Die moderne Debatte um Sterbehilfe oder Euthanasie ist inzwischen mehr als hundert Jahre alt. Bereits 1895 beklagte der Psychologe Alfred Jost, dass der Staat von seinen Bürgern im Krieg die Bereitschaft zu sterben abverlangt, ein individuelles "Recht auf den Tod" aber nicht anerkennt. Jost ging es sowohl um die Legitimität der Selbsttötung im Falle unheilbarer Krankheit, als auch um die Frage, ob bestimmten Menschengruppen wie den so genannten "Geisteskranken" ein eigener "Lebenswerth" überhaupt zugestanden werden kann und sollte. Euthanasie heißt wörtlich: glücklicher, ehrenhafter oder auch guter Tod. In der Regel wird mit Euthanasie die sog. Tötung auf Verlangen bzw. aktive Sterbehilfe bezeichnet, von der die passive oder indirekte Sterbehilfe (durch Medikation bzw. Unterlassen medizinischer Behandlung) abgegrenzt wird. Dass das Ideal des "guten" – leidfreien, selbstbestimmten – Todes und eine im Interesse der Allgemeinheit geforderte Aufweichung des gesellschaftlichen Tötungsverbots oftmals nahtlos ineinander übergehen, zeigt sich exemplarisch nicht nur im Text von Alfred Jost. Vielmehr spielen beide Dimensionen in der Debatte um Sterbehilfe bis heute eine zentrale Rolle.
"Lebens(un-)wertes" Leben
Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs gewinnt vor allem die zweite Dimension, die Frage nach dem "Lebenswert" an Bedeutung. Die Erfahrung des – historisch in diesem Ausmaß bis dato unbekannten – Massensterbens lässt die Heiligkeit des menschlichen Lebens fraglich werden. Hunger und Elend der Nachkriegsjahre und die katastrophale Situation der öffentlichen Versorgungs- und Heilanstalten tun ihr Übriges dazu, um die Infragestellung der Verteilung spärlicher öffentlicher Ressourcen an unheilbar Kranke im Namen der Gesunden und Leistungsfähigen moralisch zu legitimieren. 1922 veröffentlichen der Jurist Karl Binding und der Arzt Alfred Hoche ihre Streitschrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", welche nicht nur die Debatte um Eugenik und Euthanasie während der 1920er Jahre befeuert, sondern auch dem späteren NS-Euthanasieprogramm eine zentrale programmatische Grundlage liefert. Binding und Hoche finden für ihr Anliegen deutliche Worte. Von "diesen leeren Menschenhülsen" ist in ihrem Text die Rede, von "Defektmenschen", "Schwächlingen" und "minderwertigen Elementen", von "Ballastexistenzen", "halben, Viertels- und Achtels-Kräften" – und immer wieder von "geistig Toten". Deren Leben zu beenden sei weder Tötung noch Mord, sondern eine "bewusste Abstoßung" oder schlicht "Beseitigung", die sich für die Gesellschaft moralisch wie ökonomisch rechne.
Die Forderung nach "Freigabe" findet in der Weimarer Republik zunächst keine große Resonanz und stößt – etwa auf Seiten der organisierten Ärzteschaft – auch auf deutliche Kritik. Der Plausibilität der Kategorie des "lebens(un-)werten Lebens" – auch über Wissenschaftskreise hinaus – tut diese Skepsis allerdings keinen Abbruch. Anfang der 1920er Jahre befragt der Anstaltsdirektor Ewald Meltzer, angeregt durch die Schrift von Binding/Hoche, Eltern und Vormünder behinderter Kinder. 73 Prozent der Antwortenden erklärten ihr grundsätzliches Einverständnis mit der hypothetischen Tötung der Kinder. Am krisengeschüttelten Ende des Jahrzehnts werden mehr und mehr Stimmen laut, die die aufwändige Versorgung psychiatrischer Patienten beklagen. In einem mit Ausnahme der KPD von allen Parteien getragenem Beschluss wird im preußischen Staatsrat 1932 eine beschleunigte Absenkung der Kosten für "die Pflege und Förderung der geistig Minderwertigen" gefordert. Der preußische Justizminister Kerrl plädiert in einer Denkschrift dafür, die staatlich angeordnete "so genannte ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens'" vom Tötungsverbot auszunehmen. Eine Legalisierung der "Tötung auf Verlangen" erwägt das NS-Regime ab 1938; zu einer Gesetzesänderung kommt es bis 1945 jedoch nicht.
Ab August 1939 installiert das NS-Regime dann die Zwangsregistrierung von sog. "missgestalteten" Neugeborenen; Ärzte und Hebammen werden bei Entlohnung von zwei Reichsmark pro Fall zur Meldung verpflichtet. Anfang Oktober 1939 verfasst Hitler ein geheimes Schreiben, in dem er Ärzte dazu ermächtigt, unheilbar Kranken den "Gnadentod" zu verschaffen. In der ersten Phase der so genannten Euthanasie-Aktion "T4" werden insgesamt mehr als 70.000 Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern durch Vergasung ermordet. Im August 1941 wird die Aktion T4 offiziell gestoppt. Die Krankenmorde hören jedoch nicht auf; in einigen Anstalten wie beispielsweise Hadamar werden Patienten noch bis Kriegsende mit Tabletten oder Injektionen "euthanasiert".
Die offizielle Einstellung des Euthanasie-Programms erfolgt nicht zuletzt in Reaktion auf eine u.a. durch die Protestrede von Bischof Clemens August Graf von Galen im August 1941 hervorgerufene zunehmende öffentliche Unruhe. Von einer allgemeinen und breiten Ablehnung des Euthanasie-Programms in der Bevölkerung kann dennoch nicht ausgegangen werden. Bemerkenswert ist aber, dass die Tötung von Kranken und Behinderten – anders als der organisierte Massenmord an den europäischen Juden – überhaupt auf nennenswerten Protest stieß und auch von Seiten des NS-Regimes als Projekt begriffen wurde, das besonderer propagandistischer Vermittlungsanstrengungen bedarf.
"Patientenautonomie am Lebensende"
Von einer gesellschaftlichen Debatte zum Thema Euthanasie/Sterbehilfe nach 1945 kann zunächst nicht die Rede sein. Erst vor dem Hintergrund neuer medizinischer Technologien und Todesdefinitionen – namentlich der Organtransplantation und dem Hirntod-Kriterium – entwickelt sich im Lauf der 1970er Jahre ein Diskurs mit neuem Akzent: Sterben erscheint jetzt als Übergang, der mit Hilfe biomedizinischer Techniken gestaltbar wird. Eine Reihe von Gerichtsurteilen verlagert seit den 1980er Jahren die juristische Debatte um die Grauzone Sterbehilfe von strafrechtlichen zu zivilrechtlichen Fragen. Dabei steht die Möglichkeit des Behandlungsabbruchs auf der Grundlage des geäußerten oder "mutmaßlichen" Willens der Patientin im Mittelpunkt. Einer als gefährlich empfundenen "Apparatemedizin", die um jeden Preis Sterben verhindern und Leben verlängern will, wird das Konzept der "Patientenautonomie am Lebensende" gegenüber gestellt. Unter diesem Titel richtet die damalige Justizministerin Brigitte Zypries 2003 eine interdisziplinäre Experten-Arbeitsgruppe ein, die Grundlagen für einen Gesetz zur Regelung von Patientenverfügungen und Sterbehilfe erarbeiten soll. Seit 2009 ist das "Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts" in Kraft. Demnach müssen gesetzliche Betreuer/-innen dafür Sorge tragen, dass der in einer Patientenverfügung artikulierte oder aber mutmaßliche Willen einer Patientin über Abbruch oder Fortsetzung medizinischer Behandlungen befolgt wird, sofern diese ihren Willen nicht selbst artikulieren und durchsetzen kann. Dies gilt ausdrücklich auch dann, wenn sich der Patient (noch) nicht im Sterbeprozess befindet. Das ärztliche Tötungsverbot und die Maxime, Leben zu schützen und zu erhalten, ist damit nicht aufgehoben, wohl aber relativiert. Eben dieser Zusammenhang wurde und wird kontrovers diskutiert – in Bezug auf Patientenverfügungen ebenso wie in der aktuellen Debatte um den ärztlich assistierten Suizid.
So selbstverständlich man sich in einer liberalen Gesellschaft auch auf (Patienten-)Autonomie berufen mag – die mit dem Lebensende verbundenen Probleme und Fragen werden dadurch nicht unbedingt kleiner, wie nicht zuletzt ein Blick in die Niederlande zeigt. Seit 2002 ist dort die so genannte aktive Sterbehilfe legalisiert, und anders als in Deutschland scheut man sich im Nachbarland nicht, in diesem Zusammenhang vom "schönen Tod", von "Euthanasie" zu sprechen – was nicht zuletzt daran liegt, dass "die Sterbehilfe in den Niederlanden ursprünglich ein emanzipatorisches Projekt der 68er-Bewegung" war. Zwar unterliegt die ärztlich assistierte Selbsttötung strengen Auflagen, so sollen sie etwa nur unheilbare, schwerstkranke Patienten in Anspruch nehmen können, die diese Entscheidung bewusst fällen. In der Praxis allerdings nehmen Sterbehilfe in den Niederlanden wie auch in Belgien zunehmend auch psychiatrische Patient/-innen oder Demenzkranke im Frühstadium in Anspruch; seit 2014 gilt in Belgien auch für Minderjährige das Recht zur Tötung auf Verlangen und in Einzelfällen wurde das Recht auf Sterbehilfe auch Lebensmüden zugesprochen. Zum anderen sehen sich Schwerkranke, wie der Journalist Gerbert van Loenen am Beispiel seines Lebensgefährten beschreibt, zunehmend mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert, ihr Leben "selbstbestimmt" und ärztlich assistiert zu beenden. Es sei das humanistische Ideal vom selbstbestimmten Leben bis zuletzt, das die Legitimation und Durchführung auch unverlangter Tötung erleichtert – immerhin handelt es sich hierbei in den Niederlanden laut van Loenen um 300 bis 1000 Fälle pro Jahr. Wo "jeder sich entwickeln darf" und erwartet wird, "dass jeder sich bildet, dass jeder morgen mehr kann als heute", gerät das Leben etwa von Demenzpatienten oder Schwerstpflegebedürftigen – nicht nur in den Niederlanden – potenziell in eine Zone individueller Unwünschbarkeit. Zugespitzt formuliert, wird Josts alte Frage nach dem "Recht auf den Tod" in der Gegenwartsgesellschaft also neu formuliert: als Frage nach dem Recht der Einzelnen auf ein krankenkassenfinanziertes, juristisch einwandfreies und ärztlich-professionell organisiertes Ableben für den Fall, dass die eigene Lebenswirklichkeit dem gesellschaftlichen Ideal lebenslanger Autonomie und Eigenverantwortung nicht mehr standhält.
Alte und neue Debatte
Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf die mehr als hundertjährige moderne Debatte um Euthanasie und Sterbehilfe zweierlei festhalten:
Erstens kann von einer bruchlosen historischen Kontinuität einer in sich stabilen "Euthanasie-Logik" seit Beginn des 20. Jahrhunderts keine Rede sein. Erst recht wäre es falsch, zwischen heutigen Sterbehilfedebatten und der NS-Euthanasie eine direkte Verbindungslinie zu ziehen. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierende ebenso ökonomische wie eliminatorische Wertbestimmung menschlichen Lebens folgt nicht nur im Ausmaß der Gewalt, sondern auch konzeptionell einer anderen Logik als die heutige Problematisierung von Patientenautonomie und Selbstbestimmung "bis zuletzt": Weniger um einen vermeintlich objektiv messbaren Lebenswert geht es der gegenwärtigen Debatte um eine subjektiv kalkulierbare Lebensqualität.
Zweitens, und nicht in Widerspruch dazu, lässt sich allerdings fragen, welche implizite "soziale Moral" auch das aktuelle Ideal des "guten", weil selbstbestimmten, schmerzfreien und pflegeleichten Todes enthält. Die Idee vom Tod als Schlusspunkt eines rational durchkalkulierten Lebens, als wählbare "Leistung", die einerseits wohlfahrtsstaatlich garantiert sein soll, reduziert die komplexe Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Sterben und Tod auf die individuelle Entscheidung für einen Behandlungsabbruch oder Sterbehilfe. In Zeiten ökonomisierter Gesundheitssysteme und zunehmender Altersarmut sind solche Vereinfachungen in jedem Fall fragwürdig – auch wenn sie nicht im Namen des "(un-)werten Lebens", sondern im Zeichen von Selbstbestimmung und Autonomie vorgenommen werden.