Für Industrieunternehmen gibt es häufig starke Anreize, Einfluss auf wissenschaftliche Ergebnisse zu nehmen, also Lobbyismus in der Forschung zu betreiben. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Tabakindustrie: Jahrzehntelang finanzierte man Forschung, die die gewünschten Ergebnisse produzierte. Scheinbar unabhängige Forscher/-innen kamen in ihren manipulierten "wissenschaftlichen" Studien zu dem Ergebnis, dass Rauchen oder Passivrauchen nicht oder kaum gesundheitsschädigend sei. Solche Studien verhinderten über Jahre hinweg Gesetze zum Schutz von Nichtraucher/-innen. So sagte der Direktor des Schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit 2008: "Solange ernst zu nehmende Wissenschaftler Zweifel an der Datenlage von Studien zur Schädlichkeit des Passivrauchens formulierten, war an gesetzliche Bestimmungen nicht zu denken." Diese Vorgehensweise brachte der Tabakindustrie laut Angaben des US-Justizministeriums von 1954 bis 2004, inklusive Zins und Zinseszins, Externer Link: ca. 742 Mrd. US-Dollar Zusatzgewinne ein. Die damalige Clinton-Administration klagte, u.a. gegen die Tabakkonzerne Philip Morris, R.J. Reynolds, British American Tobacco, Lorillard und Liggett, auf Schadensersatz. Der Prozess offenbarte, wie die Verbraucher/-innen über Jahrzehnte systematisch über die Gefahren des Rauchens getäuscht wurden.
Erkaufte Glaubwürdigkeit durch scheinbar unabhängige Wissenschaft
Ähnliche Fälle wurden auch in anderen Branchen bekannt: Durch die Chemieindustrie finanzierte Studien, die die Schädlichkeit von Dioxin bestritten, von der Pharmaindustrie finanzierte Medikamentenstudien, die die Wirksamkeit von Medikamenten erwiesen, von der Gentechnikindustrie finanzierte Studien, die die Bedenkenlosigkeit von genveränderten Lebensmitteln aufzeigten usw. Scheinbar unabhängige Forschung wird so häufig zu Marketingzwecken missbraucht.
Das Grundprinzip dabei ist einfach: Die Industrie versucht, den Ruf unabhängiger Universitäten für eigene Zwecke zu nutzen. Veröffentlicht ein/-e Konzernmitarbeiter/-in eine Studie, so wird diese weit kritischer von Medien, Politiker/-innen und Bevölkerung beurteilt, als eine scheinbar unabhängige Studie eines/einer scheinbar unabhängigen Forscher/-in an einer unabhängigen Hochschule. Zum Beispiel würde eine Studie von Coca Cola, die belegt, dass zuckerhaltige Softgetränke gar nicht so ungesund sind, sicherlich weit kritischer hinterfragt als eine ebensolche Studie, die von scheinbar unabhängigen, in Wirklichkeit jedoch von Coca Cola finanzierten Wissenschaftlern einer renommierten Universität erstellt wurde, Externer Link: was beispielsweise 2008 tatsächlich geschah.
Der Strom an Industriegeldern, der in unsere Hochschulen fließt, Externer Link: nimmt seit Jahren stetig zu. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass Unternehmen keine Wohltätigkeitsvereine sind, sondern Geld im Normalfall nur ausgeben, wenn es sich lohnt. Auf der anderen Seite sind Hochschulen und einzelne Forscher/-innen häufig auf Industriemittel angewiesen. Zum einen stieg die staatliche Grundfinanzierung der Hochschulen in den letzten Jahrzehnten, gemessen an den erwarteten Forschungsleistungen, in den Augen vieler Hochschulrektor/-innen zu schwach an, so dass Drittmittel, auch solche aus der Industrie, häufig willkommen sind. Für einzelne Forscher/-innen kann die Annahme von Industriemitteln zum anderen auch attraktiv sein, weil diese die eigenen Forschungsspielräume erweitern oder Karrierechancen eröffnen.
Um einseitiger Einflussnahme von Industrieseite vorzubeugen, gibt es Externer Link: Empfehlungen für die Einrichtung von Stiftungsprofessuren durch private Förderer vom industrienahen Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Diese sehen vor, dass Unabhängigkeit, Freiheit von Forschung und Lehre, Transparenz, Schriftform und Verzicht auf Beeinflussung gewährleistet sein sollen. An die Empfehlungen des Verbandes sind die Hochschulen allerdings nicht gebunden.
Die direkte Finanzierung ist jedoch nur eine Möglichkeit, Einfluss auf die Forschung zu nehmen. Eine andere Form des Wissenschaftslobbyismus erweist sich als weitaus problematischer.
Industrieeinfluss auf Forschung mit Staatsgeldern
Die öffentliche Hand, also beispielsweise die Bundesregierung oder die EU, stellt große Beträge für Forschung bereit – im Rahmen der Hightech-Strategie von 2006 bis 2013 zum Beispiel insgesamt 29 Milliarden Euro. Das 8. Rahmenprogramm der EU von 2014 bis 2020, in dem die Schwerpunkte der geplanten Forschungsförderung festgelegt werden, verfügt über insgesamt etwa 80 Milliarden Euro Forschungsgelder. Die deutschen Forschungsmittel verteilt im Wesentlichen das BMBF, das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Wer entscheidet darüber, in welche Forschungsprojekte diese Mittel gesteckt werden? Wer legt die Forschungsagenden fest und setzt damit die Rahmenbedingungen für die Forscher/-innen, die sich am Ende um diese Mittel im Rahmen von Drittmittelprojekten bewerben?
Über die etwa 11 Mrd. Euro, die im Rahmen der Hightech-Strategie für das Jahr 2014 vergeben werden sollten, entschieden im Wesentlichen zwei Gremien: Der so genannte Externer Link: Innovationsdialog und die so genannte Externer Link: Forschungsunion.
Von Bedeutung ist dabei die Zusammensetzung der außeruniversitären Vertreter/-innen, da diese allgemeingesellschaftliche Aspekte bzw. Interessen von außen einbringen können. In beiden Entscheidungsgremien kommen die außeruniversitären Vertreter/-innen praktisch ausschließlich aus der Industrie. Zivilgesellschaftliche Vertreter/-innen oder NGOs spielen darin nur eine untergeordnete Rolle. Insbesondere sucht man dort vergeblich nach Vertreter/-innen von Umweltschutzverbänden, so dass in diesen beiden Gremien starke einseitige Einflussnahme durch Industrievertreter möglich ist – unter Ausschluss anderer gesellschaftlicher Fragestellungen.
So wird beispielsweise bei den Forschungsagenden bevorzugt auf Produktinnovation und Technikentwicklung gesetzt, die häufig direkt von der Industrie genutzt werden können, während etwa auf sozial-ökologische Forschungsprojekte in der Vergangenheit nur etwas mehr als 1 Promille aller Forschungsmittel entfiel. Ähnlich verhält es sich auf europäischer Ebene. Auch dort dominiert die Interessenvertretung der Industrie in den relevanten Entscheidungsgremien. Nach Externer Link: Aussage des europäischen Verbraucherschutzverbandes BEUC werden die Kosten der Forschung dadurch sozialisiert, der Nutzen aber zu Gunsten der Industrie privatisiert. So findet auf höchster Ebene Lobbyismus in der Forschung statt, zu Gunsten der Unternehmensgewinne und nicht zwingend zum Vorteil der Bürger/-innen.
Gleichmäßigere Repräsentation und stärkere staatliche Förderung
Im Ergebnis zeigt sich, dass über Industrielobbyismus von zwei Seiten her, durch direkte Zahlungen an Hochschulen und Hochschulforscher/-innen sowie durch Einflussnahme auf staatliche Forschungsförderung "gekaufte Tatsachen" in unserer Wissenslandschaft eine immer größere Rolle spielen. Viele, aber nicht alle Forscher/-innen, beklagen diesen Trend.
Man könnte diesen Entwicklungen Einhalt gebieten, indem man die Grundfinanzierung der Hochschulen verbessert. Die Bundesregierung könnte zum Beispiel 1,4 Mrd. Euro, in etwa die Summe, die jährlich in Form von Stiftungsprofessuren und anderen Zuwendungen von der Wirtschaft an die Hochschulen fließt, umwidmen und sie direkt an die Hochschulen überweisen. Das ist weniger als 15 Prozent der jährlich für die Hightech-Strategie ausgegebenen Mittel. Dieser Betrag würde also ausreichen, um sämtliche direkte Geldzuflüsse aus der Industrie an Hochschulen und die damit verbundenen Einflussmöglichkeiten einzustellen. Zum anderen sollten in den Gremien, die über öffentliche Mittel entscheiden, beispielsweise in Ministerien oder in Hochschulräten, die außerakademischen Vertreter/-innen nicht ausschließlich oder überwiegend aus der Industrie kommen, sondern möglichst viele Teile der Gesellschaft repräsentieren, sodass statt einseitiger Industrieinteressen die Interessen der Gesamtgesellschaft stärker abgebildet werden.