Welche Chancen und Herausforderungen sind mit Demokratieprojekten im ländlichen Raum verknüpft? Akquisos sprach über diese Fragen zum einen mit Lan Böhm, Leiterin der Regiestelle des Bundesprogramms "Zusammenhalt durch Teilhabe", sowie in einem zweiten Gespräch mit Babette Scurrell und Andreas Willisch, beide vom Thünen-Institut für Regionalentwicklung e. V. Diesem wurde 2020 die Verantwortung für das Programm "Neulandgewinner. Zukunft erfinden vor Ort" von der Robert Bosch Stiftung übertragen. In den Gesprächen wurde schnell klar: Genauso wenig wie es den ländlichen Raum gibt, gibt es den einen Ansatz, Demokratie vor Ort zu stärken. So entstehen unterschiedliche Blickwinkel auf die ländliche Projektlandschaft.
Weitere Informationen: Externer Link: www.zusammenhalt-durch-teilhabe.de und Externer Link: www.neulandgewinner.de
Akquisos: Nach welchen Grundsätzen suchen Sie Projekte zur Demokratieförderung im ländlichen Raum aus?
Lan Böhm: Das Bundesprogramm "Zusammenhalt durch Teilhabe" unterstützt vor allem regional verankerte Vereine und Organisationen, die auch in kleinen Gemeinden vor Ort aktiv sind – wie zum Beispiel Feuerwehr, Sportvereine, Naturfreunde, Technisches Hilfswerk oder kirchliche Gruppen. In diesen Strukturen sollen Teilhabe und das demokratische Miteinander gestärkt werden und darüber hinaus weitere Menschen erreicht werden. Wir suchen nach Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, deren Kompetenzen unterstützt und erweitert werden.
Andreas Willisch. (© Foto: Jörg Gläscher)
Andreas Willisch. (© Foto: Jörg Gläscher)
Andreas Willisch: Das Programm "Neulandgewinner" setzt auf engagierte Einzelpersonen mit innovativen Ideen, die vor Ort neue Impulse setzen. Wir schauen weniger auf die Projektinhalte als auf die Initiator/-innen und deren Herangehensweise an bestehende Probleme. Denn wenn sie ein Problem lösen, werden sie zukünftig weitere Probleme sehen und angehen. Ganz wichtig ist uns die Motivation: Warum machen sie das Ganze? Für sich oder für die Gemeinschaft? Die Projektinitiator/-innen müssen auch eine gewisse Freiheit haben, Dinge umzusetzen. Deswegen nehmen wir gut gedachte Projekte von größeren Trägern nicht in die engere Auswahl, weil wir in besonderer Weise das ungebundene, spontane Engagement von Leuten vor Ort unterstützen wollen.
Welche Chancen bieten ländliche Räume für Demokratie-Projekte?
Lan Böhm: Es gibt in ländlichen Gemeinden ein riesiges Interesse an jeglichen Angeboten. Da, wo wenig passiert, ist man immer sehr dankbar für eine Veranstaltung oder ein kleines Fest. Es gibt auch mehr Aufmerksamkeit für Aktionen. Eine Gruppe, die zum Beispiel in einer Kleinstadt eine Müllsammel-Aktion startet, erfährt viel mehr Beachtung und positives Feedback, als wenn sie jetzt in München den U-Bahnhof reinigen würde.
Wir stellen außerdem fest, dass Menschen, die im ländlichen Raum Verantwortung übernehmen wollen, diese auch sehr schnell bekommen. Man hat dort einen größeren Gestaltungsrahmen, als man den in einer Stadt vielleicht hätte.
Der soziale Zusammenhalt ist – da, wo es funktioniert – im ländlichen Raum noch stärker. Das kann Vor- und Nachteile haben. Menschen sind in ihrer Gemeinschaft eingebettet und können dort viel miteinander bewegen.
Babette Scurrell. (© Foto: Jörg Gläscher)
Babette Scurrell. (© Foto: Jörg Gläscher)
Babette Scurrell: Die kürzeren Wege – zumindest innerhalb der Dörfer – schaffen eine Unmittelbarkeit. Vieles geht schneller und direkter. Es gibt ein gutes Gespür für aktuelle Themen, auch im politischen Bereich. Das findet schnell Widerhall in den Projekten.
Andreas Willisch: Nun muss man sagen, dass das nicht für den gesamten ländlichen Raum gilt. In der Breite ist die politische Durchlässigkeit im urbanen Raum größer. Die Menschen, die wir als Neulandgewinner auswählen, haben meist keine geraden Biographien, haben im Leben mehrere Veränderungen mitgemacht, sind Zugezogene oder Rückkehrer. Für die ist der ländliche Raum, gerade in Ostdeutschland, eine Chance, ein Ort vieler Möglichkeiten.
Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen Projekte im ländlichen Raum?
Andreas Willisch: Mit neuen Ideen und Projekten dringt man im ländlichen Raum viel stärker durch. Das ist Vor- und Nachteil zugleich. Man erntet schnell Zustimmung und kann was bewegen. Man kann – und das erleben viele im Verlauf des Prozesses immer wieder – aber auch Ablehnung und zum Teil massivsten Widerständen ausgesetzt sein. Das geht ebenfalls wesentlich schneller als in der Stadt und ist neben der Finanzierung das größte Problem. Filterblasen gibt es auf dem Land nicht. Der Nachbar ist der erste, der widerspiegelt, was man da tut.
Lan Böhm: In ländlichen Regionen gibt es insgesamt eine größere Homogenität in der Bevölkerung. Das macht sich zum Beispiel daran fest, wie viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte vor Ort leben, oder wie sichtbar vielfältige sexuelle Orientierungen sind. In Städten passiert das alles viel offensiver und soziale Normen verändern sich schneller. Das heißt nicht, dass Menschen auf dem Land dazu nicht bereit sind, aber der Wandel vollzieht sich viel langsamer.
Der stärkere soziale Zusammenhalt kann natürlich auch hinderlich sein, wenn er dazu führt, dass kritische Stimmen unerwünscht sind oder Missstände unter den Teppich gekehrt werden. Es ist viel einfacher, mit Zehntausenden anderen auf dem Berliner Alexanderplatz gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren, als in einem kleinen Dorfverein ausländerfeindlichen Äußerungen zu widersprechen und Änderungen vorzuschlagen.
Schwierig ist natürlich auch, dass die Wege auf dem Land zum Teil sehr weit sind oder die Verkehrsinfrastruktur nicht so gut ist. Veranstalter/-innen müssen sich damit auseinandersetzen, dass manche Personen sehr lange Anfahrtswege zu ihren Veranstaltungen und Projekten haben oder keine Möglichkeiten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln überhaupt von A nach B zu kommen. Der zeitliche Aufwand, um als Ehrenamtlicher an einer Sitzung oder an einem Seminar teilzunehmen, ist in ländlichen Regionen oft viel höher.
Was trägt dazu bei, dass Projekte in ländlichen Räumen nachhaltig erfolgreich sein können?
Lan Böhm: Dadurch, dass es in ländlichen Gemeinden nicht so viele Akteure gibt, ist es sehr wichtig, die Leute vor Ort und insbesondere bestimmte Schlüsselakteure ‚mitzunehmen‘. Ich kann ein Projekt nicht umsetzen, wenn die Leute, die vor Ort leben und etabliert sind, dagegen sind. Es ist daher wichtig, dass das Projektteam gut vernetzt ist und viel mit allen möglichen Leuten spricht, um sie für das Projekt zu begeistern und vielleicht auch zu Mitstreiterinnen und Mitstreitern zu machen. Es kommt häufig vor, dass Projekte mit neuen Ideen für Unruhe sorgen und Staub aufwirbeln. Es ist daher für Projektleiter/-innen oft gut, wenn sie Fortbildungs-, Beratungs- und Coachingangebote wahrnehmen, die sie unterstützen können.
Gut ist es, wenn Projektleiter/-innen ihre potenziellen Teilnehmenden und deren Interessen gut kennen. In einem technischen Verein, zum Beispiel beim THW, stoßen Projekte auf Interesse, die mit technischen Gimmicks arbeiten, etwa Geocaching-Events zu gesellschaftlichen Themen. Ein erfolgreiches Projekt der Naturfreunde sind Spaziergänge ins Grüne mit Kommunalpolitikerinnen und -politikern, bei denen neue Zielgruppen an politische Themen herangeführt werden.
Andreas Willisch: Gerade im ländlichen Raum reichen wenige Leute aus, um Dinge anzuschieben. Damit Veränderungsprozesse gelingen, muss weniger in Strukturen gedacht, sondern die "relevanten Einzelnen" gefunden werden. Ein Erfolgsfaktor ist sicherlich deren Einbettung in die Gesellschaft.
Babette Scurrell: Die Projekte müssen immer offen sein und dem ganzen Dorf oder Stadtteil nutzen. Das ist immer eine Frage von Demokratie stärken, Beteiligung anregen, sprachfähig werden, Selbstwirksamkeit anregen. Dann entsteht daraus auch etwas Bleibendes, ein kontinuierlicher Prozess.