Ist das G8 eine zu große Belastung für Schüler/-innen und Lehrer/-innen? Über diese Frage wird immer wieder diskutiert. 12 Schuljahre bis zum Abitur – so war es einmal einheitlich an preußischen Gymnasien geregelt, vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Weimarer Zeit. Vor gut 100 Jahren wurde die Zeit bis zum Abitur im Rahmen einer Strukturreform des Schulsystems dann auf 13 Jahre ausgedehnt. So wurde die gemeinsame Grundschule eingeführt, die auf vier Jahre angelegt war und damit ein Jahr länger dauerte als die früheren Vorschulen der Mittelschulen und der höheren Schulen. Da diese aber ihr sechs- bzw. neunjähriges Programm nicht aufgeben wollten, dehnte sich die Schulzeit bis zum Abitur auf dreizehn Jahre aus. Dies wurde u.a. auch mit einem allgemeinen Verweis auf die insgesamt gestiegenen Qualifikationsanforderungen von Technik, Handel, Wirtschaft und Verwaltung im Kontext der Industrialisierung begründet. In der NS-Zeit wurde 1937 die Schulzeit in den Gymnasien wieder auf acht Jahre verkürzt, u.a. um so einen zusätzlichen Jahrgang von Offiziersanwärtern zu gewinnen. Die westdeutschen Länder knüpften nach 1945 an die Strukturen des gegliederten Weimarer Schulsystems und damit auch an die 13 Jahre bis zum Abitur an. Anders die Entwicklung im Osten Deutschlands: Hier wurde nach 1945 an den zwölf Jahren festgehalten und ein Schulsystem mit einer Einheitsschule etabliert. Dieses Nebeneinander der Modelle blieb nach 1990 bestehen, woraufhin die Kultusministerkonferenz die Dauer der Schulzeit bis zum Abitur über Schulstunden, und nicht mehr über Schuljahre definierte. Das heißt: Egal ob 12 oder 13 Jahre, bis zum Abitur leisten alle Schüler/-innen die gleiche Anzahl an Schulstunden ab.
Ab dem Jahrtausendwechsel kam es zu einer fast bundesweiten Ausdehnung der kürzeren Schulzeit an Gymnasien, die im Osten Deutschlands teils nicht aufgegeben worden (Thüringen, Sachsen) war bzw. schnell wieder eingeführt wurde. Im Westen war es das Saarland (2001), das die neue Struktur als erstes Land beschloss. Dies stand im Kontext einer Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog, der 1997 die langen Ausbildungszeiten in Deutschland stark kritisierte. So wollten auch die Länder Anschluss halten an international kürzere Ausbildungszeiten und damit Wettbewerbsfähigkeit in einer zunehmend globalisierten Welt sicherstellen. Ein früherer Einstieg in den Arbeitsmarkt sollte auch die sozialen Sicherungssysteme entlasten, die wegen des Bevölkerungsrückgangs mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen haben. Zudem wurde in der Diskussion u.a. das Argument angeführt, dass die längere Lernzeit – so die Wahrnehmung von G8-Befürworter/-innen – nicht hinreichend effektiv genutzt werde, u.a. aufgrund langer Orientierungs- und Wiederholungsphasen in der Schule. Auch zeigten sich bei der damaligen TIMSS-Oberstufenstudie bei den Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften keine substanziellen Unterschiede zwischen acht- und neunjährigen Systemen. In der Folge hat sich bundesweit kein einheitliches G8-Modell etabliert. Entweder wurde die Sekundarstufe I oder die gymnasiale Oberstufe gekürzt, was teils zu Schwierigkeiten beim Wechsel von anderen Schulformen in das Gymnasium führt. Das Unterrichtsvolumen wurde vor allem in der Mittelstufe gesteigert; zugleich wurde nicht selten in Fächern wie Kunst, Musik und Sport deutlich gekürzt.
Gymnasien haben den größten Jahrgangsanteil
In vielen Bundesländern gibt es mit Gesamtschulen und neuen Schulen gemeinsamen Lernens (u.a. Gemeinschafts- und Sekundarschulen) sowie beruflichen Schulen auch alternative Wege zum sogenannten Turboabitur. Diese Schulformen haben sich insbesondere für Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status (u.a. gemessen an den Bildungsabschlüssen und der beruflichen Stellung der Eltern) als Motor für mehr soziale Öffnung auf dem Weg zum Abitur abseits des sozial selektiveren Gymnasiums erwiesen. Zugleich ist an den Gymnasien der Anteil der Jugendlichen aus Familien mit hohem Status zwischen 2000 und 2012 von 56 Prozent auf 69 Prozent weiter deutlich gestiegen, bei den Jugendlichen mit niedrigem Status hat er sich von nur 10 Prozent auf 15 Prozent im selben Zeitraum erhöht, wie aus dem Externer Link: aktuellen Bildungsbericht (S. 258) auf Basis von PISA-Daten hervorgeht. Das Gymnasium hat sich also insbesondere für bestimmte Familien als Königsweg zum Abitur weiter etabliert, ist aber auch insgesamt die Schulform, die mittlerweile mit 34 Prozent bundesweit den größten Jahrgangsanteil an sich bindet (zum Vergleich: 23 Prozent an Realschulen, 12 Prozent an Hauptschulen, 16 Prozent an Gesamtschulen, 11 Prozent an Schulen mit mehreren Bildungsgängen ). Insofern ist es angesichts der weiterhin gewachsenen quantitativen Bedeutung nicht verwunderlich, dass es eine große Aufmerksamkeit von Eltern (insbesondere höherer Statusgruppen) für das Gymnasium und seine zeitliche Struktur gibt.
Vor allem mit den ersten doppelten Abiturjahrgängen zwischen 2011 und 2013 setzte im Westen Deutschlands eine stark von Elterninitiativen angestoßene Debatte um G8 ein, vermutlich auch, weil die Einführung von G8 – anders als im Osten mit einer langen G8-Tradition – schnell und dadurch eher planlos erfolgte. Anpassungen, z.B. der Lehrpläne, wurden zumeist erst spät vorgenommen. Die Kritik richtet sich auf die Qualität des Lernens: Ein oberflächliches Lernen, fehlende Vertiefungs-/Reflexionsmöglichkeiten, fehlende Zeit für die Persönlichkeitsentwicklung sowie die Studien-/Berufsorientierung und letztlich ein Qualitätsverlust des Abiturs wurden und werden befürchtet. Diese Kritik ist auch von Hochschulleitungen zu hören. Hinzu kommen ein wahrgenommener größerer Leistungsdruck, weniger Freizeit und mehr Belastungen für das Familienleben, da G8 vor allem leistungsstarke Schüler/-innen anspreche. Die größere Anzahl an Gymnasiastinnen und Gymnasiasten hat dabei dazu geführt, dass die schulischen Leistungen auch an den Gymnasien sehr heterogen geworden sind.
Einige Länder (u.a. Baden-Württemberg, Hessen) haben daraufhin in den vergangenen Jahren unterschiedliche G8-/G9-Wahloptionen eingeführt bzw. kehren nun ganz oder überwiegend zu G9 zurück (als erstes Land hatte Niedersachsen dies 2014 verkündet); teils sind es Entscheidungen derselben Parteien, die vormals für die Verkürzung votierten. Damit werden, wie zuletzt in NRW, vor allem auch entsprechende Wahlkampf-Ankündigungen realisiert. Evidenzbasiert waren die Entscheidungen nicht, zumal die Einführung von G8 nicht systematisch wissenschaftlich begleitet wurde.
Eine Reform der Reform wird teuer
Mittlerweile gibt es einige Untersuchungen, z.B. zu den doppelten Abiturjahrgängen, auf Basis von Klassenwiederholerquoten, Abitur-Duchfallquoten und -Durchschnittsnoten, Ergebnissen von Einstufungstests für Studienfächer, Klausurnoten im Studium sowie zur wahrgenommenen Belastung und zur Freizeitgestaltung (vgl. zusammenfassend z.B. Externer Link: DIW Roundup 2015 und die Externer Link: Expertise von Köller 2017). Dabei zeigen sich mehrheitlich keine grundsätzlichen und keine konsistenten Unterschiede zwischen G8- und G9-Schüler/-innen hinsichtlich Lernerfolg und Freizeitverhalten – die Befunde variieren u.a. nach Land, Schulform, Einzelschule, Kursniveau, Fach und Geschlecht. Im Ergebnis sind die Abiturient/-innen im Vergleich zu früher vor allem eins: jünger, auch wenn sie im internationalen Vergleich weiterhin eher alt sind und Deutschland mit der kürzeren Schulzeit keine Sonderrolle einnimmt. So zeigt Köller (2017, ebd.) anhand von OECD-Daten im Vergleich der Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für das Referenzjahr 2014, dass die Absolventinnen und Absolventen in 20 Ländern jünger als die Abiturient/-innen in Deutschland sind (in sieben Ländern sind sie 17 Jahre alt, in 13 Ländern 18 Jahre), kein Unterschied zeigt sich bei zehn Ländern und in vier Ländern sind sie älter.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die G8-Reform offensichtlich keinen besonders negativen, aber auch keinen großen positiven Effekt hatte. Die Kosten einer Reform der Reform dürften gleichwohl immens sein. In Bayern geht man von etwa einer halben Milliarde Euro aus, in NRW von noch deutlich höheren Kosten, vor allem für zusätzliche Lehrerstellen (bei zugleich aktuellem Lehrer/-innenmangel), Schulraum und neue Schulbücher. Die geplante Umstrukturierung trifft die Schulen in Zeiten von Inklusion und der Aufgabe der Integration neuzugewanderter Kinder und Jugendlicher. Auch der weitere Ausbau der Ganztagsschulen und die Nachholbedarfe im Kontext der Digitalisierung sind mit ganz erheblichen Aufwendungen verbunden. Fraglich bleibt, ob diese enormen Aufgaben gleichermaßen gut von politischer und schulischer Seite bewältigt werden können.