Viele der mittel- und südamerikanischen Gesellschaften haben im Zuge der Globalisierung in den letzten beiden Jahrzehnten so manche Berg- und Talfahrt hinter sich gebracht. Der wirtschaftliche Einbruch, den die argentinische Bevölkerung nach der Finanzkrise von 2002 durchlitten hat, ist eines der letzten und drastischsten Beispiele. In den Konsultationen, die die ILO 2002 in Brasilien durchführte, wurden in dem Land, in dem 2003 100.000 Menschen zum Weltsozialforum in Porto Alegre zusammen kamen und für eine faire Gestaltung der Globalisierung eintraten, die Beseitigung des Hungers, universale Bildung und menschenwürdige Arbeit als die wesentlichen Themen der neuen Agenda hervorgehoben, um ein Gegengewicht gegen die Komponenten Handel, Finanzen und Technologie zu bilden, die bisher bevorzugt berücksichtigt worden seien.
Einige Stimmen in Südamerika verbinden die Globalisierung aber auch mit der Ausbreitung der Demokratie in der Region und mit einem wachsenden Bewusstsein in der Öffentlichkeit für Probleme wie die Gleichstellung der Geschlechter, die Menschenrechte und eine nachhaltige Entwicklung. Die "kleinere" globale Welt von heute erleichtere, dieser Sichtweise zufolge, in hohem Maß die gegenseitige Befruchtung mit Ideen und ihren Austausch. Teilnehmer einer Konsultation in Chile äußerten die Hoffnung, dass die Globalisierung zum Entstehen einer neuen globalen Ethik beitrage, die auf universalen Werten und von den Menschen in der ganzen Welt geteilten Prinzipien beruht.
Gleichwohl überwiegt die Wahrnehmung, dass die Globalisierung ihre Versprechungen nicht erfülle und insbesondere nicht in der Lage sei, menschenwürdige Arbeit zu bieten. "Arbeitnehmer können dem derzeitigen Modell der Globalisierung kaum Vertrauen schenken, wenn sie jeden Tag das Anwachsen der informellen Wirtschaft, eine Minderung des sozialen Schutzes und das Vordringen einer autoritären Arbeitsplatzkultur erleben", erklärte ein Gewerkschaftsführer. Aber selbst in einem so erfolgreichen Land wie Costa Rica hatten die Gesprächsteilnehmer den Eindruck, dass die Mehrheit der Bürger, unabhängig von ihrem Einkommen oder ihrer sozialen Stellung, in der Globalisierung mehr Bedrohungen als Chancen sahen. Vor allem die Schwankungen der globalen Finanzmärkte hätten in zahlreichen Ländern katastrophale soziale Folgen gehabt, die sowohl auf unzulängliche Maßnahmen der Regierungen als auch auf das mangelhafte Verständnis des IWF und ausländischer Banken für die lokalen Gegebenheiten zurückzuführen seien. Die Mittelklassen in Argentinien und Uruguay seien besonders hart getroffen worden.
Auch das Thema Migrationen ist zu einer wichtigen Frage in der ganzen Region geworden – von Mexiko, wo jeder fünfte Arbeitnehmer im Ausland lebt, bis zu Argentinien, wo qualifizierte junge Menschen in Länder auswanderten, die ihre Großeltern auf der Suche nach Wohlstand verlassen haben.
Große Hoffnungen verbinden sich mit der regionalen Integration als Mittel zur Verwirklichung sozialer und politischer Ziele. Insbesondere die Integration innerhalb des MERCOSUR könnte intensiviert werden. Die regionale Solidarität könne, so die Erwartungen vieler Akteure, auch für die gesamte Region ein Instrument sein, aktiv in die Gestaltung der Globalisierung einzugreifen. Nach einer 2002 von Latinobarómetro (Santiago, Chile) durchgeführten Erhebung hielten mehr als 40% der Menschen in Lateinamerika die Arbeitslosigkeit, die Instabilität des Arbeitsmarktes oder niedrige Löhne für ihr wichtigstes Problem. Dieselbe Erhebung ergab, dass eine Mehrheit der Befragten der Ansicht war, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Regierung seien für diese Probleme verantwortlich, während 22% der Globalisierung und 23% dem IWF die Schuld gaben (vgl. die regelmäßige Latinobarómetro-Erhebung, Externer Link: www.latinobarometro.org).
Bearbeitet nach: Eine Faire Globalisierung – Chancen für alle schaffen, Abschlussbericht der ILO-Weltkommission für die soziale Dimension der Globalisierung, 2004, S. 14 ff.
Perspektivwechsel Lateinamerika und Karibik
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Globalisierung ist stets auch ein Perspektivwechsel. Ob die Globalisierung von einem Menschen als positiv erachtet wird oder er darin eher Risiken als Chancen erkennt, ist von seinen konkreten Erfahrungen abhängig und davon, wo er lebt und was er besitzt.
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