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Ein Tag als Wahlhelfer - eine Reportage | Themen | bpb.de

Ein Tag als Wahlhelfer - eine Reportage

/ 7 Minuten zu lesen

Ohne sie geht gar nichts – Wahlhelfer organisieren, überwachen und ermöglichen überhaupt erst demokratische Wahlen. Aber die Wenigsten wollen das "Sonntagsopfer" erbringen. Warum eigentlich? Ein Selbstversuch.

Damit niemand ihre Stimmabgabe beeinflussen kann, füllen die Wähler die Stimmzettel in den Wahlkabinen aus. (© picture-alliance/dpa)

Sonntag, kurz nach 22 Uhr. Wir treten auf die von Laternen erleuchtete Straße. Ich bin erschöpft und hungrig, stecke die 35 Euro in meine Hosentasche und blicke in die müden Augen meiner vier Mitstreiter. Kurz aber herzlich verabschieden wir uns, dann trennen sich unsere Wege, so schnell wie sie sich zehn Stunden zuvor gekreuzt haben. Was bleibt, ist ein gutes Gefühl. Und trotzdem: So habe ich mir mein erstes Mal nicht vorgestellt.

Sonntag ist Wahltag

Mein erstes Mal begann zwei Monate vorher eher unspektakulär: mit einem Online-Formular auf der Website des Bonner Wahlamtes. Drei Wochen später lag die Berufung zum Wahlhelfer für die Europawahl (und die gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen) in meinem Briefkasten. Als Beisitzer im Wahlvorstand eines zentrumsnahen Wahlbezirks werde ich mit dafür verantwortlich sein, dass die Wähler im Wahllokal frei und geheim ihre Stimme abgeben können – und das es am Ende ein korrektes Wahlergebnis gibt. Meine Arbeit beginnt erst am Wahltag selbst; an den Schulungen im Vorfeld der Wahl müssen nur die Wahlvorsteher und deren Stellvertretende teilnehmen.

So schlendere ich am Wahlsonntag zu meinem Wahllokal durch Bonn. Bereits seit acht Uhr sind die Wahllokale geöffnet. Ich wurde für die Spätschicht eingeteilt. Als ich halb eins im Wahllokal ankomme, sitzt die Hälfte meiner Kollegen bereits seit fünf Stunden an der Wahlurne.

Freiwillig oder zwangsverpflichtet

Was mich dazu bewogen hat, mich als Wahlhelfer zu melden, ist schwer zu sagen: eine Mischung aus persönlicher Neugierde und beruflichem Interesse – der Wunsch, einmal hinter die Kulissen unserer Demokratie zu blicken. Allerdings ist nicht jeder der Externer Link: mehr als 600.000 Wahlhelfer, die für eine bundesweite Wahl in Deutschland benötigt werden, freiwillig an seinem Platz.

Wahlhelfer ist in Deutschland ein verpflichtendes Ehrenamt: Melden sich im Vorfeld einer Wahl nicht genügend freiwillige Wahlhelfer, können die Wahlämter theoretisch jeden Wahlberechtigten dazu verpflichten. Fast schon routinemäßig klagen deutsche Wahlämter kurz vor Wahlen über tausende unbesetzte Wahlhelferstellen und starten Aufrufe in der örtlichen Presse. Wenn auch das nicht hilft, mobilisiert die öffentliche Verwaltung notgedrungen die eigenen Beamten und Angestellten. Mehr oder weniger zwangsverpflichtet, winkt ihnen im Gegenzug ein Tag Dienstbefreiung.

Wahlhelfer, das unbekannte Wesen

Wie hoch der Anteil an Wahlhelfern aus dem öffentlichen Dienst ist, lässt sich nur schätzen. Bundesweite Statistiken über Wahlhelfer gibt es nicht, auch die meisten Kommunen werten ihre Wahlhelferlisten nicht aus. Trotzdem lassen sich Tendenzen ausmachen: In Köln war zur Bundestagswahl 2013 rund ein Drittel aller Wahlhelfer im öffentlichen Dienst beschäftigt, gefolgt von Angestellten, Rentnern und Studenten. In Bonn waren es diesmal rund 40 Prozent. Zwangsverpflichtet sei aber niemand gewesen, heißt es aus dem Bonner Wahlamt, durch die Masse an Anmeldungen der Kollegen habe man sogar auf Wahlhelferwerbung verzichten können.

In meinem Wahlvorstand sieht es ähnlich aus, knapp die Hälfte aller neun Mitglieder sind Bedienstete der Stadt oder des Bundes. Die Frauen sind in der Überzahl, wir Männer sind zu dritt. Den Altersdurchschnitt von geschätzten 50 plus drücke ich deutlich. In Beschäftigung und Alter entspricht unser Wahlvorstand damit den Erfahrungen in Köln und Bonn: Die meisten Wahlhelfer sind älter als 50, die größte Gruppe danach die unter 30-Jährigen, auch viele Jugendliche und Schüler helfen aus. Bei den 30- bis 40-Jährigen hingegen ist das Interesse am Wahlhelferamt eher gering.

Schichtwechsel

Im Wahllokal herrscht Andrang: Vorbei an einer kleinen Menschenschlange zwänge ich mich durch eine hölzerne Flügeltür in den Wahlraum. Rechts von der Tür sitzen drei Kolleginnen an einem langen Tisch, gleichen akribisch Wahlberechtigungen, Personalausweise und Pässe mit dem Wählerverzeichnis ab und verteilen die jedem zustehenden Stimmzettel. Ihnen gegenüber, links vom Eingang, steht eine graue, etwas mehr als tischhohe Box mit einem Vorhängeschloss – die Wahlurne, beaufsichtigt vom Wahlvorsteher, der an einem kürzeren Tisch direkt dahinter sitzt. Die Tische bilden einen kurzen Gang zu den Wahlkabinen: zwei kleinen Tischen mit grauen Kunststoff-Verschlägen, die dem Betrachter jede Einsicht verwehren. Während ich versuche, mich zu orientieren, scheint mich mein Wahlvorsteher bereits erkannt zu haben, winkt mir aufmunternd zu. Schichtwechsel.

Ab jetzt ist alles neu für mich. Zusammen mit drei weiteren Beisitzenden und der stellvertretenden Wahlvorsteherin nehme ich meinen Platz ein. Ich sitze direkt an der Urne, muss also aufpassen, dass jeder die Stimmzettel richtig faltet und in die Urne steckt. Vor mir auf dem Tisch liegt eine Handreichung der Stadt Bonn, die jedem Wahlhelfer noch einmal das gesamte Wahlverfahren erklärt, daneben Rechtsvorschriften für die Europa- und die Kommunalwahl. Das solle ich mal lesen, raunt mir die stellvertretende Wahlvorsteherin zu – sie ist selbst das erste Mal dabei. Für mehr Einarbeitung reicht die Zeit heute nicht, der Strom der Wähler reißt kaum ab. Am Ende des Tages wird die Wahlbeteiligung in unserem Wahlbezirk bei über 50 Prozent liegen – nicht überragend aber Interner Link: mehr als im bundes- und europaweiten Durchschnitt.

Ein Wähler gibt in einem Wahllokal seinen Stimmzettel ab. (© picture-alliance/dpa)

Learning by doing

Meine Aufgabe an der Wahlurne ist für mich nicht wirklich fordernd. Für manche Wähler anscheinend schon. "Alles in eine Urne?", werde ich gefühlte tausend Mal gefragt. Ja, alles muss da rein – weiße, rote, grüne und graue Stimmzettel – eine andere Urne haben wir nicht, und das für insgesamt vier Wahlen. "Dann viel Spaß beim Auszählen", höre ich noch, bevor der Wähler mit einem Grinsen in die Nachmittagssonne verschwindet. Die meisten zeigen jedoch Verständnis für unsere Aufgabe, vor allem jüngere, sichtlich aufgeregte Erstwähler sind dankbar für jede Erklärung.

Während ich die Wahlurne bewache, kümmert sich die stellvertretende Wahlvorsteherin um kleinere Problemfälle: EU-Bürger, die sich für die Wahlteilnahme in Deutschland nicht angemeldet haben; Briefwähler, die plötzlich im Wahllokal erscheinen; Wähler, die sich weigern, ihren Stimmzettel in den Kabinen auszufüllen. Die meisten Probleme lassen sich mit einem kurzen Gespräch aus der Welt schaffen. Bei Unklarheiten hilft ein kurzer Anruf im Wahlamt, der Griff zum Handy wird im Laufe des Nachmittags aber seltener. Routine stellt sich langsam ein – Wahlhelfer, learning by doing.

Die Auszählung ist öffentlich

Kurz vor sechs reicht die Schlange vom Wahlraum bis auf den gepflasterten Vorhof. Wer Punkt 18 Uhr in der Schlange steht, darf seine Stimme noch abgeben. Nachdem der letzte Wähler seinen Stimmzettel in der Urne versenkt, geht alles ganz schnell: Mit den zurückgekehrten Kollegen der Frühschicht schieben wir fünf Tische in der Mitte des Raums zusammen. Der Wahlvorsteher öffnet die Urne und wuchtet sie hoch: ein Meer aus weißen, grünen, roten und grauen Stimmzetteln ergießt sich auf die Tische.

Jetzt heißt es sortieren: Erst nach Farben, dann für jede einzelne Wahl nach Parteien. Ungültige Stimmen bekommen einen eigenen Stapel – über sie muss gesondert abgestimmt werden. Ihre Zahl wird am Schluss einstellig sein bei weit über 700 gültigen Stimmen. Sind alle Stimmzettel nach Parteien sortiert, wird jeder Stapel doppelt ausgezählt. Ergibt sich eine Differenz, wird das ganze wiederholt. Stimmt die Zahl aller abgegebenen Stimmen mit den verzeichneten Wählern überein, wird eine Schnellmeldung der Ergebnisse an den städtischen Wahlleiter durchgegeben. Die Auszählung ist öffentlich, jeder Bürger kann sich des korrekten Ablaufs persönlich versichern – in unser Wahllokal verirrt sich an diesem Abend jedoch niemand.

Und nochmal von vorn

Auf dem Tisch stapeln sich die weißen Stimmzettel; wir beginnen mit der Europawahl. Anfangs geht das Zählen leicht von der Hand, zügig, fast wortlos werden Zehnerstapel gewälzt – das erleichtert später das Zusammenzählen. Die ersten Ergebnisse stehen bereits nach wenigen Minuten fest, zufriedene Gesichter in der Runde, vielleicht kommen wir heute alle pünktlich nach Hause.

Doch dann – Differenz! Zu wenig abgegebene Stimmen, zu viele verzeichnete Wähler. Wir müssen uns verrechnet haben. Eine halbe Stunde herrscht Ratlosigkeit, der Wahlvorsteher fängt an zu schwitzen. Wo liegt der Fehler? Stapel werden nachgezählt, das Wählerverzeichnis kontrolliert, Ergebnis um Ergebnis neu zusammengerechnet. Die Stimmung wird gereizter, jeder rechnet laut vor sich hin, alle reden durcheinander.

Plötzlich die Erlösung: Wir haben die ungültigen Stimmen vergessen hinzuzurechnen, Stimmen- und Wählerzahl gleichen sich wieder. Die Anspannung gleitet von uns ab. Schnell werden die Ergebnisse weitergemeldet, die weißen Stimmzettel anschließend in Umschlägen versiegelt. In der Ecke warten bereits die grünen und roten Stapel. Es ist kurz vor acht.

Bis zum nächsten Mal

Zwei Stunden später ist für uns der Wahltag vorbei. Das Zählen wurde zum Schluss immer schwieriger: Immer wieder verzähle ich mich und beginne von vorn, die Konzentration Stapel für Stapel aufrecht zu erhalten, kostet Kraft. Am Ende stimmen alle Zahlen, die Erleichterung ist groß. Mit der einsetzenden Ruhe komme ich ins Grübeln. Das Wahlhelferamt gilt vielen als "Sonntagsopfer", als langweilig und undankbar. Warum eigentlich? Mein persönlicher Aufwand hielt sich in Grenzen – die Einarbeitung leider auch. Trotzdem lief alles reibungslos. Die Auszählung war spannend, die Stimmung im Wahllokal locker, die meisten Wähler waren offen und freundlich. Der Tag verging wie im Flug – auch ich hatte das nicht erwartet.

Nachdem alle Wahlhelfer ihre Unterschrift unter die Auszählergebnisse gesetzt hat, verteilt der Wahlvorsteher das sogenannte "Erfrischungsgeld": Die Höhe dieser Aufwandsentschädigung ist je nach Kommune unterschiedlich, mindestens aber 21 Euro, manche Gemeinden in Süddeutschland zahlen jedoch das Fünffache. Bonner Wahlhelfer bekommen 35 Euro.

Mit dem Geld noch in der Hand stehe ich etwas gedankenverloren im Wahlraum, während sich die ersten Kolleginnen bereits verabschieden. Der Wahlvorsteher presst die versiegelten Umschläge mit den Stimmzetteln in einen riesigen blauen Reisekoffer – das offizielle Transportgepäck für alle Wahlunterlagen. Der muss heute noch zum Wahlamt. Die Stimmen werden dort solange aufbewahrt, bis mögliche Wahlbeschwerden geklärt sind. Anschließend werden sie vernichtet – erfahrungsgemäß nach etwa einem halben Jahr, spätestens aber sechs Wochen vor der nächsten Wahl.

Der Reisekoffer geht gerade so zu – mit dem Ratschen des Reißverschlusses endet mein Wahltag. Zu viert verlassen wir den Wahlraum, löschen das Licht und schließen ab. Ein kurzer Händedruck, dann gehen wir auseinander. "Bis zum nächsten Mal", sagt der Wahlvorsteher noch und verschwindet mit dem großen blauen Koffer in die Nacht.

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