Verstummte Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die Juden 1876 bis 1945
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Carsten Hillgruber, sehr geehrter Dr. Sven Friedrich, sehr geehrter Professor Udo Bermbach, sehr geehrter Herr Steingräber, sehr geehrter Herr Hannes Heer, sehr geehrter Herr Hommel,
Welche Rolle spielten die Festspiele bei der Ausgrenzung von Juden? Was geschah mit den jüdischen Künstlerinnen und Künstlern? Wie waren die Verbindungen zu Akteuren der deutschnationalen Eliten und Vertretern von antisemitischen Verbänden und später zum NS-Regime?
Diesen Fragen ist die Ausstellung „verstummte Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die Juden 1876 bis 1945“ nachgegangen, die am 22. Juli auf Einladung der Richard-Wagner-Stiftung und der Stadt Bayreuth im Rathaus der Stadt und auf dem Festspielhügel eröffnet wird.
Die Ausstellung zeigt den Missbrauch der Festspiele als Mittel der politischen Mobilisierung, die lange vor 1933 praktizierte Ausgrenzung jüdischer Künstlerinnen und Künstler, die Praxis der Besetzungspolitik und die Schicksale derjenigen, die in Bayreuth auftraten und dann zu Opfern des NS-Regime geworden sind.
In der Ausstellung, die auf dem Festspielhügel präsentiert wird, konnten erstmals die Schicksale der jüdischen Künstler, die in Bayreuth aufgetreten sind, ermittelt werden. So dass wir heute die Lebensläufe von insgesamt 83 Personen, ihre künstlerische Ausbildung und Karriere vor 1933 wie die Verfolgung, Fluchtwege, Exil oder Deportation und Ermordung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnten. Darunter sind 29 Künstlerinnen und Künstler, die vor 1933 diffamiert, ausgegrenzt und zum Großen Teil nicht besetzt wurden. Sowie 53 Künstlerinnen und Künstler, die nach 1933 verfolgt wurden.Von ihnen wurden 12 ermordet.
Die Forschung zu dieser Ausstellung hat außerdem ergeben, dass drei Figuren, denen bislang wenig Beachtung geschenkt worden ist: Cosima Wagner, Siegfried Wagner und Houston Stewart Chamberlain eine größere Rolle gespielt haben, als bislang bekannt gewesen ist. Nun wurden diese Personen in diesem Zusammenhang erstmals in das Licht der Forschung gerückt. Dieser Teil der Ausstellung wurde von Hannes Heer, Sven Fritz, Jens Geiger und Boris van Haken erarbeitet sowie von Peter Schmidt gestaltet.
Außerdem wird in einem anderen Teil der Ausstellung im Rathaus die Geschichte der Bayreuther Festspiele und die NS-Musikpolitik thematisiert sowie anhand von Biographien an das Schicksal der damaligen Größen der deutschen Opernszene erinnert, die wegen ihrer Herkunft ausgeschlossen wurden. Dieser Teil der Ausstellung wurde von Hannes Heer, dem Musikpublizisten Jürgen Kersting und dem Gestalter Peter Schmidt erarbeitet.
Eine Vielzahl von Quellen, Nachlässen, Tagebüchern und Materialien aus dem ehemaligen Richard-Wagner-Archiv und aus dem Privatarchiv von Wolfgang Wagner wurden eingesehen, ausgewertet und in die Ausstellung integriert. Der wichtigste Ort für die Forschung war das Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung in Bayreuth.
Es hat sich gezeigt, dass bei dem Thema Nationalsozialismus auch fast 70 Jahre nach Kriegsende noch immer Forschungsbedarf besteht. Gleichzeitig gibt es noch immer verschlossene Archive. Ein Beispiel war die Öffnung der Archive des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes im nordhessischen Bad Arolsen. Kurz nach Kriegsende wurde der Suchdienst eingerichtet. Auf Nachfrage von Angehörigen aus aller Welt forschten seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Menschen, die von den Nationalsozialisten verschleppt oder ermordet worden waren. Der Bestand des Internationalen Suchdienstes ist mit rund 30 Millionen Dokumenten eine der weltweit größten Sammlungen von Unterlagen über zivile Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft. Es enthält Todes- und Krankenlisten aus den Registraturen der Konzentrationslager, Listen aus den bei Kriegsende eingerichteten Lagern für Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, die sogenannten Displaced Persons, kurz Dps. Jahrelang bekamen Historikerinnen und Historiker keinen Zugang zu den Akten. 2007 wurde der Bestand dann zögernd geöffnet. Doch erst jetzt, nach mehr als 60 Jahren, werden die Akten digitalisiert und aus der Einrichtung soll ein Archiv, eine wissenschaftliche Forschungsstätte werden.
Gleichzeitig kann man eine gefühlte Übersättigung des Themas Nationalsozialismus beobachten, wobei das Wissen zum Nationalsozialismus lückenhaft bleibt, wie eine Studie der Forschungsstelle NS-Pädagogik in Frankfurt am Main gezeigt hat. Die Beobachtung, dass Hitler in den Medien präsenter denn je ist, verleitet zu der Einschätzung, man wisse schon genug über das Thema. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass das eigentliche Wissen um die Geschichte lückenhaft und abstrakt bleibt.
Die Bayreuther Festspiele galten und gelten als kulturelles Großereignis, wo sich Akteure aus Politik, Wirtschaft und Kultur treffen. Heute stellt sich die Frage, wie hat sich das Bürgertum der Weimarer Republik zur Ausgrenzung jüdischer Künstlerinnen und Künstler verhalten? Wie wurde Richard Wagners Buch „Das Judenthum in der Musik“ rezipiert? Und wie war das Verhältnis von Bürgertum zur Politik, welche Mitverantwortung tragen beide?
Der Fokus der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus lag in den vergangenen Jahren hauptsächlich auf den Jahren 1933 bis 1945. Fragen jedoch, die sich mit der Zeit vor 1933 beschäftigen, standen bislang noch nicht im Mittelpunkt. Was waren die Vorläufer des Nationalsozialismus? Wie waren die Schritte zunächst zur Ausgrenzung und später bis zur Vernichtung? Wie verbreitet waren antisemitische Positionen in Teilen des Bürgertums des Kaiserreichs und der Weimarer Republik? Wie reagierte und agierten die Intellektuellen?
Diese Fragen nach der Rolle der Gesellschaft und der Intellektuellen – wie sie in der Ausstellung gestellt werden - machen deutlich, dass es für die Bildungsarbeit von zentraler Bedeutung ist, nicht nur auf die Durchführung der Vernichtung der europäischen Juden, der Sinti und Roma, den Homosexuellen, Menschen mit Behinderungen und auf den NS-Herrschaftsapparat zu schauen. Während die Schreckensbilder von Leichenbergen eher das Gefühl des Abstrakten und Unbegreiflichen hervorrufen, kann das historische Lernen vor Ort, Geschichte verorten und begreifbar machen. Bildungsarbeit - zumal politische Bildungsarbeit - sollte zentral bei der Frage ansetzen, wie begann die Ausgrenzung im Alltag in der eigenen Stadt und dem eigenen Umfeld?
Betrachtet man die Geschichte nämlich nicht nur aus der Opfer-Täter-Perspektive, sondern bezieht auch Mitläufer, Helfer, Retter, Zuschauer, Profiteure mit ein und vermittelt so eine Multiperspektivität auf die Geschichte, ermöglicht dies eine differenzierte Auseinandersetzung und eröffnet Fragen zu Handlungsoptionen. Vor allem dieser Aspekt ist für die politische Bildung zentral. Die Perspektiverweiterung macht klar, dass die Rollen nicht eindeutig festlegbar sind. Denn aus Zuschauern können Täter, Profiteure oder Kollaborateure werden. So werden moralisch eindeutige Urteile nicht mehr möglich, und eine reine Opferidentifikation ist nicht mehr einfach zu haben.
Geschichtsvermittlung sollte möglichst multiperspektivisch und konkret sein. Dabei geht es weniger um die Frage, was ist passiert, sondern wie kam es dazu? Durch Einbeziehung der Akteure (Täter, Zuschauer, Mitläufer, Helfer) vor Ort lassen sich Fragestellungen entwickeln, die das Geschehen an konkreten Beispielen vor Ort thematisieren: Wie haben die Menschen vor Ort reagiert? Was sind die Vorzeichen auf dem Weg zur Diktatur und wie kann man diese erkennen? Wie haben Verantwortliche gehandelt, wurden Handlungsoptionen genutzt? Gab es Menschen, die anders handelten, gab es Helferinnen und Helfer?
Studien belegen, dass heute immer noch ca. 20 % der Bevölkerung antisemitische Haltungen haben, und dies unabhängig vom Bildungsgrad. Wie entstehen Vorurteile, Stereotype und Diskriminierung, wie kommt es zur Ausgrenzung und zum Ausschluss? Wann wird anderen die Gleichheit abgesprochen? Oder anders herum: Wie können Minderheitenrechte als essentieller und unverzichtbarer Wert heterogener und offener Gesellschaften begriffen werden? Diese Themen sind bis heute virulent für die politische Bildungsarbeit.
Die Thematisierung von Handlungsspielräumen, die Fragilität der Demokratie und der Weg in eine Diktatur sind wichtige Fragestellungen der historisch-politischen Bildung. Daher schließt diese Ausstellung eine Forschungslücke und wird – so meine Überzeugung - wichtige Impulse für Themen der historisch-politischen Bildung geben. Gleichzeitig zeigt sich, dass es noch offene Frage in der Forschung gibt und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus dauerhafte Aufgaben der politischen Bildung bleiben.
Liebe Kolleginnen und und Kollegen, ich wünsche Ihnen eine anregende Konferenz und viele lehrreiche Erkenntnisse!
- Es gilt das gesprochene Wort -