Neue Technik dringt unaufhörlich in unseren Alltag ein: Während Erfindungen wie z.B. die Eisenbahn, das Auto und sogar das Telefon noch Jahrzehnte brauchten, um sich flächendeckend durchzusetzen und selbstverständliche Bestandteile des Arbeits- und Privatlebens zu werden, schafften es der Computer und das Internet in wesentlich kürzerer Zeit. Das erste Smartphone für das breite Publikum, das iPhone 2G, kam gerade einmal vor zehn Jahren auf den Markt. Heute sind Smartphones aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Der technische Wandel beschleunigt sich und mit ihm der dadurch ausgelöste soziale Wandel.
Technischer Sachzwang?
Moderne Gesellschaften scheinen von technischen Neuerungen getrieben zu sein: Man kann sich ihnen kaum noch entziehen, sondern erlebt sie als eine Art Sachzwang, der uns beherrscht und uns diktiert, wie wir sie zu nutzen haben. Und Unternehmen sind regelrecht gezwungen, das enorme Tempo des technologischen Wettrüstens mitzuhalten, das unaufhörlich innovative Produkte generiert.
So richtig diese Wahrnehmung auf den ersten Blick erscheint, so verkürzt ist sie, wenn man genauer hinschaut. Neue Technik fällt nicht vom Himmel, sondern wird von Menschen gemacht. Früher von heroischen Erfindern wie Thomas A. Edison oder Werner von Siemens, heute eher von Netzwerken und von Organisationen, die der Technik eine spezifische Prägung geben – beispielsweise das Netzwerk europäischer Flugzeughersteller, das seit den 1960er Jahren gemeinsam den Airbus entwickelt und produziert. Zu jeder Innovation gab und gibt es immer Alternativen; und die Entscheidung, welche dieser Alternativen sich letztlich durchsetzt folgt keiner technischen, sondern einer sozialen Logik.
Soziale Konstruktion von Technik
Ein gutes Beispiel für diese soziale Logik ist die Geschichte des Elektroautos: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Elektromotor Externer Link: die meistverbreitete Antriebsform, bis er vom Verbrennungsmotor verdrängt wurde. Rein technisch sprach viel für den Elektromotor. Es gab hinreichend technische Expertise und industrielles Know-how in der aufstrebenden Elektroindustrie. Trotzdem setzte eine Allianz unterschiedlicher Interessengruppen schließlich den Verbrennungsmotor durch. Neben den wohlhabenden Städtern, die das Auto für Vergnügungstouren nutzten, profitierten vor allem Landwirte und Landärzte von der mobilen Kraftquelle. Hinzu kamen regulatorische Maßnahmen, die die Straße zur „Rennstrecke“ umdefinierten. Wo man zuvor flanierte, raste nunmehr die Straßenbahn – und machte damit ungewollt den Weg für ihren ärgsten Konkurrenten frei: das Auto.
Durch diese Schlüsselentscheidungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ein sozio-technischer Pfad angelegt, der sich schrittweise verfestigt hat. Das große Beharrungsvermögen dieses Pfades war jedoch kein Naturgesetz, sondern wurde immer wieder „sozial konstruiert“, also durch Entscheidungen zementiert. In den Nachkriegsjahren wurden beispielsweise die deutschen Autobahnen auf Kosten der Bahn ausgebaut, deren Vermögen dafür „geplündert“ wurde. Man hätte die Weichen damals auch anders stellen und beispielsweise das Bahnnetz ausbauen können.
Heute erleben wir eine Renaissance des Elektroautos, das als ein Baustein einer nachhaltigen Verkehrswende betrachtet wird. Scheinbar versteinerte Pfade können also aufgebrochen werden, wenn die von ihnen erzeugten Probleme dazu führen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz sinkt und wichtige Akteursgruppen ihre Unterstützung entziehen. Noch ist der Verbrennungsmotor dem Elektromotor in etlichen Punkten überlegen; aber wir sind nicht mehr davon überzeugt, dass er in der Lage sein wird, die drängenden Zukunftsprobleme in den Bereichen Umwelt, Energie oder Verkehr zu lösen.
Und so entstehen Alternativen, die das Potenzial haben, den Verbrennungsmotor abzulösen – vorausgesetzt, sie können sich auf ein breites Netzwerk starker Akteure stützen. Welche dieser Alternativen sich im Bereich Mobilität und Verkehr langfristig durchsetzen wird und welche Rolle dabei der Elektromotor spielen wird, ist noch offen. Wir befinden uns zurzeit in der „Phase der Fermentation“, in der das alte Mobilitäts-Regime schrittweise erodiert und neue Optionen (wie z.B. CarSharing) experimentell erprobt werden, aus denen sich auf längere Sicht ein neues Mobillitäts-Regime entwickeln könnte.
Technikfolgenabschätzung - ein Blick in die Zukunft
Wie das Beispiel zeigt, lenkt die Techniksoziologie den Blick auf die sozialen Prozesse der Technikkonstruktion und trägt so zu einem vertieften Verständnis der Wechselwirkung von Technik und Gesellschaft bei. Zudem zeigt sie Gestaltungsoptionen auf. Es macht Sinn, bereits im frühen Stadium technischer Innovationen intensiv über mögliche gesellschaftliche Folgen von Technik nachzudenken. Hier setzt die Technikfolgenabschätzung an: Sie entwickelt – unter Beteiligung von Experten und Laien – Zukunftsszenarien und versucht, mögliche Chancen und Risiken neuer Technik zu antizipieren (etwa das Recycling-Problem der Batterien von Elektroautos). Auf diese Weise werden Szenarien ausgelotet, die sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stützen und dazu beitragen, denkbare Risiken bereits vor der flächendeckenden Verbreitung einer neuen Technik zu identifizieren und Strategien zu deren Vermeidung zu entwickeln.
Aufgrund negativer Erfahrungen der Vergangenheit (z.B. Atomkraft) haben wir gelernt, dass es wenig Sinn macht, den Verheißungen der Technikentwickler blind zu trauen und blauäugig immer wieder auf den nächsten technischen Trend aufzuspringen. Moderne Gesellschaften haben Verfahren entwickelt, mit Technikentwicklung behutsam umzugehen und die Menschen nicht zu überfordern. Es gehört mittlerweile zum Standard, sozio-technische Transformationsprozesse (wie im Fall der Digitalisierung der Gesellschaft) durch öffentlich geförderte wissenschaftliche Begleitforschung von Beginn an kritisch zu reflektieren.
Wenn wir diese Verfahren der Technikfolgenabschätzung beispielsweise beim Elektroauto, aber auch beim autonomen Auto systematisch anwenden, können wir dafür sorgen, dass künftige Innovationen ein Segen und kein Fluch für die Menschheit werden.