Sehr geehrter Herr Ditzen-Blanke, lieber Herr Dr. Lübben,
gegen Ende unseres 19. Forums Lokaljournalismus in Waiblingen hat sich ein Zeitungsmacher einmal Luft gemacht. Er habe genug von Zeitungskongressen, in denen es hauptsächlich um Facebook und Twitter gehe. Er sprach sicher so manch seiner Kolleginnen und Kollegen aus der Seele. Ich möchte sein Wort zum Ausgangspunkt meiner heutigen Überlegungen machen.
Keine Sorge - oder auch kein voreiliger Beifall: Ich will nicht dafür plädieren, in den kommenden zwei Tagen Facebook und Twitter auszuklammern. Das wäre weltfremd angesichts des Veränderungsdrucks, der vom Internet und gerade auch von den Sozialen Netzwerken auf alle Medien ausgeht. Aber ich wünsche mir ein Forum, in dem wieder mehr über Inhalte und handwerkliche Qualität gesprochen wird; in dem wieder diskutiert und gestritten wird über redaktionelle Strategien zur Bewältigung der großen politisch-gesellschaftlichen Themen, die uns umtreiben.
Ich habe das Gefühl: Wenn Sie dies tun, dann lösen Sie den fast hypnotisierten Blick von den unheimlichen Gefahren digitaler Netzentwicklungen zumindest ein wenig und können die neuen Möglichkeiten besser in den Blick nehmen. Dann sollten Sie bitte auf der anderen Seite auch nicht mehr ständig auf von Jahr zu Jahr geringere Papiermengen schielen, die aus den Rotationen kommen.
Etwas Anderes sollte Ansporn sein: Noch nie waren die Reichweiten der Zeitungen so hoch wie heute. Es ist eine spannende Erkenntnis, die der BDZV kürzlich verbreitet hat: 36,3 Prozent der regelmäßigen Internetnutzer lesen ihre Zeitung im Web. Zu den 48 Millionen Lesern der gedruckten Ausgaben kommen 25,5 Millionen Unique User in einem durchschnittlichen Monat hinzu. Für mich als politischer Bildner ist das eine gute Nachricht.
Natürlich weiß ich, dass Sie das nicht so unbeschwert sehen können. Die Frage nach dem Erlös- und Geschäftsmodell der Zeitungen ist damit nicht beantwortet. Man könnte das Ende der Deister- und Leine-Zeitung nach 125 Jahren als Menetekel an die Wand malen. Es wird wohl nicht das letzte Traditionsblatt sein, das sich ins Zeitungsmuseum verabschiedet. Andere bleiben im Rahmen von Konzernstrukturen nur als Markenrelikte übrig – bekannte Hüllen ohne charakteristischen Inhalt.
Die ganze Branche beobachtet mit Argusaugen, ob die New York Times mit ihrem Online-Abonnement oder der Guardian mit seiner Kostenlos-Philosophie am Ende erfolgreich sein wird. Und es ist auch nicht tröstlich, dass in Deutschland Spiegel Online aufgrund seiner immensen Reichweite und glänzenden Reputation über Werbung gerade mal genug Geld verdient, um keine roten Zahlen zu schreiben. Vielleicht wissen wir über diese Fragen beim kommenden Forum 2013 mehr. Es deutet sich ja an, dass auf ziemlich breiter Front mit der Paywall experimentiert werden wird. Ich drücke die Daumen.
Was wir heute schon sagen können: Weder im Lesermarkt noch in der Folge dann im Werbemarkt werden die Zeitungen bestehen, wenn die Menschen sie nicht haben wollen. Deshalb sind wir gut beraten, wieder mehr über Inhalte und Qualität zu reden. Darüber, welche Karten der Lokaljournalismus hier auf der Hand hat, welche Trümpfe er ausspielen kann – vielleicht auch, welche ihm entglitten sind, weil die Welt sich verändert hat.
Wenn weniger Menschen bedrucktes Papier kaufen, auf dem vorwiegend Neuigkeiten vom Vortag zu lesen sind, ist es Zeit sich darüber Gedanke zu machen, welchen informativen Mehrwert der Lokaljournalismus schaffen kann, statt in einer Vortagsaktualität zu verharren. Wie müssen die Geschichten aussehen, die die Nachrichten vom Vortrag im lokalen Kontext deuten, hinterfragen und weiterdenken? Wie können wir den Online- sowie den Offline-Kanal mit nachhaltigen, kreativen, mutigen und bürgernahen Inhalten als Forum attraktiv machen? Oder um die Kurzformel zu verwenden: Wie können wir den Lesern wieder die Faszination Lokaljournalismus vermitteln, von der wir alle überzeugt sind?
Ich denke, das lässt sich nicht von den Machern trennen. Die Frage heißt auch: Wie können Lokalredakteure und -redakteurinnen sich wieder auf ihre alten Qualitäten Faktentreue, Fachwissen und Vermittlungskompetenzen besinnen, welche neuen Qualitäten sollten sie sich aneignen?
Der Lokaljournalismus braucht Menschen, die für eine Aufgabe brennen. Die den Journalismus wieder stärker als Berufung, auch als politischen Beruf begreifen – nicht weil sie die Welt revolutionieren wollen wie einst die 68er, wohl aber, weil sie für demokratische Verhältnisse und zivilisierte Konfliktaustragung eintreten möchten.
Solche Journalisten und Journalistinnen sind das Fundament der Lokalzeitung – Journalisten und Journalistinnen, die mit Herz und Verstand ihre Arbeit machen, solide recherchieren, hartnäckig prüfen, kritisch auswählen, glasklar analysieren und intelligent kommentieren. Ohne professionelle Journalisten und Journalistinnen gäbe es eine verlässliche Öffentlichkeit nicht, nur Nachrichtenchaos und Informationswillkür. Die PR könnte triumphieren.
So weit sind wir nicht: An eindrucksvollen Beispielen kann die „drehscheibe“ immer wieder zeigen, wie stark die Rolle der Lokalredaktionen noch ist: als Mitgestalterin des demokratischen Gemeinwesens und Teil des gesellschaftlichen Wandels. Vom ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler stammt der Satz: „Guter Lokaljournalismus lädt die Menschen ein, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ Treffender lässt sich kaum sagen, was etwa das "Oberbayerische Volksblatt" in seiner Serie "Was mich freut – was mich ärgert" konkret umgesetzt hat. Die kleinen und großen, die berechtigten und auch die grundlosen Sorgen der Menschen ernst nehmen und zum Thema machen, öffentliche Diskurse zum lokalen Geschehen anschieben, organisieren und dokumentieren – das ist immer noch die ertragreichste Strategie des Lokaljournalismus.
Alle Redaktionen haben ihre Qualitäts-Highlights, die die Faszination Lokaljournalismus immer wieder aufblitzen lassen. Die tagtägliche Zeitungslektüre hingegen – online wie offline - ist oftmals für Leser und Leserinnen gepflegte Langeweile.
Kennzeichen: sich täglich wiederholende Routine gleicher Themenzusammensetzung, anlassbezogener Terminjournalismus, mangelnde Recherche und fehlender Hintergrund, PR-getriebene Themenauswahl und so weiter … Kritik, die nicht auf meinem Mist gewachsen ist. Das kommt von Ihnen! Das steht in den Dokumentationen der Seminare und Tagungen unseres Journalistenprogamms früherer Jahre - Selbstkritik in einer Zeit, als alle noch in dem Glauben lebte, die digitale Sturmflut könnte die Fundamente lokaler Zeitungen nie bedrohen.
Hat sich das in der neuen Konkurrenzsituation auf breiter Front gebessert? Ich habe den Eindruck: NEIN. Das Gesamtangebot ist weit entfernt davon, Leser und Leserinnen für das Produkt Zeitung online wie offline wirklich zu begeistern.
Ich weiß: Wo immer Sie Inhalte neu justieren wollen, bekommen Sie Ärger – beim Verein, beim organisierten Sport, bei Kommunalpolitikern, bei der Geschäftswelt und und und …. Können sich Lokalzeitungen heute noch leisten, Leser und Leserinnen zu verärgern, Abos oder gar Werbekundschaft aufs Spiel zu setzen? Andererseits glaube ich nicht, dass die selbst auferlegten Berichterstattungspflichten und Selbstzensuren weiterführen. Alle möglichen Anspruchsgruppen mit ihren gewohnten Inhalten zu bedienen klingt für mich nach keinem zukunftsfähigen Konzept.
Die Mischung macht's: Es müssen keineswegs immer die großen gesellschaftlichen Debatten sein, die das Agendasetting der Lokalredaktion bestimmen ( – auch wenn sie natürlich das Herz des politischen Bildners höher schlagen lassen...). Aber diese Schlüsselthemen müssen eben auch sein. Die inhaltlich-konzeptionelle Diskussion über deren Umsetzung in den lokalen und regionalen Medien ist vielleicht in letzter Zeit ein wenig zu kurz gekommen.
Wie kann der Lokaljournalismus zum Beispiel Bewusstsein für die Herausforderung des 21. Jahrhunderts schaffen: den „Klimawandel“? Themenausgaben "Klima und Umwelt" bei der Rhein-Zeitung, die großen Klimaserien der Volksstimme, der Braunschweiger Zeitung, des General-Anzeiger, der Waiblinger Kreiszeitung - das sind alles beachtliche Leistungen. Es ist auch innovativ, wenn Redakteure und Redakteurinnen mit der Thermokamera der Energiebilanz von Gebäuden nachspüren. Und es ist hilfreich, wenn Redaktionen unter dem Motto "Klimawandel - was tun?" Tipps geben, was der Einzelne tun kann. Natürlich spiegeln sich die Aktivitäten engagierter Bürger und Bürgerinnen und lokalen Initiativen in der Zeitung wider. Aber dass sie alle eine Plattform bekommen, dass sie Inhalte mitgestalten, dass hier wirklich ein Gespräch der Bürger und Bürgerinnen untereinander über existenzielle Themen zustande käme – dafür gibt es zu wenige Beispiele.
Bei anderen Themen sieht es ganz ähnlich aus. „Die Berichterstattung über den Alltag der Menschen mit Migrationshintergrund ist in den meisten Zeitungen noch immer kein selbstverständlicher Teil des täglichen Themenangebotes“, hat Ilka Desgranges vom Deutschen Presserat vor einigen Jahren resümiert. Das gilt auch 2012 noch. Es fehlt nicht an schönen Geschichten und Serien. Viele Zeitungen sind im Streit über den Moscheenbau tapfer in die Bresche gesprungen. Der Negativismus bei der Darstellung der Themen Migration und Integration wurde weiter abgebaut – kaum allerdings die Islamophobie!
Was sind unsere Maßstäbe für gelungene Integration? In der Expertendiskussion ist neben das Konzept Integration inzwischen das Konzept Diversity getreten. In den lokalen Medien spiegelt sich das kaum wider. Die Journalisten und Journalistinnen – nicht nur die lokalen – könnten die Debatte bereichern, wenn sie diese Dinge stärker reflektierten und ihre Schlussfolgerungen zögen. Wenn sie den Problemen, Sorgen und Nöten mehr auf den Grund gingen, wenn sie auf diese Menschen zugingen, um ihnen eine Plattform anzubieten und ihr Vertrauen zu gewinnen.
Am Rande bemerkt: Die noch viel zu wenigen Journalisten und Journalistinnen aus den Migrantengruppen, werden das allein nicht richten. Nein, es ist die Gesamtheit der Lokalredaktion, die gefordert ist – auch in ihrem Mut, unbequemen Themen beharrlich nachzugehen. In ihrem Willen, Lokaljournalismus für alle zu machen und nicht zum Sprachrohr derer zu machen, die die Zeit gerne zurückdrehen würden.
Da bleibt dann Gegenwind nicht aus. Aber ist das nicht bei allen Themen so, bei denen die Gesellschaft um den Konsens ringt? Die Redaktionen der beiden Stuttgarter Zeitungen haben da harte Erfahrungen gesammelt. Es war bewundernswert, mit welchem Aufwand und Ideenreichtum sie die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 begleitet haben. Wie sollen sich Lokalredakteure und -redakteurinnen verhalten, wenn ein Riss durch ihre Leserschaft geht? Wenn die einen mit heißem Herzen für und die anderen erbittert gegen den Windkraftpark, die neue Stromtrasse oder die Biogasanlage kämpfen? Wie positioniert sich die Lokalredaktion im Umgang mit den so genannten Wutbürgern und -bürgerinnen?
Eine notwendige Diskussion. Aber ich denke, dass sie im Kern gar nicht entscheidend ist. Die Zeitung kann sich gut begründet einsetzten für oder gegen etwas. Wichtig ist die Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit, in der sie das eine oder das andere tut. Sie kann genauso gut begründet sagen: Wir sehen gute Argumente auf beiden Seiten und geben den Argumenten beider Konfliktparteien Raum. Stefan Kläsener, Chefredakteur der Westfalenpost, hat es so definiert: „Entscheidend ist, dass die Zeitung aktiv in das Geschehen eingreift – nicht parteiisch, aber themenführend. Entscheidend ist, dass wir nicht Getriebene fremder Argumente sind – seien es die der Bürgerinitiativen oder die der Lobbyisten. Entscheidend ist, dass wir jedes Argument, das in die Waagschale geworfen wird, überprüfen.“
Viele Zeitungsmacher und -macherinnen gehen noch davon aus, dass ihr Medium offline wie online ernst und wichtig genommen wird, weil das 200 Jahre lang so war. Von dieser traditionellen Glaubwürdigkeit ist ja auch immer noch viel übrig. Aber es wächst eine Generation heran, für die das nicht mehr selbstverständlich ist.
Wenn Lokalredaktionen hier die Nase vorne behalten wollen, sollten sie meiner Meinung nach drei Problemfelder beackern:
1. Sie sollten ihr Verständnis des Lokalen hinterfragen
Gibt es den lokalen Raum eigentlich noch so, wie es ihn früher gegeben hat? Ein Medium, das „Nähe“ seit 200 Jahren zur Basis seines Erfolges gemacht hat, muss darüber nachdenken: Ist „Nähe“ noch in gleicher Weise räumlich abgegrenzt wie in den vergangenen Jahrzehnten? Darauf hat beim 19. Forum Lokaljournalismus in Waiblingen Jens Lönnecker hingewiesen – ein Gedanke, den Sie nach meiner Überzeugung bei der Diskussion über den Themenmix des Lokaljournalismus im Auge behalten sollten.
Immer mehr Menschen verbringen große Teile ihres Tages im Netz. Das ist für mich der Kern dessen, was wir begreifen müssen. Den Zugang zum Internet tragen wir per Tablet oder Smartphone ständig und überall mit uns herum. Jeden Moment können wir faszinierende Dinge abrufen und erleben, die dadurch immer mehr in unser reales Lebens einfließen. Kommunikation in Echtzeit, jeder kann seine Meinung in die Welt hinaus posaunen, sich beschweren, Antworten fordern. Aus der vermeintlichen Anonymität der eigenen digitalen Existenz heraus wächst noch der ängstlichste Zeitgenosse als Superkritiker und Wutbürgerin über sich hinaus. Wir sollten darüber nachdenken, wie die Entgrenzung der Möglichkeiten die Menschen verändert, ihr Selbstbewusstsein, ihre Anspruchshaltung – und was das für das journalistische Produkt bedeutet.
Die Wirtschaft tut das längst: Sie bekommt massiv zu spüren, was es heißt, live mit fordernden, kritischen Kunden und Kundinnen konfrontiert zu sein. Manche versuchen es mit Abschotten – doch es zeigt sich, das sich das rächt. Andere öffnen sich für den anstrengenden Dialog - bis hin zur Einbeziehung der Kundinnen und Kunden in die Produktentwicklung.
Die Politik steht im gleichen Lernprozess noch ziemlich am Anfang. Sie sieht, dass sich wieder mehr Menschen, vor allem Jugendliche, um gesellschaftliche und politische Fragen kümmern - über das Netz. 31 Prozent der in der Shell-Studie befragten Jugendlichen können sich vorstellen, sich im Internet oder über Twitter kurzfristig über Aktionen zu informieren und dort mitzumachen. Aber gerade mal 17 Prozent würden in einer Partei oder politischen Gruppe mitarbeiten wollen.
Bodo Hombach, ehemaliger Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, hat es so ausgedrückt: „Der Souverän wartet nicht mehr auf den nächsten einsamen Moment in der Wahlkabine. Er will auch unterwegs genauer wissen, wie und wohin der Hase läuft. Das ist Trend (…). Die Gesellschaft der Zukunft ist eine Dialoggesellschaft...“ Es hat wenig Sinn, das Leben im Netz kulturkritisch dem „real life“ gegenüberzustellen. Wir müssen lernen: Das Netz hat die Lebenswelt für viele Menschen ausgeweitet – es hat die Welt tatsächlich kleiner gemacht. Das globale Einkaufserlebnis im Netz tritt in Konkurrenz zum lokalen Einzelhandel, der Live-Stream eines großen Rockkonzerts aus Australien lässt die örtliche Unterhaltungswelt verblassen und die riesige Fülle von Webinaren ist auf vielen Gebieten attraktiver als der Vortrag in der Volkshochschule.
Die Anziehungskraft der virtuellen Orte bedeutet nicht, dass die Gleichaltrigenclique, die Vereine, die Kneipe und die Disco entfallen. Das passt alles ganz gut nebeneinander. Was wir unter „sozialem Umfeld“ verstehen, hat sich besonders für jüngere Menschen verändert. Es findet in den sozialen Netzen in anderer Weise statt, als meine Generation das kannte.
Die reale Nähe und die digitale Nähe müssten sich im Lokaljournalismus zu einer neuen Form von „Nahwelt“ verbinden, die nicht nur räumlich, sondern emotional definiert ist. Jedes Thema ist auch ein lokales Thema, hat die Ihnen vorausgehende Lokaljournalisten-Generation schon vor 25 Jahren in den Seminaren postuliert und dafür vielfältige Modelle entwickelt. „Herunterbrechen auf die lokalen Verhältnisse“ hieß die Devise. Aber geht das noch weit genug, die Spiegelung der großen Fragen unserer Zeit im Lokalen aufzusuchen und darüber hintergründig zu berichten?
Der umgekehrte Weg fällt Lokaljournalisten und -journalistinnen zu selten ein – danach zu fragen, wie lokales Geschehen, das Tun oder Lassen von Bürgern und Bürgerinnen, Politik und Wirtschaft mit den großen Fragen unserer Zeit zusammenhängt.
2. Sie sollten neu nach Ihrer eigene Rolle im lokalen Diskurs fragen
Ich beobachte mit Respekt, mit welchem Einsatz Zeitungsmacher und -macherinnen dafür kämpfen, einen Journalismus zu entwickeln, der den Herausforderungen des Web 2.0 gewachsen ist. Sie versuchen, in einen echten Dialog mit ihren Lesern und Leserinnen einzutreten, Zeitung gemeinsam mit ihnen zu machen, ohne sich anzubiedern. Für einen solchen Ansatz hat die Braunschweiger Zeitung schon 2009 den Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhalten.
Ich finde es spannend, wie stark und kreativ immer mehr Redaktionen das Instrumentarium des Netzes selbst für diesen Dialog und die Bindung der Leserschaft einsetzen. Die Redakteure und Redakteurinnen der Rhein-Zeitung etwa sind an allen Front auf Facebook, Twitter, Youtube und noch mehr Plattformen aktiv. Das findet Anerkennung selbst bei Zeitgenossen, die sich eigentlich von der gedruckten Zeitung verabschiedet hatten.
Nach meiner Überzeugung ist das der Weg. Ich frage mich, ob er wirklich schon konsequent genug beschritten wird. 2012 haben die meisten Journalisten und Journalistinnen das Internet verstanden. Für ihre praktische Arbeit an den lokalen Themen hat das aber meist nur insofern Konsequenzen, als dass eventuell Textvarianten für unterschiedliche Kanäle entstehen müssen. Wenn's hochkommt, macht man sich Gedanken über Audiovisuelles . Die Zeitungen präsentieren stolz den Hausblogger auf der Website und den "Tweet des Tages" in der Zeitung. Sobald aber irgendwas im Netz nicht zum bisherigen Geschäftsmodell passt, wird es bejammert, verbannt, verschwiegen. Oder die Verleger denken gleich einmal über eine Klage nach.
Echtzeitjournalismus im Dialog mit den Leserinnen und Lesern ist ein Strang der Diskussion, die zu führen ist, Open Journalism, wie der Guardian das nennt. Das bedeutet: die Lokalmedien arbeiten nicht für eine unbekannte Leserschaft da draußen irgendwo, sondern stützen sich auch auf ihr Wissen, ihre Erkenntnisse, beziehen Leserinnen und Leser sogar in ihren Arbeitsprozess ein. Aus Ihren Reihen wird diese Form des Journalismus gerne verspottet, als irrelevant abgetan. Ich halte das für einen Fehler.
Journalistinnen und Journalisten müssen sich von ihrem hohen Ross herunter begeben: Sie sind es nicht mehr alleine, die heute die Agenda bestimmen. So mancher Ihrer Leserinnen und Leser mischt mit im Konzert der Meinungsbildung. Mancher Blogbeitrag, mancher Tweet entfaltet mehr Wirkung als der Leitartikel in der Lokalzeitung. Gut recherchieren und schreiben können reicht einfach nicht mehr. Wir brauchen Profi-Journalisten und -Journalistinnen, die willens und fähig sind zum Gespräch mit kritischen Leserinnen und Lesern, sie müssen vertreten können, was sie tun. Sie müssen die Kritik und Gedanken ihrer Leserschaft ernst nehmen und aufgreifen, ohne dabei auf eigene Positionen und Anliegen zu verzichten.
Um keine Missverständnis aufkommen zu lassen: Leserbeteiligung in diesem Sinne ist nicht die Zauberformel, sie löst nicht mit einem Schlag alle Probleme – schon deswegen nicht, weil sie immer Minderheiten anspricht und nicht die Masse . Aber es ist eine Facette dessen, was neben der weltoffenen Themenpalette den Lokaljournalismus der Zukunft ausmachen und ihn attraktiv machen kann. Alles beides zusammen reicht aber auch nicht, wenn die Basis nicht stimmt. Und damit sind wir beim dritten und wohl kritischsten Punkt:
3. Sie müssen mit Informationsqualität überzeugen
So wichtig es für die Leserinnen und Leser ist, ihre Themen aus neuer lokaler Perspektive erzählt zu finden und auf Wunsch auch eine Chance zum Dialog und Mitwirken zu bekommen: Von journalistischen Angeboten erwarten sie in erster Linie Information und Orientierung, „keine virtuellen Kaffeekränzchen“, wie Pierre Gehmlich kürzlich in der Zeitschrift „Message“ schrieb. Es sind die alten journalistischen Tugenden: akribische Recherche, solider Hintergrund, saubere Analyse, Transparenz der Quellen. Und wenn dazu noch alles gut verständlich, möglicherweise sogar mit einem Hauch von Unterhaltsamkeit präsentiert ist - dann fasziniert die Zeitung Leserinnen und Leser mit lokalen Geschichten.
Es geht mir nicht darum, dass Lokalzeitungen sich als Konkurrenz zu Blättern wie Zeit, FAZ, Spiegel oder Süddeutsche Zeitung verstehen. Von einem neuen Verständnis des Lokalen her gedacht und im Dialog mit den Leserinnen und Lesern erstanden, könnten die lokalen Themen eine ganz andere Qualität haben. Eben eine spezifisch neue lokaljournalistische Qualität, die zu definieren Ihre Sache ist.
Die Umsetzung allerdings erfordert viel Aufwand – sie kostet Geld, keine Frage. Hier schließt sich der Kreis. Durch ständige Kostensenkung die Profitabilität erhalten zu wollen, ist langfristig eine Milchmädchenrechnung. Was das angeht, sehe ich die derzeitige Entwicklung in den deutschen Zeitungshäusern mit gemischten Gefühlen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Einschnitte auf Kosten von Qualität gehen. Andererseits mag ich nicht in das Klagelied einstimmen, jede strukturelle Anpassung sei des Teufels. Die Zwei-Drei-Mann-Lokalredaktionen waren selten Vorposten des Qualitäts-Lokaljournalismus. Wenn es heute größere Zeitungshäuser mit überörtlichen oder gar überregionalen Strukturen für Austausch und Kooperation versuchen, muss das ebenso wenig der Anfang vom Ende sein. Warum sollten sich solche Strukturen im Zeitalter des interaktiven Web nicht kreativ nutzen lassen? Wieso kann man nicht dezentrales, auf viele Redaktionen verstreutes Wissens-, Recherche- und schreiberisches Potential themenorientiert für lokale Geschichten nutzbar machen? Warum nicht auch das Wissen der Leser stärker nutzbar machen?
In unserer fleißig kommunizierenden, produzierenden und partizipierenden Gesellschaft ist journalistische Qualität nicht mehr alleine das Werk des einzelnen, an seinem Schreibtisch vor sich hin recherchierenden und schreibenden Journalisten. Dialog, Kooperation und Austausch, so wie sie ihn hier im Lokaljournalistenprogramm ja bereits praktizieren, sollte den redaktionellen Alltag prägen – auch über Redaktionsgrenzen hinaus. Die Zahl der Menschen wächst, die nicht nur über die verschiedenen Kanäle bespielt sein wollen, sondern von Fall zu Fall gerne auch einmal selbst mitspielen.
Nach meiner Meinung sollten die Zeitungen viel konsequenter ihre Geschäftsmodelle aufbrechen, radikaler ihre organisatorischen Strukturen hinterfragen und mutiger ausprobieren, was geht und was nicht. Könnte es nicht beispielsweise sein, dass für den Erfolg im hyperlokalen Raum die heutigen Zeitungsunternehmen viel zu unbewegliche Tanker sind? Andere Branchen machen es vor, wie man in veränderten Märkten mit angepassten Business-Units agieren und erfolgreich sein kann.
Diese könnten möglicherweise sogar neue Erlösmodelle finden – bis hin zum Crowdfunding. Die Plattform Externer Link: Spot.us zeigt in den USA, dass dies auch im Journalismus funktionieren kann: Seit 2008 sammelt sie Monat für Monat durchschnittlich 7000 Dollar Spenden – Geld mit dem lokale Themenvorschläge und Geschichten realisiert werden können.
Entscheidend ist für mich, was bei den Leserinnen und Lesern ankommt. Unsere Demokratie braucht so viel exzellenten, recherchestarken Lokaljournalismus, wie sie bekommen kann. In diesem Sinne wünsche ich Ihren Beratungen während der nächsten zwei Tage eine große Portion Unverzagtheit und viele kreative Durchbrüche.
Viel Erfolg dabei und viele guten Gespräche!
- Es gilt das gesprochen Wort -