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Europäische Gewaltgeschichten und die "Dialektik der Moderne"
Stehen die Phänomene Kolonialismus, Holocaust und Kommunismus als Extreme in der europäischen Geschichte in einem inneren gar genealogisch aufeinander bezogenen Zusammenhang? Inwieweit ist kolonialistisches, rassistisches und genozidales Denken ein "integraler Bestandteil europäischer Modern"? Insbesondere die Beiträge von Brumlik, Melber und Oostindie behandelten implizit bzw. explizit Fragen der "Dialektik der Aufklärung", so wie sie in der berühmten gleichnamigen Schrift von Horkheimer und Adorno angelegt sind. Notwendig sei heute, so die von Henning Melber explizit vertretene These, die Dekonstruktion des "colonial mind set" also des durch die Aufklärung geprägten Denken und Handelns. So ließen sich Kontinuitäten und Parallelen in der Herrschaftspraxis von Kolonialmächten und der nationalsozialistischen Eroberungs- und Unterwerfungspolitik in Osteuropa ausmachen. Die Spuren - so die radikale Fortführung der These - reichten bis in die heutige Zeit: Eurozentrismus, Fortbestand von Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten seien die aktuellen Ausdrucksformen von postcolonial legacies im postkolonialen Europa.
In der anschließenden Debatte stimmten die Teilnehmer überein, dass alle drei Phänomene einer europäischen Gewalt- und Fortschrittsgeschichte zugeordnet werden können, die Verbrechen wie Klassen- und Rassenmord in großem Maßstab als Gepäck mit sich führt. Die Debatte ließ sich einordnen in neuere Versuche, die unterschiedlichen, teilweise auch noch "verborgenen Gewaltgeschichten" in einen Gesamtzusammenhang europäischer Geschichte zu stellen Die Stichworte lauten: nationale und soziale Homogenisierungswellen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg in Ost- und Westeuropa, "kollektive Regression" als gesellschaftliches Phänomen.
Dennoch konnten viele der angeführten Verbindungslinien und Annahmen hinsichtlich eines Gesamtzusammenhangs europäischer Gewaltgeschichten im Rahmen des Workshops nicht geklärt werden. Kontroversen betrafen etwa die Frage: ob der Kolonialismus im Wesentlichen genauso "exterministisch" gewesen sei wie der Nationalsozialismus oder primär durch wirtschaftliche Expansionsinteressen getrieben gewesen sei, die genozidale Verbrechen zwar nicht verhinderten aber auch nicht zwangsläufig nach sich zogen. Die Beiträge von Henning Melber und Gert Oostindie vertraten hier unterschiedliche Positionen.
In einem weiteren Strang der Debatten wurden die von Theorien der Postmoderne resp. des Postkolonialismus inspirierten Thesen debattiert, die eine fundamentale - insbesondere auch die Tradition der Aufklärung einbeziehende - Selbstkritik des "Westens", einforderten. Dem wurde - unter anderem von Micha Brumlik - eine Linie der Aufklärung entgegengehalten, die auf Kant zurückgehe: diese habe eben die Instrumentarien und politische Diskurse, unter anderem die der Menschen- und Bürgerrechte, ermöglicht, die zu einer kritischen Verarbeitung und Bewältigung der Gewaltgeschichten der europäischen Moderne befähigen. Schließlich, so ein anderer Einwand, habe es kolonialistische, genozidale und gewaltförmige Herrschaftsformen auch in vormodernen, außereuropäischen Gesellschaften gegeben.
Ost – und Westeuropa
Der Vortrag von Stefan Troebst (Trier) zeigte, mit welch unterschiedlichen Erinnerungen und Geschichten Ost- und Westeuropa weiterhin leben; allen Interdependenzen und Europäisierungstendenzen auf politischer und wirtschaftlicher Ebene zum Trotz. Nationale Kontexte bleiben gerade in Ost – und Mitteleuropa weiterhin relevant. Troebst postulierte anhand der Auseinandersetzung um die Gleichsetzung der stalinistischen Vernichtungskampagnen mit dem nationalsozialistischen "eliminatorischen Antisemitismus", (der Kalniete-Korn-Debatte), dass alle Versuche eine Hierarchie von Opfergeschichten zu konstruieren, zum Scheitern verurteilt seien. Statt die Diversität europäischer Geschichte in eine einzige Erinnerungsformel umzugießen, sei es realistisch, von einem "friedlichen Nebeneinander" der Geschichten auszugehen.
Auch die Erinnerungskulturen in Ost – und Mitteleuropa werden weiterhin von geschichtspolitischen Interessen und innenpolitischer Dynamik geprägt, wie der Vortrag von Jacek Zakowski (Warschau) deutlich machte.
Eine Konsequenz für die politische Bildung dürfte darin bestehen, die hier nur angedeuteten Kontroversen transparent zu machen und die politisch – normativen Fluchtpunkte und Begründungen der erinnerungspolitischen Diskurse in Ost – und Westeuropa offen zu legen. Der Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen Ost- und Westeuropa steht hier erst am Anfang.
Singularitätsthese versus vergleichende Genozidforschung
Umstritten blieb auch die These von der Singularität des Holocaust – trotz der Übereinstimmungen, dass es vergleichender Genozidforschung bedarf. Micha Brumlik (Frankfurt am Main) stellte die These zur Diskussion, dass nicht die Singularität der Opfer und des Leidens entscheidend sei, sondern die Singularität der Tat, also des Zivilisationsbruches, der sich im bürgerlich geprägten Deutschland ab 1933 vollzog. Ihm ging es darum, dem Dilemma einer Hierarchie des Leidens und der Opferkonkurrenzen zu entkommen.
In jedem Fall aber stellen sich weiterhin besondere Zugänge ein, wenn es um die Vermittlung in Deutschland geht. Die Gründung einer staatlichen Institution politischer Bildung wäre ohne die Anerkennung der Verbrechen des Holocaust, das Schuldeingeständnis der Bundesrepublik für die Verbrechen zwischen 1933 bis 1945 sowie den Willen der deutschen Politik, totalitäres Gedankengut geistig-politisch auf allen Ebenen zu bekämpfen, nicht vorstellbar. Es ist kein Zufall, dass vergleichbare Institutionen in Europa nicht existieren.
Inzwischen wird von einer Europäisierung oder gar Globalisierung der Holocaust-Erinnerung gesprochen; die Erkenntnis wächst, dass der 2. Weltkrieg mit seinem Genozid an den europäischen Juden zum negativen Gründungsmythos der Europäischen Union geworden ist. Die Holocausterinnerung hat sich "transnationalisiert" und "europäisiert", wie Erinnerungsorte und Museen an vielen Plätzen außerhalb Deutschlands zeigen. Kritische Einwände, die vor einer "De-Kontextualisierung" warnen respektive vor der Verdrängung der spezifisch deutschen Anteile an dem Verbrechen, sind jedoch zu beachten.
Konsequenzen für die historisch - politische Bildung in Europa
Der Versuch einer vorläufigen Zusammenfassung der explorativen und experimentellen Debatte in Berlin muss zunächst selbst vorläufig und experimentell bleiben. Dennoch lassen sich einige belastbare Linien und Thesen formulieren, die Hinweise auch für eine Bewertung bisheriger und zukünftiger praktischer Projekte geben.
Zur "Dialektik der Aufklärung"
Aufklärung und moderne Gesellschaften können rationale Diskurse und Techniken mit genozidaler Konsequenz entwickeln, dies geschieht allerdings nicht unausweichlich. Vielmehr geht es darum, mit geeigneten institutionellen Vorkehrungen und politischen Diskursen dahin zu wirken, dass moderne Gesellschaften nicht Menschenrechte missachten oder Genozide praktizieren. Mit liberaler Demokratie und den Konzepten der Bürger- und Menschenrechte hat Europa auf diese Ambivalenz immer wieder reagiert, die gleichwohl auch künftig bestehen bleibt.
Gegenwartsbezug historisch –politischer Bildung
Die Herausforderung historischer Bildung besteht daher darin, Holocaust, Genozide, Kolonialgeschichte u.a. Gewaltgeschichten nicht in von der Gegenwart abgeriegelte historische Schichten zu verweisen, sondern als vorstellbare – zu verhindernde – Auswüchse moderner – d.h. auch Gegenwart und Zukunft - prägender Gesellschaften anzusehen. Erst aus diesem Gegenwartsbezug ergibt sich die Notwendigkeit beständiger politischer Bildung und historischer Aufarbeitung wie auch der kontinuierliche Prozess, institutionelle Vorkehrungen gegen solche Entwicklungen zu vervollkommnen oder zu erweitern.
Politische Bildung und Menschenrechtsbildung
Vor diesem Hintergrund geht es darum, unterschiedliche historische Gewalt- und Genoziderfahrungen in Bezug auf die Entwicklung von Konzepten der Demokratie und Menschenrechten zu lesen: der Holocaust, die Erfahrung zweier Weltkriege, die Erfahrungen kommunistischer Diktaturen, die Erfahrungen von Kolonialpolitik und Kolonialkriegen, die Erfahrungen der Balkankriege der 90er Jahre usw. Diese Erfahrungen sind einerseits jeweils historisch besonderen – einzigartigen – Konstellationen geschuldet, gleichzeitig machen sie Anleihen bei ihren jeweiligen Vorgängern. Wissenschaftlich interessant sind sicherlich vergleichende Analysen und die Herausarbeitung solcher Verbindungslinien. Für die politische Bildung hingegen erscheint eine andere Fragerichtung bedeutsamer: welche konkreten Impulse gingen von jedem dieser Ereignisse für die Entwicklung von Konzepten liberaler Demokratie, Menschenrechte und Völkerrecht aus?
Die Vermittlung der politischen und institutionellen Verarbeitungs- und Bewältigungsgeschichte der europäischen Gewalt- und Genoziderfahrungen muss daher ein Schwerpunkt historisch-politischer Bildung sein. Dazu gehören auch die vielfältigen Kontroversen, die die Debatte prägen – wie etwa die um das Erbe des Kolonialismus in England und Frankreich – sind von politischer Bildung offen zu legen und in transparenter Form für den Bildungssektor und eine breite Öffentlichkeit aufzubereiten. Das Konzept der universellen Menschenrechte bildet den zugespitzten normativen Fluchtpunkt der Auseinandersetzung mit den großen totalitären Strömungen des 20. Jahrhunderts: die entscheidende und nachhaltig wirkende "Lehre", die Europa und die (westliche) "Welt" nach dem Zweiten Weltkrieg zogen.
Politische Bildung umfasst darüber hinaus den Anspruch, Orientierungswissen in einer zunehmend komplexeren Welt nationaler und internationaler Politik mit ihren Brüchen, Widersprüchen und Paradoxien, bereitzustellen. Offenlegung der gesellschaftlichen Kontroversen um die Zukunft einer globalisierten und interdependenten Welt gehört hier ebenso dazu wie die kritische Auseinandersetzung mit essentialistischen Identitätsangeboten. Dieses Wissen für spezifische Zielgruppen, also auch Migranten, aufzubereiten, und didaktisch und methodisch kreativ zu vermitteln, ist eine permanente Baustelle für Praktiker der politischen Bildung.
Historisch- politische Bildung in Einwanderungsgesellschaften
Der politische Paradigmenwechsel in den europäischen Gesellschaften hinsichtlich der Themen Migration und Integration hat entscheidende Auswirkungen auf die Konzepte historisch-politischer Bildung. Generell ist sowohl in der migrationspolitischen Debatte als auch in der Ausrichtung staatlicher Politik das Konzept "citizenship", und damit die staatsbürgerschaftliche Integration von Migranten neu aufgewertet worden. "Migranten" sollen jetzt als Bürger (auf Dauer) integriert werden. Die Debatte hat sich inzwischen von den Konzepten eines oberflächlich verstandenen "Multikulturalismus" verabschiedet.
Gleichzeitig (und in engem Zusammenhang, möglicherweise auch als Bedingung der oben beschriebenen Vermittlungsarbeit) muss sich historisch-politische Bildung viel stärker als bisher darauf einzustellen, auch "Migranten" und ihre Geschichten stärker in die jeweiligen Curricula mit einzubeziehen. Dies betrifft zum einen die oft außereuropäischen Erfahrungen und Familiengeschichten etwa arabisch- oder türkischstämmiger Jugendlicher. Entscheidend ist dabei eine Grundstruktur des Umgangs und der Kommunikation von Geschichte (als dynamischen, unabgeschlossenen, veränderbaren Prozess), der zur politischen Gestaltung und Beteiligung einlädt bzw diese geradezu einfordert.
Zum anderen geht es um die Einbeziehung und Anerkennung der eigenen Migrationsgeschichte: historisch-politische Bildung muss also die "Türken in Berlin" ebenso einbeziehen wie die "Türken vor Wien". In diesen Zusammenhang gehört auch die Anerkennung von Diskriminierung, Verfolgung und Genozid als Teil des demokratischen Selbstverständnisses in einer Einwanderungsgesellschaft.
Auf der anderen Seite muss sich politische Bildung verstärkt mit einem (auch durch internationale Ereignisse und Verflechtungen ausgelösten) Trend zu identitären Selbstbehauptungen, Abgrenzungen und Opferkonkurrenzen (inkl. antisemitischer Grundhaltungen und Holocaust-Leugnungen) auseinandersetzen. Ein abgrenzendes und identitätspolitisches Geschichtsverständnis ist oft integraler Bestandteil dieser Diskurse. Methodisch wird es auch hier darum gehen, Transferprozesse zwischen verschiedenen Gesellschaften und deren gemeinsame "geteilte Geschichte" (shared history) nachzuweisen. Entsprechende neue Ansätze in der Geschichts- und Kulturwissenschaft müssen (weiter) Eingang in die Profession der politischen Bildung finden.
Eine "Übersetzung" europäischer Erfahrungen mit Aufklärung und Selbstkritik, des Umgangs mit geschichtlichen Katastrophen und der spezifischen geschichtspolitischen Streit- und Debattierkultur Europas steht auf der Tagesordnung politisch-historischer Bildung in Europa. Der Workshop in Berlin hat hierzu wichtige Anregungen geliefert und neue Fragen gestellt.
(Die Zusammenfassung basiert auf Papieren von Viola Georgi (Freie Universität Berlin), die den Workshop im Auftrag der bpb konzipiert und organisiert hat sowie Ralf Possekel, Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft.)
Christoph Müller-Hofstede, M.A.
Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
25. Februar 2006
Kommentare/Ergänzungen: E-Mail Link: mueller-hofstede@bpb.de