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Das kontrollierte Selbst. Warum Überwachung uns allen schadet. | Überwachung, Tracking, Datenschutz | bpb.de

Das kontrollierte Selbst. Warum Überwachung uns allen schadet.

Jessica Heesen

/ 3 Minuten zu lesen

„Ich habe doch nichts zu verbergen“ – diesen Satz hört man häufig, wenn es um die Folgen staatlicher Überwachung geht. Dabei bedroht uferlose Kontrolle uns alle. Dr. Jessica Heesen von der Universität Tübingen erklärt, warum Überwachung die Demokratie und unser Dasein als Bürger_innen gefährdet.

Privatsphäre bedeutet nicht zwangsläufig nur Daten zu verbergen, sondern selbst bestimmen zu können, wann und wem gegenüber sie freigegeben werden. (© picture-alliance/dpa)

Wenn von Überwachung, Tracking, Datenspeicherung die Rede ist, dann ist oft zu hören: „Schadet nicht“, „Die Daten liegen ohnehin irgendwo vor“, „Ich habe nichts zu verbergen“. Solche Argumente verkennen: Grundsätzlich ist jede Erhebung von Daten rechtfertigungsbedürftig – nicht aber die Person muss sich rechtfertigen, bei der Daten erhoben werden. Es sind die Rechtsstaaten, welche die individuelle Freiheit jedes und jeder einzelnen verbürgen. Dazu gehört essentiell das Recht auf freie Kommunikation und Information, wie auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Rechte auf freien Informationsaustausch und die Kontrolle über die eigene Information hängen eng zusammen, denn sie betreffen die uns als Menschen kennzeichnende Fähigkeit, über Sprache Wirklichkeiten und Identitäten herzustellen. Die Freiheit dies zu tun, wird durch Überwachung in unterschiedlicher Weise in Frage gestellt.

Informationsasymmetrie und Intransparenz

Wenn Bürgerinnen und „Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“ (wie es im Externer Link: Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Volkszählung von 1983 heißt), dann ist das ein Zustand, der mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht vereinbar ist. Trotzdem haben viele der Nutzer_innen moderner Informationstechniken den Eindruck von Informationsasymmetrie (andere wissen mehr über mich als ich über sie) und Intransparenz (wer hat meine Daten und zu welchem Zweck?). Und selbst über diejenigen, die nicht unmittelbar mit Computern, Handys oder anderen Informations- und Kommunikationstechniken zu tun haben, werden digitale Daten erfasst, denn Informationstechniken bilden ein umfassendes System, das durch Kameraüberwachungen, Internetspionage, Behörden, Payback-Karten, Versicherungen und soziale Netze Einzug in unser Leben gehalten hat.

Disziplinierung durch Beobachtung

„Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen“ (Volkszählungsurteil). Das Unwissen über die mögliche Erfassung personenbezogener Daten kann ein Gefühl der Überwachung erzeugen. Aus der Überwachung wiederum können eine Veränderung und eine vorauseilende „Normalisierung“ des Verhaltens resultieren. Liberale Gesellschaftsordnungen aber schreiben dem Schutz von personenbezogenen Daten und Privatsphäre einen hohen Stellenwert zu. Zu Recht: Denn nur wenn wir uns frei von Beobachtung fühlen, setzt die Unbefangenheit des Verhaltens ein, die mit unserer Vorstellung von Handlungsfreiheit verbunden ist.

Selbstgestaltung durch Informationskontrolle und -freigabe

Das Management personenbezogener Daten bedeutet nicht nur, Daten zu verbergen, sondern ebenso, Daten bewusst als ein Mittel für die Herstellung einer persönlichen Identität frei zu geben. Der Schutz vor der unkontrollierbaren Freigabe von personenbezogener Information ist damit eine elementare Voraussetzung für die Ausbildung einer Ich-Identität. Also einer solchen Identität, die überhaupt erst in der Lage ist, sich selbst zu bestimmen und bestimmte Handlungsoptionen kritisch zu prüfen.

Gesellschaftliche Selbstorganisation

Nicht nur die individuelle Selbstbestimmung, sondern auch Prozesse der gesellschaftlichen Selbstbestimmung sind durch Überwachung in Frage gestellt. Überwachte Öffentlichkeiten können ihrer Aufgabe für die Kritik und Kontrolle des Staates nicht gerecht werden. Dieses Demokratiedefizit setzt sich fort auf Ebene einer elektronischen Überwachung nach der Maßgabe von intransparenten Auswahlkriterien und Algorithmen, die der öffentlichen Diskussion nicht ausgesetzt werden.

Autorin: Jessica Heesen

Jessica Heesen studierte Philosophie, Neuere deutsche Literaturwissenschaft, katholische Fundamentaltheologie und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Köln und Tübingen. Sie promovierte an der Universität Stuttgart und leitet die Nachwuchsforschungsgruppe Externer Link: Medienethik in interdisziplinärer Perspektive - Werte und sozialer Zusammenhalt in neuen öffentlichen Räumen am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen.

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