Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin, meine Damen und Herren,
Belarus ist für viele noch immer ein weißer Fleck: Ein Land, das seit 2004 zwar an der Grenze der EU liegt, dessen Geschichte, Politik und Kultur aber nur wenige zu bewegen scheint. Belarus ist ein sehr großes Land, flächenmäßig an 13. Stelle in Europa. Man kann es eigentlich nicht übersehen. Doch auch 20 Jahre nach der Unabhängigkeit ist Belarus, zwischen der Europäischen Union (EU) und dem großen Nachbarn Russland gelegen, weithin eine terra incognita.
Im 20. Jahrhundert hat es zuvor nur für sehr kurze Zeit einen unabhängigen belarussischen Staat gegeben, nach dem Untergang des Zarenreichs. Jeder vierte Bewohner der von den Deutschen besetzten und verheerten Belarussischen Sowjetrepublik verlor im Zweiten Weltkrieg sein Leben. Die jahrzehntelange Russifizierungspolitik wirkt bis heute nach: Heroische Opfer- und Siegererzählungen aus der Sowjetzeit dominieren das offizielle Geschichtsbild.
Seit 1994 regiert Präsident Aljaksandr Lukaschenka mit harter Hand. Bei der Präsidentschaftswahl im Dezember 2010 ließ er seine eigentümliche Autokratie für eine vierte Amtszeit bestätigen. Wie aus Medien- und Zeitzeugenberichten bekannt, gehen Polizeikräfte und der mächtige Geheimdienst KGB bis heute überaus gewaltsam gegen die seit Jahren marginalisierte Opposition vor. Die Medien unterliegen strenger Kontrolle, Internetsperren nehmen zu und elementare Menschenrechte werden grob missachtet. Ein friedlicher demokratischer Wandel in Belarus scheint in weite Ferne gerückt. Das Land gilt weithin als „letzte Diktatur Europas“.
Präsident Lukaschenka hat es lange gut verstanden, seine Nachbarn gegeneinander auszuspielen, um seine persönliche Herrschaft zu sichern. Moskau hatte Minsk jahrelang mit Rohstofflieferungen und Krediten alimentiert, um den Bund mit Russland zu festigen. Mit der globalen Finanzkrise begann eine Entfremdung: Präsident Aljaksandr Lukaschenka umwarb nun die EU und versprach Demokratisierung sowie die weitere Privatisierung der Staatswirtschaft; nach der Wiederwahl erneuerte er jedoch die enge Verbundenheit mit Russland.
Die belarussische Wirtschaft wird 2012 bei den Ratings der Weltbank, der Agentur „Standard und Poor's“ sowie der chinesischen Agentur „Dagong Credit Rating“ höher gestuft. Die Prognose für die Wirtschaft, die auch der Premierminister Michail Mjasnikowitsch teilt, heißt „stabil“. Im Widerspruch dazu stehen aber die rapide abfallende Kaufkraft und die Verarmung der Bevölkerung. Laut Umfrage der AHK (der Repräsentanz der Deutschen Wirtschaft in Belarus) im März 2012 bewerten 2/3 der in Belarus tätigen Unternehmen die Wirtschaftslage des Landes als schlecht.
Das Gesellschaftsmodell in Belarus, dem nicht wenige bis heute – wohl auch in großen Teilen aus Angst – zuzustimmen scheinen und das durch gleichgeschaltete Massenmedien verkündet wird, verheißt Stabilität, Sicherheit und Ordnung. Wird die Zustimmung bröckeln, wenn sich die prekäre Wirtschaftslage indes weiter verschlechtert? Wenn es kaum freie Medien gibt, die ein neutrales und differenziertes Bild vermitteln? Im April 2012 wurde Belarus auf Platz 193 von insgesamt 197 des Pressefreiheitsratings von Freedom House herabgestuft (vor Eritrea, Usbekistan, Turkmenistan und Nordkorea).
Meine Damen und Herren, als Bundeszentrale für politische Bildung fühlen wir uns den vielen Initiativen verbunden, die sich mittlerweile die Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Engagements in Belarus zum Ziel gesetzt haben. Stellt man Belarus in den geografischen Kontext, so fällt auf, dass die europäischen postsowjetischen Länder unter dem noch immer durch den Kalten Krieg begrenzten Blick des Westlers leiden: Moldau, Aserbaidschan, Belarus werden von uns gerne als Länder betrachtet, die gewissermaßen mit der Sowjetunion vom Himmel gefallen sind. Das trifft selbst auf die Ukraine zu – die nun immerhin in den Fokus Europas gerückt ist, wenn auch aus dem traurigen Anlass des unwürdigen Umgangs mit einer ehemaligen Ministerpräsidentin und bezeichnender Weise im Vorfeld eines großen Sport- und Medienereignisses.
Eine originäre Geschichte, Kultur und Sprache gestehen wir diesen Ländern selten zu. Dabei merken wir oft gar nicht, wie sehr wir dabei von der sowjetischen Geschichtsschreibung und Mythenbildung beeinflusst werden.
Im Juni 2011 erschien das Belarus-Themenheft unserer Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“; es ist im Printformat und auch online verfügbar. Darin schreibt der Belarus-Experte Ingo Petz über die Erfahrungen seiner belarussischen Freunde in Deutschland: „Warum wollen Sie denn Belarussisch sprechen? Bei ihnen sprechen doch alle Russisch! Was, Belarussisch ist eine Sprache und kein russischer Dialekt? Letzten Endes seid ihr doch sowieso alle Russen.“
Dabei ist Belarus auch in Deutschland weniger unbekannt, als es von den Medien und der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Um noch einmal Petz zu zitieren: „Es gibt über siebenhundert Vereine und Organisationen, die sich der Vergangenheitsbewältigung widmen, die humanitäre Hilfe leisten oder Bildungsprojekte in Belarus betreiben. Es gibt Städtepartnerschaften und Freundschaften. Europa wächst zusammen. Es existiert mittlerweile eine neue Generation von Westlern, die mit einem anderen Europabild aufwächst. Sie nimmt Länder wie Belarus längst als eigenständige Kulturen wahr. Sie lernen Belarussisch oder Ukrainisch und sorgen dafür, dass auch die belarussische Literatur mit Klassikern wie Jakub Kolas oder Rygor Baradulin hierzulande einen Stellenwert haben wird. Sie wissen um die zauberhafte belarussische Landschaft mit ihren Wiesen, Wäldern und knochigen Apfelbäumen.“ Und ich darf Petz ergänzend als Beleg für die umgekehrte Perspektive darauf verweisen, dass die bpb auf eine besonders engagierte Kollegin mit Belarus-Hintergrund verweisen kann.
In diesem Sinne wünsche ich es mir sehr, dass diese Ausstellung über Menschenrechte und Zivilgesellschaft in Belarus dazu beiträgt, das wahrhaft europäische Belarus auch in das Bewusstsein der Bonnerinnen und Bonner zu tragen. Vielleicht können wir den heutigen Tag, den 67. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, der in Belarus morgen gefeiert wird, dazu nutzen, die unselige Teilung des Kontinents, die 1945 begann, endgültig den Historikern zu überlassen und uns auch mental für Gesamteuropa, für die Menschen in Minsk, Homel oder besonders auch Vitebsk zu öffnen. Ihrem Kampf um Demokratie und Menschenrechte gebühren unsere Sympathie und unsere Hochachtung.
Vielen Dank.
- Es gilt das gesprochen Wort -