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Free Tunes – über die gesellschaftliche Bedeutung der Jazzmusik in Deutschland

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Der Aufklärer Settembrini distanziert sich in Thomas Manns "Zauberberg" von "politisch verdächtiger" Musik. Im Unterschied zur positiven gesellschaftlichen Funktion von Literatur misst er der Musik im Allgemeinen keinen Aufklärungscharakter zu. Die Entschlüsselung musikalischer Codes scheint ihm im Gegensatz zu sprachlichen Codes ein zu ambiguitives, zu unberechenbares Unterfangen.

Dabei kann Musik von jeher auch als Faszinosum gelten. Wir kennen in Deutschland etliche Beispiele dafür. Gerade die Diskussionen um das "Gesamtkunstwerk" Richard Wagners schillern zwischen dem aufklärenden ästhetischen Bildungsanspruch auf der einen und einem verklärenden, mit der Metapher der Kulturnation mythisch aufgerüsteten Narrativ auf der anderen Seite.

Auch die Jazzmusik bewegt sich seit dem frühen 20. Jahrhundert in Deutschland zwischen einer Art Skepsis des vermuteten Kulturuntergangs und dem durch die Subkultur getriebenen Faszinosum, wie es sich schon in "An die Schönheit", einem Gemälde von Otto Dix aus dem Jahre 1922, ausdrückt.

Dabei wird die Jazzmusik und ihr Swing als amerikanische Kultur rezipiert, obwohl ihr aus heutiger Sicht eindeutig auch europäische Wurzeln zuzuschreiben sind. Der viel zu früh verstorbene Cornettist Bix Beiderbecke zum Beispiel, der aus einer mecklenburgischen Familie stammte und zu den ersten großen Musikern des Jazz gehörte, steht Pate für viele Musiker, die im Zuge der Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts aus Europa nach Amerika migriert sind und ihre musikalischen Wurzeln mit dortigen musikalischen Traditionen fusionierten.

In Deutschland wird die Jazzmusik in den 20ern vor allem in den Städten, wie Berlin und Dresden relevant. Tanzkapellen adaptieren und popularisieren die Swingmusik. Aber auch die zeitgenössische Musik reagiert auf die musikalischen Impulse. Komponisten wie Hindemith, Krenek, Weill und später auch Eisler integrieren Jazzfiguren in ihre Tonsprache und etablieren die Jazzmusik zwischen der Unterhaltungsmusik und der sogenannten ernsten Musik. Jazz etabliert sich hier sogar weltweit das erste Mal an einer Hochschule: Bernhardt Sekles Jazzklasse in Frankfurt am Main wird unter lauten Protesten 1928 eingerichtet. In den USA passiert das erst in den späten 40er Jahren.

Die Zäsur kam mit den Nationalsozialisten, die sukzessive Jazzverbote erließen: So z.B. schon 1930 in Thüringen, dann wurde Jazzmusik in Jugendherbergen verboten (1933) und später auch das Abspielen von Jazzmusik im Rundfunk (1935). Die Nazis knüpften an reaktionäre deutschnationale Traditionen an, bei denen ein homogenes, geschlossen, nationales Kulturverständnis vorherrschte. Kulturelle Einflüsse jedweder Provenienz waren verdächtig.

So überrascht nicht, dass die Nazis die "Umtriebe" des Jazz zur Chefsache machten: "Alle Rädelsführer, ... die feindlich eingestellt sind und die Swing-Jugend unterstützen, sind in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dort muss die Jugend zunächst einmal Prügel bekommen... Der Aufenthalt im Konzentrationslager für diese Jugend muss ein längerer, 2-3 Jahre, sein." (SS-Führer Heinrich Himmler 1942)

Mit der bedingungslosen Kapitulation 1945 war auch der nationalhomogene Kulturmonopolismus geschwächt. Ein Vakuum tat sich auf, in dem neue kulturelle Impulse in fast alle Genres vorstießen. Die Ablehnung des Jazz durch die Nazis und der reproduzierte, latente Antiamerikanismus haben die Nachkriegs-Jazzszene über verschiedenste Stilrichtungen hinweg sogar eher zusammengeschweißt. Unterschiedliche musikalische Konzepte konnten sich vor allem in der jungen Bundesrepublik etablieren und unter einem großen Dach einer "denazifizierenden" Kultur ihre Legitimation erfahren – was aber noch lange keinen ungehinderten Siegeszug bedeutete. Der Begriff der "Denazifizierung" steht dabei nicht nur für eine Entideologisierung des durch die Nazis instrumentalisierten deutschen kulturellen Gedächtnisses, sondern auch positiv für eine Horizonterweiterung kultureller Praktiken und Perspektiven, ja am Ende des Tages für einen generellen Paradigmenwechsel hin zu einem heterogenen und multiperspektivischen Kulturverständnis.

Während in der DDR noch längere Zeit der "amerikanische Einfluss" die Jazzmusik politisch verdächtig machte, gewann die Musik im Westen eine treue Hörerschaft, feste Spielstätten und Radiosendezeiten, auch wenn diese alles in allem quantitativ überschaubar blieben. Gerade erinnert das Jazzfest Berlin mit der Pianistin Jutta Hipp an eine der großen, auch international viel beachteten Protagonistinnen der 50er Jahre.

Kulturell gesehen, versammelte sich in der westdeutschen Szene ein eher aufgeschlossenes, und durchaus gesellschaftskritisches Publikum. Ekkehardt Jost verweist hier gerne auf empirische Umfragewerte, die überproportional auf eine, einst stabile rot-grüne, und heute eher grün-rote Wählerschaft verweisen. Jazz in der Bundesrepublik war keine Mehrheitsveranstaltung. Sie konnte mit Jost aber auf ein Zeitfenster besonderer politischer Relevanz verweisen: "Die Ehe zwischen dem Jazz und der Politik ist ... ein zeitbedingtes Phänomen, gebunden an eine bestimmte Phase des historischen Prozesses, in der es sowohl im gesellschaftlichen und politischen Leben wie auch im Jazz zu gewaltigen Umwälzungen kam."

In den USA assoziieren wir diesen Zeitraum Jazz mit Musikern und Werken wie Charles Mingus ("Fables of Faubus"), John Coltrane ("Alabama"), Sonny Rollins ("Freedom-Suite"), Archie Shepp ("Malcolm, Malcom semper Malcolm") und Charlie Haden ("Liberation Music"). In der Bundesrepublik Deutschland formieren sich u.a. Musiker wie Kowald, Brötzmann, von Schlippenbach, Schoof, Mangelsdorff, sie finden im Label FMP ihr Dach und in unvergessenen Formationen wie dem Globe Unity Orchestra ihre expressive Improvisationssprache.

In der DDR wirkte der Einfluss von Weill und Eisler erst mit den späten 60er Jahren und eröffnete zunächst sehr zögerlich, dann Ende der 70er Jahre mit zunehmendem Tempo den Raum für eine frei improvisierende Szene, die dann auch offiziell mehr oder weniger Anerkennung fand. In den 70er Jahren begann sich die Szene international zu vernetzen und feste Auftrittsorte zu organisieren. Das Open Air Festival in dem kleinen Fischerdorf Peitz bei Cottbus versammelte Anfang der 80er Jahre, organisiert durch die dortige Jazzwerkstatt um Uli Blobel und Peter Jimmy Metag schließlich Tausende von Fans der Freien Improvisation. Hier trafen die Altvorderen des DDR-Jazz wie Ernst-Ludwig Petrowsky, Uli Gumpert, Baby Sommer und Conrad Bauer auf ihre bundesdeutschen Wahlverwandten, aber auch auf internationale Größen wie Willem Breucker, Gianluigi Trovesi, Luis T.Moholo, Irene Schweitzer und Evan Parker. Die Settembrinis der kommunistischen Kulturkader bekamen schließlich kalte Füße und überließen es der Staatssicherheit, das jammende "Woodstock am Karpfenteich" zu verbieten.

Das Hohelied der freien Töne war aber längst nicht verklungen. Nach Peitz etablierte sich eine Vielzahl von kleinen, durchaus offiziellen Klubs, die der internationalen Free-Jazz Szene ein dankbares und begehrendes Publikum bescherten. Das subventionierte und durchaus kreative internationale Umfeld dieser Musik verleitete Fred van Hove, einen der Protagonisten der europäischen Improvisationskünstler, später zu dem unvorsichtigen und politisch inkorrekten Ausspruch vom "gelobten Land der frei improvisierten Musik". Mit dem Untergang der DDR kam allerdings auch die Jazzmusikerszene in den "Mühen der Ebene" an und fristete dort jahrelang ein trostloses Dasein. Etwas zugespitzt kann man mit diesem Beispiel durchaus von einer politisch und historisch bedingten, durchaus tragischen Dekonstruktion ästhetischer Identitätskonstruktionen sprechen.

Derartige Identitätskonstruktionen begegnen uns in der Geschichte ambitionierter Jazzmusik immer wieder und sie können in aller Regel auf politische und historische Referenzereignisse verweisen. Nur ein Beispiel: Als sich Ende der 80er und vor allem in den 90er Jahren die "Radical Jewish Culture" um John Zorn, Elliot Sharp, David Krakauer, Shelly Hirsch, Fred Frith rund um das Tsadik-Label zu etablieren beginnen, betritt eine Generation jüdischer Künstler die Bühne, die quasi New York als ihr Israel definieren und gegen den Trend ihre Identität auf verschiedene Art und Weise politisch und postnational konstruieren.

Mit der Deutschen Einheit differenzierten sich nach 1990 nicht nur die Stilrichtungen aus, sondern auch das Publikum. Ein breites, fast unüberschaubares Feld junger Musikerinnen und Musiker bestimmt heute die Szene, die in aller Regel nicht von ihrer Profession und Leidenschaft leben kann. Die politische Hochzeit in und mit dem Kalten Krieg ist einer Pluralität der Stile und Handschriften gewichen, die der Freiheit des Improvisierens eine sympathische Vielgesichtigkeit verleiht. Immer neue Hybride im Kontext globaler jazzmusikalischer und genreübergreifender Begegnungen und der permanente originäre Rückgriff auf die Geschichte und das Gedächtnis der Jazzmusiktradition kennzeichnen die musikalischen Entwicklungen der letzten Jahre.

Ermutigend ist dabei in Deutschland die Vielfalt der Ausbildungsmöglichkeiten an den Musikhochschulen, die jedoch viel mehr professionelle Musikerinnen und Musiker hervorbringen, als die Spielstätten präsentieren können und das Publikum zu sehen begehrt. Was also nützt der Überfluss an Talenten, wenn er für dieselben geradewegs in prekäre Lebensverhältnisse führt? Wo bleibt eigentlich hier der Aufschrei oder besser "Der Urschrei", um das gleichnamige Oratorium von Wolfgang Dauner zu zitieren, das die Situation des Jazzmusikers thematisiert und auf die im heutigen Kontext etwas lächerliche Formel bringt: "Wir sitzen am längeren Hebel, wir machen die Musik."

Enttäuschend sind nach wie vor die Rahmenbedingungen für öffentliche Auftritte. Seit der sogenannten "Ausländersteuer" Mitte der 90er Jahre, die internationale Acts in Klubs drastisch verteuerten und damit ausdünnten, ging vieles bergab. Es fehlte zu oft an potenten, risikobereiten Spielstätten und einem unterstützenden Umfeld. Gerade der vielgestaltige Jazz und sein experimentelles Potential brauchen über die kalten Mechanismen des Marktes hinweg passionierte, mutige und überzeugte Veranstalter, Vermittler und Vermarkter, sowie verlässliche öffentliche Förderung und Unterstützung. Die Förderung von Auftrittsmöglichkeiten im Ausland und der Export kreativer Acts waren lange Zeit Mangelware. Nachwuchsbands haben oft lange Wege, ja Umwege zu gehen, um ihr Publikum zu erreichen.

Immerhin gibt es mit "Jazz Ahead" eine jährliche Jazzmesse in Bremen, die Standortbeschreibungen erlaubt. Aber es gibt auch einige neue Fördermöglichkeiten mit der Initiative Musik für Nachwuchsbands und Infrastrukturprojekte, die von regionalen Festivals bis zu internationalen Support- und Werbemaßnahmen reichen. Mit der Kulturstiftung des Bundes und dem Hauptstadtkulturfonds sind zwei potente öffentliche Geldgeber im Bereich der Jazzmusik aktiv geworden. Derartige Quellen sind jedoch oft abhängig von Jurybesetzungen und ihren Präferenzen. Von einer strukturierten Jazzförderung kann in Deutschland leider derzeit keine Rede sein. Dabei gibt es so viele junge, gut ausgebildeten Jazzer, die wohl bis auf weiteres davon leben müssen, Taxi zu fahren – oder heute eher Software zu programmieren. Dem musikskeptischen Aufklärer aus Thomas Manns "Zauberberg" kann man so jedenfalls nicht den Marsch blasen...

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten