Im April 1984 stellte Julius Hackethal seiner krebskranken Patientin Hermine E. Zyankali zur Verfügung, um sich zu töten. 1990 setzte der US-amerikanische Pathologe Jack Kevorkian zum ersten Mal seine Selbsttötungsapparatur ein, bei der sich eine tödliche Injektion auf Knopfdruck seiner Patientin Janet A., einer 54 Jahren alten Frau mit Alzheimer, auslöste. Heute sind es der Ex-Justizsenator Roger Kusch in Hamburg, der die Apparatur von Kevorkian wieder entdeckt hat und damit Schlagzeilen macht, und der Berliner Arzt Uwe-Christian Arnold, der sich rühmt, bei etwa 200 Patienten in ganz Deutschland Suizidassistenz geleistet zu haben.
Damals wie heute verlassen die Akteure ihre Klienten nach der selbst ausgelösten Spritze oder der Medikamenteneinnahme. Also gerade dann, wenn diese wirklich Begleitung bräuchten. Dies tun sie, um nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt zu kommen. Denn das erlaubt zwar die Beihilfe des Besorgens und Bereitstellens tödlicher Medikamente, schreibt aber die Hilfeverpflichtung bei Lebensgefahr vor. Die Musterberufsordnung der Ärzte sieht das restriktiver: danach ist dem Arzt auch die Beihilfe untersagt. Nicht alle Landesärztekammern haben das in dieser Form übernommen. Die aktuell diskutierte Gesetzesregelung soll nun die Beihilfe zur Selbsttötung explizit erlauben, um so die Menschenwürde, Freiheit und Selbstbestimmung “Sterbewilliger“, wie die Befürworter sagen, zu wahren. Es gibt kein unwürdiges Leben, sondern nur unwürdige Lebensumstände.
Zunächst zur Würde: Dem ehemaligen MDR Intendanten Udo Reiter, der Suizidbeihilfe für sich gefordert hatte, weil er es unwürdig fand, als Pflegefall zu enden, der „gewaschen, frisiert und abgeputzt“ werden müsse, Externer Link: antwortete Franz Müntefering: „Die Würde des Menschen hat nichts zu tun damit, ob er sich selbst den Hintern abputzen kann.“ Und er setzte hinzu: "Es gibt Menschen, die können das nie – leben diese ohne Würde?“
Eine alte Pflegeweisheit sagt: es gibt kein unwürdiges Leben, sondern nur unwürdige Lebensumstände. Und es ist jeweils an uns anderen, diese besser zu gestalten. Natürlich kann sich ein Mensch, insbesondere unter den Bedingungen von Krankheit und Alter, elend fühlen und Suizidwünsche haben, insbesondere wenn Schmerzen, Einsamkeit und Isolation drohen. Deshalb aber den Suizid zu befürworten ist zynisch. Oder wie Müntefering sagte: „Hier soll aus der Angst vor dem unsicheren Leben ein sicheres Ende gesucht und der präventive Tod zur Mode der angeblich Lebensklügsten gemacht werden“. Ein Wort zur Freiheit: aus der Suizidforschung wissen wir, dass die überwiegende Zahl der Suizidversuche Folge von psychischer und sozialer Not sind. Es geht fast immer um Verzweiflungsreaktionen auf ein schwerwiegendes Ereignis oder eine soziale Notsituation, der eine Einengung des Denkens und des Handelns folgt. Der Wunsch aus dem Leben zu scheiden heißt nicht, ich will sterben, sondern ich will so nicht mehr leben. Hieraus begründen sich ethisch alle Versuche und Handlungen, Suizidenten zu helfen, einen anderen Weg als den der Selbsttötung zu finden. Die klassische Aufteilung in sogenannte Appell-Suizide oder Suizidversuche in Überlastungs- und Schocksituationen oder psychischen Krisen und sogenannten Bilanz-Suiziden aufgrund einer überlegten, quasi vernünftigen Lebensbilanz wird in der Fachdebatte immer mehr in Frage gestellt. Jede Selbsttötung, auch die in größter seelischer Not, hat einen Anteil von Bilanzierung, und keiner der noch so vernünftig erscheinenden Bilanzsuizide ist wirklich frei.
Wer bestimmt über „Selbstbestimmung“?
Die Befürworter der Suizidassistenz möchten uns dagegen glauben machen, dass der Suizid Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmung ist. Wie bitte soll aber vor dem Hintergrund der Erkenntnislage der Suizidforschung zwischen Appell und Bilanz, zwischen Notruf, Einengung und Freiheit unterschieden werden? Wer kann das entscheiden und wer will das entscheiden und dann auch entsprechend handeln? Müssen wir dann nicht einen Kriterienkatalog einführen, der erklärt wie man einen „vernünftigen“ und „unvernünftigen“ Suizid erkennt? Das hat nichts damit zu tun, dass es in absoluten Ausnahmefällen Situationen gibt, in denen ein Suizid überlegt oder zumindest unvermeidbar erscheinen kann und alle Versuche der Ermutigung und des Zurückfindens in das Leben gescheitert sind. Wenn ein Arzt in solchen Fällen – weniger als Arzt, sondern eher als Freund eines Menschen, den er lange kennt – dann unter Umständen Suizidbeihilfe ausübt, ist dies meiner Ansicht nach nicht in jedem Falle moralisch zu verurteilen.
Die Befürworter betonen immer wieder, dass viele Ärzte oder auch Pflegende schon nach Suizidbeihilfe in bestimmten Fällen gefragt worden sind. Stimmt. Das heißt aber nur, dass Suizidwünsche bei schwererkrankten und auch bei alten Menschen durchaus nicht ungewöhnlich sind. Alle, die aber jemals so etwas gefragt worden sind, können auch bezeugen, welche Gewissensfragen damit ausgelöst werden. Es ist nämlich keinesfalls so wie die Suizidbefürworter uns glauben machen wollen, dass der Assistent sich allein aufgrund des selbstbestimmten Wunsches des Suizidenten von seiner eigenen Verantwortung frei machen könnte. Er ist es, der entscheidet ob der Wunsch ernsthaft ist, wie die Situation des Suizids gestaltet wird, welches Mittel wie dosiert wird und ob auch wirklich vorher alle anderen alternativen Wege abgefragt oder versucht worden sind. Dies kann und darf niemals ärztliche Aufgabe sein.
Ein Gesetz, das organisierte Suizidbeihilfe erlaubt, kann und darf es niemals geben
Diese rote Linie steht mit Recht in den Grundsätzen der Deutschen Ärztekammer. Eine gesetzliche Regelung, die Suizidbeihilfe zur wählbaren ärztlichen Leistung neben Heilung (Kuration) und Linderung (Palliation) macht, wie es die Befürworter fordern, womöglich von den Krankenkassen finanziert, qualitätsgesichert und evidenzbasiert, kann und darf es niemals geben. Die Formulierung der Musterberufsordnung der Ärzte „ein Arzt darf an der Selbsttötung eines Patienten nicht mitwirken“ muss dagegen kritisch gesehen werden, weil damit nicht nur Fragen der Kontrollen und Sanktionierungen verbunden sind, sondern auch der oben skizzierte Notfall negiert und unter ein berufsrechtliches Verbot fallen würde.
Strategisch denkende Sterbehelfer räumen ein, dass die jetzige Diskussion um die Suizidbeihilfe nur ein Zwischenglied ist, weil die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe, der Tötung auf Verlangen, in Deutschland zumindest derzeit nicht durchsetzbar sei. Das sollte zu denken geben. Als es um die Patientenverfügung ging, argumentierten diejenigen, die keine Bindung des Abbruchs oder Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen an die Unumkehrbarkeit einer fortschreitenden Erkrankung wollten, damit, man müsse den Sterbehelfern etwas entgegenkommen. Heute haben wir die beständigen Ausweitungen im Bereich des Abbruchs oder der Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen auch bei nicht tödlich erkrankten Patienten durch Patientenverfügungen. Dennoch erleben wir jetzt eine Welle von Forderungen nach Suizidassistenz, der dann, wenn auch hier nachgegeben würde, sicherlich die Forderung der Legalisierung der Tötung auf Verlangen, also der aktiven Sterbehilfe folgen wird. Ein Argument wird sein, dass es Patienten gibt, die die Suizidhandlung nicht ausführen können, denen die Tötung aber aus Gleichbehandlungsgründen nicht verweigert werden könnte. Sehen wir die Dinge also in ihrem Zusammenhang: unter der Fahne der Selbstbestimmung und der Freiheit soll die Medizin ihre Mentalität ändern und neben dem Heilen auch das Töten etablieren.
In diesem Sinne wäre es ein großer Fortschritt, wenn der Bundestag tatsächlich den Weg geht, die organisierte und auf Wiederholung angelegte Suizidbeihilfe unter Strafe zu stellen. Ansonsten sollte er aber die jetzige Gesetzeslage so belassen und die nicht organisierte ärztliche Suizidbeihilfe weder bestrafen noch vollkommen freisprechen und damit Gewissensentscheidungen des Arztes in Notfällen – aber nur dann – weiterhin zu tolerieren.