mit auf den Weg geben.

„Wählen gehen“ ist die wohl einfachste und direkteste Form politischen Engagements und Partizipation in unserer Demokratie. Aber dennoch ergreifen diese Chance zur Mitgestaltung unseres politischen Gemeinwesens nicht alle Bürgerinnen und Bürger: Bei den Landtagswahlen hier in Niedersachsen lag am Wochenende die allgemeine Wahlbeteiligung lediglich bei verhaltenen 59,4%; zum prozentualen Anteil an Erstwählerinnen und Erstwählern oder Jugendlichen im Alter von 18 bis 25 Jahren sind bislang noch keine Zahlen veröffentlicht. Zu vermuten ist aber, dass diese gering ausfallen werden – wirft man etwa einen Blick zurück auf die Wahlbeteiligung der 21- bis unter 25-Jährigen bei der Bundestagswahl 2009: Mit nur 59,1% machte die junge Altersgruppe die niedrigste im Vergleich zu allen anderen Altersschichten aus. Es wählten seit 1953 nicht mehr so wenig Jugendliche in diesem Alter! Bleibt abzuwarten, wie die Wahlbeteiligung bei den diesjährigen Bundestagswahlen ausfallen wird.

Und dennoch: Trotz weithin verhaltener Beteiligung bei Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen unter Jugendlichen im Allgemeinen können wir kein generelles Desinteresse an politischen Themen wahrnehmen. Ganz im Gegenteil! In den vergangenen Wochen haben uns die hohen Nutzerzahlen unseres Online-Angebots Wahl-O-Mat zu den Landtagswahlen sehr gefreut. Über 600.000 Mal wurde das interaktive Angebot genutzt – ein neuer Nutzerrekord.

Daher sind die geringen Wahlbeteiligungen der jungen Wählerschaft umso ernüchternder. Schon die Shell Jugendstudie 2010 zeigte, dass Jugendliche zwar großes Vertrauen in Polizei, Justiz und Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen haben, nicht aber in Regierungen, Kirchen und Parteien. Die Studie „Wie ticken Jugendliche? 2012“, die die bpb gemeinsam mit dem Sinus-Institut herausgebracht hat, legt dar, dass soziales und ökologisches Engagement in jeder Form Jugendlichen insgesamt deutlich näher liegt als politisches Engagement. Als engagiert sind hier auch diejenigen Jugendlichen zu verstehen, die sich in ihre Szenen einbringen, indem sie unentgeltlich zum Beispiel Jugendhaus-Konzerte organisieren oder eine BMX-Strecke bauen.

Das Jahr 2011 war das Jahr der Jugendproteste: Tausende junge Menschen gingen weltweit auf die Straße – auch in Deutschland. Unter dem Motto der Kapitalismus-Gegner „Wir sind die 99 Prozent“ schlugen am 15. Oktober 2011 auch die ersten deutschen „Okkupierer“ ihre Zelte vor dem Sitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt auf. Eine globale Dynamik wird oft als Erklärung genannt – uneinig ist man sich jedoch darüber, wie genau diese entstanden ist. Eine Erklärung für die Politisierung der Jugend gibt im aktuellen bpb:magazin die Politikwissenschaftlerin Sabine Kurtenbach: Die eigentlichen Ursachen lägen im Inneren der Gesellschaften. Sie spricht von einer Rebellion Jugendlicher gegen Systeme, die sie am Erwachsenwerden hindern. Arbeiten, Heiraten, eine Familie gründen, sich an den politischen Entscheidungen der Gesellschaft beteiligen – sind diese Entwicklungsschritte blockiert, steige der Druck. Entscheidend für die Menschen sei eine Zukunftsperspektive. „Es fand eine starke Politisierung der Jugendlichen statt“, erklärt auch der Politikwissenschaftler Alexis Passadakis, der maßgeblich die „Blockupy“-Aktionstage in Frankfurt mitorganisierte: „Viele sehen ihre Chancen in den jetzigen Gesellschaften schwinden – und stehen unter hohem Druck.“

All das zeigt, dass wir uns mit sinkender Wahlbeteiligung keinesfalls abfinden dürfen. Wir müssen den Jugendlichen politisches Wissen anders vermitteln, als das bislang vielfach der Fall ist. Ihnen neue Chancen und Wege aufzeigen, auf dieser Basis politische Situationen beeinflussen und die Gesellschaft, von der sich Jugendliche mehr blockiert als verstanden fühlen, mitgestalten zu können. Die Herausforderung besteht dabei vor allem darin, dass junge Menschen häufig nicht auf Anhieb erkennen können, was die Tagespolitik überhaupt mit ihrem Lebensumfeld, mit ihren Interessen und Problemen zu tun hat. Leider sind auch viele politische Lernangebote falsch konzipiert und folgen einer Didaktik, die keinerlei Anschluss an die Alltagswirklichkeit und Lebenswelten der Jugendlichen erlaubt. Viele Jugendliche glauben nicht, dass sie durch ihre Kreuze auf dem Stimmzettel etwas verändern können – insbesondere die sogenannten „politikfernen“ Zielgruppen bekommen den Glauben daran auch kaum durch ihr Umfeld vermittelt.

Hinzu kommt, dass in unserer Wissensgesellschaft Bildung eine maßgebliche Voraussetzung für die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ist. Jugendliche aus sozialen Brennpunkten drohen deshalb von gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen zu werden, weil sie oft nicht die Chance haben, sich dieses notwendige Wissen – auch politisches Wissen – anzueignen. Die Bundeszentrale für politische Bildung versucht mit verschiedenen Methoden in der außerschulischen Jugendarbeit, Jugendliche zur weiteren aktiven politischen Teilhabe zu motivieren und ihr Interesse an Politik zu wecken, weiter zu fördern und zu stärken. Wir arbeiten nicht nur mit klassischen Bildungsangeboten, sondern gehen auch unkonventionelle Wege, um jene zu erreichen, die Bücher, Seminare oder Workshops nicht nutzen.

Vor ein paar Jahren – 2009 – veranstalteten wir zum Beispiel das Jugendpartizipationsprojekt "Aktion09 – Gib Deiner Meinung eine Stimme!" Es setzte auf den Peer-to-Peer-Ansatz – also darauf, dass Jugendliche von anderen Jugendlichen zur politischen Teilhabe motiviert werden. Sie lernten voneinander auf Augenhöhe und engagierten sich dabei in ihrem direkten Umfeld. Hier erlebten sie, dass Politik nicht nur im fernen Berlin hinter verschlossenen Türen stattfindet, sondern dass auch sie selbst sich politisch engagieren und damit etwas verändern können.

In den Peer-to-Peer-Programmen team GLOBAL und Young European Professionals bilden wir junge Leute zu Teamerinnen und Teamern aus. Als solche können sie selbst aktiv werden: Workshops leiten, Planspiele und weitere Aktionen für andere Jugendliche veranstalten.

Das Modellprojekt "Jugend, Religion, Demokratie – Politische Bildung mit Jugendlichen in der Einwanderungsgesellschaft" wiederum ist ein Projekt für mehr Partizipation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Es lebt von den Dialogmoderatoren: Sie sind zwischen 20 und 35 Jahren, sind angehende Politologen, Lehramtskandidaten, Psychologen, Kommunikationswissenschaftler, Soziologen – und haben ihre Wurzeln fast alle in einem anderen Land. In freiwilligen AGs oder als Teil des Politik- oder Ethikunterrichts verknüpfen sie politische Themen wie Identität, Religion, Demokratie und Partizipation mit der Lebenswelt der hauptsächlich aus Einwandererfamilien stammenden Schüler. Kompetenzen der Urteils- und Handlungsfähigkeit werden im Austausch miteinander vermittelt. Die Robert Bosch Stiftung und die bpb haben hierbei neue Wege bei der Entwicklung von Methoden und Formaten für die politische Bildung mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund, insbesondere auch in bildungsbenachteiligten Milieus, beschritten. Das Ergebnis ist ein bundesweites Kompetenznetzwerk mit jungen Multiplikatoren und Multiplikatorinnen mit Migrationshintergrund.

Mit diesen Peer-to-Peer-Ansätzen setzt die bpb darauf, Jugendliche von Jugendlichen zur politischen Partizipation anzuregen. Wir beobachten dabei, dass sich so das Ur-Verständnis von Demokratie viel eher durchsetzt: Dass jeder etwas verändern kann!

Wir können Jugendlichen so helfen, Visionen zu entwickeln. Wir bieten ihnen den Handlungsspielraum, in dem sie sich dann frei bewegen können. In einer solch lebendigen Demokratie bleiben Jugendliche das, was sie sind: nämlich junge Leute. Sie können sich mit dem eigenen Engagement identifizieren und sollen sich herausgefordert fühlen. Dieses Gefühl müssen wir in den Jugendlichen wecken: Das Gefühl, in der Demokratie etwas für das Leben zu gewinnen.

Politik muss dementsprechend für die Jugendlichen lebendig und erfahrbar sein. Dazu gehört auch, dass man sich bei der Vermittlung von politischen Zusammenhängen der Sprache und Welt der Jugendlichen bedient. Die deutsche Geschichte zum Beispiel wird für Jugendliche erst so richtig interessant, wenn man sie entsprechend vermittelt. In dem Kurzfilm "Und jetzt?!" z.B. führen Jugendliche aus so genannten Problemvierteln mit Unterstützung des MTV-Moderators Markus Kavka durch die deutsche Geschichte seit 1919. Sie geben Hintergrundwissen zu den wichtigen historischen Daten. Dabei wurde eine Filmsprache genutzt, die Erwachsene eher irritiert: schnelle Schnitte, grelle Bilder und laute Musik. Die Jugendliche kommen damit aber bestens klar, weil es ihre Sprache ist.

Lassen Sie mich noch einmal zurückkommen auf die Jugendproteste im Jahr 2011, als Jugendliche auf die Straße gegangen sind, weil sie ihre Entwicklungswege in unserer Gesellschaft blockiert sahen. Wenn wir Jugendliche erfolgreich in die Mitgestaltung unserer Demokratie und Zivilgesellschaft und damit auch in Bildungsprozesse involvieren wollen, müssen wir ihnen durch unsere Arbeit aufzeigen, dass Mitgestalten nicht erst im Bundestag oder in den Landtagen beginnt, sondern schon im familiären Umfeld: im Freundeskreis, im Sportverein, auch und gerade in der Schule und natürlich in dem Viertel, in dem man lebt. Wir müssen ihnen zeigen, dass diese Wege durch unser demokratisches System und Gemeinwesen niemand versperrt und wir stattdessen gerade dort auf sie bauen. Wie vermitteln wir ihnen das und wie können wir sie dort erreichen?

Als unterstützendes Kommunikationsmittel für die Politisierung der Jugend im Zuge der Occupy-Bewegung werden gemeinhin die neuen Medien genannt. Denn die Social Media sind integraler Bestandteil jugendlichen Alltagslebens – auch als ein Ort möglicher politischer Partizipation. Die jungen Menschen wollen aktiver in politische Prozesse und Entscheidungen eingebunden werden, als das bisher der Fall war. Mit seinen Partizipationsmöglichkeiten kann das Netz heute die Brücke von direkter zu repräsentativer Demokratie schlagen. Das Internet bietet uns die Möglichkeiten neuer demokratischer Beteiligungsformen, es erleichtert die direkte Teilhabe enorm. Es mindert vor allem für Jugendliche die Hemmschwelle zur gesellschaftlichen Partizipation – zur Teilhabe am politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben und zu dessen Mitgestaltung.

Die jungen Nutzenden politischer Bildung kommen da aber nicht nur als Kunden, sondern eben in Zukunft auch als Koproduzenten in den Blick. Politische Bildung muss hier selbst partizipativer werden und nicht nur zur Partizipation ermutigen. Die Infrastruktur politischer Bildung wird sich online – wie auch in den genannten Peer-to-Peer-Netzwerken offline – in kollaborativen Prozessen den Nutzerinnen und Nutzern politischer Bildung neu öffnen müssen. Die mit dem Internet entstandenen Kommunikationskanäle ermutigen sie nicht nur zu stärkerer Aktivität, sondern geben auch Zugang zu einem schnelleren und direkteren Wissenstransfer.

Hier kann netzbasierte politische Bildung für Jugendliche ansetzen. Mit Online-Tools und Informationsangeboten verbessert sie das Verstehen gesellschaftlicher und politischer Sachverhalte, regt das Interesse an, motiviert und steigert Qualität und Legitimation von Entscheidungsprozessen. Damit schafft sie Transparenz und vor allem: Vertrauen – das oft vermisste Vertrauen der jungen Bürgerinnen und Bürger in politische Prozesse und Institutionen.

Durch digitale Angebote kann Demokratie greifbar werden. Sie sind gerade für die junge Zielgruppe am ansprechendsten: Die Umfrage-Software GrafStat zum Beispiel ist bis heute beliebtes Angebot für Schülerinnen und Schüler und kann auch in der außerschulischen Jugendarbeit genutzt werden. Junge Menschen werden dort selbst als Wahl- und Sozialforscher und -forscherinnen aktiv und überprüfen in Befragungen selbst formulierte Thesen. Entwickelt wurde das Angebot zur Bundestagswahl 2009. Es ist aber auch heute noch gefragtes Unterrichtstool. Jugendliche lernen so spielerisch Politik kennen – und das ist, was wir wollen. Demokratie soll Spaß machen und nicht ein fernes Konstrukt sein.

Das gilt auch für den eingangs erwähnten Wahl-O-Mat. Jugendliche können diesen nicht nur nutzen, sondern sich auch an der Entstehung beteiligen: Unser Wahl-Tool wird von einer Redaktion betreut, die aus Jugendlichen besteht. Unterstützt werden sie dabei von einem Team aus Politikwissenschaftlern, Pädagogen und Statistikern. Die Jugendlichen analysieren die Internetseiten von Parteien und formulieren auf deren Basis die Thesen, denen die User des Wahl-O-Mat per Klick zustimmen, nicht zustimmen oder sich der These gegenüber neutral erklären können. Damit lädt der Wahl-O-Mat ein, sich mit den Parteien auseinanderzusetzen. Er ist eine spielerische Wahlhilfe – ein Wahl-Tool von Jugendlichen für Jugendliche.

Gleichzeitig birgt das Netz aber natürlich auch Gefahren: Es kann auch eine Plattform für Mobbing und Bashing, für Machtpositionen ohne Legitimation, für antidemokratische Ideologien links- und rechtsextremer Akteure sein. Der virtuelle Raum ist vielfältig und lebendig – und er ist hochpolitisch. Hier müssen wir als politische Bildnerinnen und Bildner Wegweiser für die Jugendlichen sein: Gerade das vergangene Jahr hat gezeigt, wie wichtig ein Vorgehen auf mehreren Ebenen gegen Rechtsextremismus ist. Der Nährboden für rechtsextreme Gewalt und Rechtsterrorismus wird zunehmend in den Social Media bereitet. Deshalb sind Strafverfolgung und das Löschen von Inhalten durch Provider unerlässlich. Daher fördert die bpb auch seit mehreren Jahren die Arbeit von jugendschutz.net und setzt mit ihrem Online-Dossier zum Rechtsextremismus auf Aufklärung und Information. Die junge Netzgemeinde ist hier weiter zu sensibilisieren und den jungen Usern klar zu machen, wie wichtig Zivilcourage ist – auch im Internet.

All diese heutigen und zukünftigen Herausforderungen an unser demokratisches Gemeinwesen zeigen, wie wichtig das Gelingen einer effektiven, ansprechenden politischen Jugendarbeit ist: Denn durch sie stärken und fördern wir nicht nur die Zivilgesellschaft von heute – sondern schaffen auch eine engagierte, aktive Zivilgesellschaft von morgen.

Ich wünsche uns allen dabei weiterhin viel Erfolg!

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten