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Sozialer Wandel, Sozialcharakter und Verschwörungsdenken in der Spätmoderne

Carolin Amlinger Oliver Nachtwey

/ 16 Minuten zu lesen

Die gegenwärtige Konjunktur des Verschwörungsdenkens ist Resultat eines längerfristigen sozialen Wandels zur Spätmoderne. Das spätmoderne Individuum kann sein Leben autonom gestalten, sieht sich aber seiner sozialen Umwelt häufig ohnmächtig gegenüber.

Formen des Verschwörungsdenkens gab es immer, aber sie blieben zumeist randständig. In den letzten Jahren sind sie jedoch immer weiter in das Zentrum der Gesellschaft vorgerückt. Die Irritationen über die Hygienedemonstrationen und die Bewegung der Querdenker sind deshalb so groß, weil sie die Wissensgrundlage, auf deren Basis politische Konflikte ausgehandelt werden, weitgehend aufkündigen. Dass heutige Konflikte um die Frage nach der Deutung der Realität geführt werden, kommt allerdings nicht von ungefähr. Denn moderne Politik ist genau wie ihre Konflikte epistemisiert worden. Diese kreisen um die Frage, wer die richtigen Fakten auf seiner Seite hat.

Im Folgenden verschieben wir den häufig gebrauchten Zugriff auf die gegenwärtigen Bewegungen gegen die Corona-Maßnahmen, die zumeist als irrationale Rebellionen gegen gesichertes und legitimes Wissen dargestellt werden. Wir betrachten diese Konflikte zunächst als immanente Folge des gesellschaftlichen Wandels, genauer gesagt als paradoxale Nebenfolge spätmoderner Gesellschaften.

Die gegenwärtige Konjunktur des Verschwörungsdenkens ist aus unserer Sicht das Resultat eines längerfristigen sozialen Wandels zur Spätmoderne, der ein hochindividualisiertes Subjekt hervorgebracht hat, das, freigesetzt aus traditionalen Institutionen, sein Leben vermeintlich selbstbestimmt gestaltet, sich aber seiner sozialen und politischen Umwelt häufig ohnmächtig gegenübersieht. Dieses Subjekt stößt in der Corona-Pandemie nun auf zwei Grenzen, die sein Handeln limitieren und sein individuelles Selbstverständnis bedrohen: Erstens werden die Freiheitsgrade, die eine auf Wettbewerb und Konkurrenz beruhende Gesellschaft für es hervorgebracht hat, mit der Rückkehr des sichtbaren Staates in die alltägliche Lebensführung durch die Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie limitiert. Anders als die Unterklassen, für die der Staat schon zuvor in ihre Freiheitsgrade interveniert hat (etwa über Hartz IV), trafen die staatlichen Disziplinierungen nun auch jene Segmente der Mittel- und Oberklassen (insbesondere im kulturellen Bereich), für die der Staat zuvor Garant ihrer Freiheitsgrade war, und den sie in der alltäglichen Lebensführung allenfalls regulativ zu spüren bekamen. Zweitens kann das Subjekt sein Bedürfnis nach eigenem Sinnverstehen nicht länger erfüllen. Es war gewohnt, sich Wissen in einer bestreitbaren, diskursiven Auseinandersetzung selbst anzueignen. Mit dem Coronavirus wird es seines eigenen Nicht-Wissen-Könnens gewahr und zusätzlich mit seiner Fremdwissensabhängigkeit konfrontiert. Es muss nun auf das Wissen Anderer, das ihm unbekannter Expert:innen, vertrauen. Auf diese beiden Beschränkungen reagiert das spätmoderne Subjekt mit einer epistemischen Kritik, welche die Frage, "wie es um das, was ist, bestellt ist", radikal stellt. Es protestiert auf der Ebene der Wirklichkeitsdeutung (und ihrer Verleugnung) gegen jene politischen Entscheidungen, die es in seiner Deutungs- und Handlungsmacht einschränken.

Wie kam es dazu, dass sich das Subjekt, welches das emanzipatorische Potenzial spätmoderner Gesellschaften verkörpern sollte, gekränkt von ihnen abwendet, um sich vorwissenschaftlichen Wissensbeständen zuzuwenden, die stärker dem Gesetz "formelhafte[r] Wahrheit" traditionaler Gesellschaften folgen? Das wollen wir im Folgenden skizzieren. Nachdem wir zunächst den sozialen Wandel insbesondere bezüglich der Rolle von Wissen und Nichtwissen diskutieren, widmen wir uns der sozialen Grundarchitektur und dem Sozialcharakter spätmoderner Individuen, um verstehbar zu machen, warum Menschen, die sich selbst als emanzipiert und unabhängig verstehen, neue Gemeinschaften ausbilden, die über eine Hermeneutik des Verdachts soziale Identität stiften.

Nichtwissen und Aufstieg der Expert:innen

Der erste Aspekt betrifft den veränderten Stellenwert von Wissen in der modernen Gesellschaft. In der Risikogesellschaft, wie sie Ulrich Beck bereits 1986 hellsichtig nannte, geht "die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher (…) mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken". Anders als materielle Verteilungsfragen bedrohen die durch die Produktivitätszuwächse der kapitalistischen Industrienationen hervorgebrachten Gefährdungen nicht nur einen Teil der Bevölkerung, sondern die globale Umwelt (also das Leben auf der Erde in seiner Gesamtheit). Kennzeichnend für diese Risiken (Beck hatte vor allem die Radioaktivität oder Schad- und Giftstoffe vor Augen) ist nun, dass sie meist unbekannt und unsichtbar sind, sich dem Erfahrungswissen der Einzelnen entziehen und dadurch auf die Interpretation von wissenschaftlichen Expert:innen angewiesen sind. Auf eine paradoxe Formel gebracht: Wir wissen zwar immer mehr, aber als einzelnes Individuum immer weniger davon.

Mit der Vergrößerung von Zivilisationsrisiken kommt es weder zu einer enormen "Wissenschaftsexpansion" noch zu einem Bedeutungszuwachs von Expertenrationalität, die das Wissen um die Risiken generieren; denn im gleichen Atemzug nimmt die Bedeutung von Nicht-Wissen zu. Gerade die für die Risikogesellschaft charakteristischen Nebenfolgen produzieren systematisch ein "Konfliktfeld pluralistischer Rationalitätsansprüche", in der die Zuordnung von Wissen und Nichtwissen beständig umstritten ist. Da Risiken wegen ihres umstrittenen Realitätsgehalts erst im interpretativen Wissen über sie konstruiert werden, sind sie besonders offen für politische Definitionskämpfe und Aushandlungsprozesse.

Die Akkumulation von immer mehr und immer neuem Wissen führt also zu einer gleichzeitigen Komplexitätssteigerung der Welt und zu einer Steigerung des individuellen Nicht-Wissen-Könnens. Als Kehrseite der fortwährenden Produktion von komplexem Wissen kann das Nichtwissen ganz unterschiedliche Formen annehmen: Es kann durch eine verfälschende oder selektive Rezeption (beispielsweise durch die Medien) verbreitet oder durch wissenschaftliche Irrtümer produziert werden, ein verdrängendes Nicht-Wissen-Wollen oder ein epistemisches Nicht-Wissen-Können sein. Mit dem Nichtwissen wird das Deutungsprivileg wissenschaftlicher Rationalität infrage gestellt; es lässt sich nicht alles wissen, alles erklären oder beherrschen. Damit kommt es zu einer tiefgreifenden Form der "Unsicherheit auf allen Seiten". Denn nicht nur die Risiken, die mit dem Wirtschaftswachstum von Industrienationen steigen, transzendieren das Feld des Sichtbaren. Mit den wissenschaftlichen Versuchen, diese Risiken zu erkennen, um sie anschließend kontrollieren zu können, bemisst sich auch der Wahrheitsgehalt von Wissen neu. Die Frage nach der "Realität der Realität" wird damit zu einer politischen Kernfrage spätmoderner Gesellschaften.

In einer Pandemie findet zudem eine beschleunigte und ausgeweitete Politisierung statt. Vieles, was zuvor als relativ unpolitisch galt – etwa die allgemeine Versorgung mit Alltagsgütern oder bewusst politisch latent gehaltene Fragen der Gesellschaft (zum Beispiel die soziale Position systemrelevanter Beschäftigter) – rückt in die öffentliche Debatte. Der Staat reguliert den Alltag, Routinen und Wahlfreiheiten sind zum Teil außer Kraft gesetzt. In dieser Politik der Risikogesellschaft droht der "Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden". Insbesondere das Wissen über Risiken wird eminent politisch. Für politische Entscheidungen oder die Verhandlung von politischen Konflikten hat wissenschaftliche Expertise darum eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Denn sie kann eine Regulierung der Öffentlichkeit bis in das Privatleben hinein epistemisch begründen. Bei sozial anerkannten Risiken wie der Naturzerstörung mag die Akzeptanz von Verboten, Kontrollen oder Verhaltensdisziplinierungen größer sein, wie etwa die Mülltrennung zeigt. Anders sieht dies jedoch bei umkämpften und deutungsoffenen Risiken aus – über die Ansteckungswege des Coronavirus besteht weiter Forschungsbedarf –, deren Wahrheitsgehalt so konfliktreich verhandelt wird wie die politischen Eingriffe, die sie eingrenzen sollen.

Zahlen bringen Objektivität in die Welt, sie eliminieren Gefühle. Wissenschaftliche Objektivität ist jedoch auch immer sozial konstruiert, deshalb können Zahlen "zur Waffe [werden], mit der man andere, abweichende Stimmen zum Schweigen bringen kann". Expert:innen werden in der Risikogesellschaft in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung für die Legitimität von Wissen zwar enorm aufgewertet, sie werden gleichzeitig aber auch Objekt von ressentimentgeladenem Gegen-Wissen. Beck beobachtet hier eine Tendenz zur "‚Sündenbock-Gesellschaft‘: Plötzlich sind es nicht die Gefährdungen, sondern diejenigen, die sie aufzeigen, die die allgemeine Unruhe provozieren". Expert:innen werden zum Objekt unterdrückter Gefühlsprojektionen.

Spätmoderne Freiheit und Unfreiheit

Das spätmoderne Individuum ist Resultat eines langen Emanzipationsprozesses. Seine Herauslösung aus traditionalen und disziplinierenden Loyalitäten und Institutionen, wie der traditionellen Familienstruktur oder Klassenverhältnissen, hat das Individuum bislang nicht gekannte Freiheitsgrade erlangen lassen. Es wurde materiell und geistig mobil, es genießt seit dem Beginn der modernen Gesellschaft einen wachsenden Grad an Autonomie in seiner Lebensführung und kann sich in einem nicht gekannten Maße selbst verwirklichen. Das Individuum in den westlichen Gesellschaften ist zwar freier als je zuvor – wenn man Freiheit in dem Sinne versteht, "kein Hindernis, keinen Widerstand im Weg zu haben, durch die eine gewünschte oder mögliche Bewegungsfreiheit beschränkt" wird. Aber die Emanzipation des Individuums war von Beginn an ein ambivalenter Prozess. Sie war Emanzipation und Schicksal. Sie bedeutete gleichzeitig auch den Verlust vormaliger "komplexer Netzwerke sozialer Beziehungen" und die zunehmende Abhängigkeit von Institutionen, da sich die Gesellschaft weiter differenziert und standardisiert hat: Das spätmoderne Individuum ist arbeitsmarkt- und bildungsabhängig, abhängig von Konsummöglichkeiten, sozialrechtlichen Regelungen oder Verkehrsplanungen, sodass "institutionenabhängige Individuallagen" entstehen.

Die zahlreichen Abhängigkeiten verdeutlichen, dass Autonomie und Freiheit des Individuums nach wie vor Begrenzungen unterliegen. Der Hauptwiderspruch des spätmodernen Individuums liegt darin begründet, dass es zwar über bisher nicht gekannte Freiheitsgrade und Autonomieressourcen verfügt, aber die Bedingungen, unter denen diese bereitgestellt werden, nicht kontrollieren kann. Émile Durkheim hatte bereits darauf hingewiesen, dass die "Unterwerfung" des Individuums unter die Gesellschaft die "Bedingung seiner Befreiung" sei. Freiheit ist insofern nur mit der, nicht gegen die Gesellschaft möglich. Diese liefert ein Repertoire an Routinen, Regeln und Normen, an die sich die Menschen täglich meist nur gewusst, selten bewusst halten. Sie geben Halt und Sicherheit im Alltag, im gesellschaftlichen Normalbetrieb.

Das spätmoderne Individuum muss zudem zunehmend ein hochkompetitives Subjekt sein, das sich selbst optimiert, das um knappe Ressourcen mit anderen konkurriert. Die institutionalisierte Wettbewerbsgesellschaft nimmt für sich in Anspruch, dass Leistung, Wertschätzung und Anerkennung die Zuteilungskriterien für Wohlstandsverteilung darstellen, löst diesen aber häufig nicht ein. Denn auch im freien Wettbewerb "verbergen sich Abhängigkeitsverhältnisse, die die Realität ausmachen". Michael Sandel spricht von der Tyrannei des Leistungsprinzips: Nicht allein die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern deren meritokratisches Rechtfertigungsnarrativ führe zu einer politischen Frustration großer Teile der Bevölkerung. Zu einer normativen Erosion der gesellschaftlichen Kohäsion kommt es, weil beide Statusgruppen, Gewinner:innen wie Verlierer:innen, kontrafaktisch an der Ethik des Leistungsprinzips festhalten, obwohl es objektiv an Geltungskraft eingebüßt hat.

Das gekränkte Subjekt

Das Versprechen von Autonomie und Selbstverwirklichung gehört neben dem Leistungsversprechen zum zentralen Arsenal der Selbstrechtfertigung spätmoderner Marktgesellschaften. Doch genau das emanzipatorische Versprechen auf freie Selbstentfaltung bringt, wie Andreas Reckwitz betont, "hartnäckige Paradoxien" hervor: "Die spätmoderne Kultur verspricht dem Individuum subjektive Erfüllung in einer Weise wie keine zuvor und suggeriert ihm, ein Recht auf dessen Realisierung zu besitzen, und lässt doch immer wieder diese subjektive Erfülltheit als ein Phantasma scheinen (…)." Er folgt damit der Diagnose von Christopher Lasch, der die pathologische Konsequenz eines kompetitiven Individualismus darin sah, dass "das Streben nach Glück in einer narzisstischen Sackgasse" ende. Der Narzisst (im Sinne eines Sozialcharakters und weniger einer Individualpathologie) ist nicht der Selbstverliebte, sondern jemand, der seine sozial erfahrenen Kränkungen durch die Überhöhung des Selbst kompensiert.

Woher kommen diese Kränkungen? Auf das Individuum bezogen erodieren und radikalisieren sich die Voraussetzungen der Versprechen auf Autonomie und Selbstverwirklichung in der Spätmoderne. Das Individuum muss kompetitiv sein, in sich selbst investieren, es muss autonom sein. Aber die Voraussetzung für diese Subjektivität – die sozialen Sicherheiten, die Stabilität der Sozialbeziehungen, die Institutionen – haben ihre Prägekraft verloren, sind fluider geworden. Dies zeigt sich insbesondere in der Arbeitswelt. Sie ist prekärer und projektorientierter geworden. Gerade die vermeintlich schöne Welt der Projekte, emblematisch für die individualisierten Ansprüche an Arbeit in der Gegenwart, ist ambivalent. Jedes neue Projekt bedeutet zwar einen neuen Anfang, ein neues Abenteuer; aber jedes neue Projekt bedeutet auch, dass es einen Abschluss gibt, eine Form der temporären Verunsicherung, einer kleinen Erschütterung, eines Übergangs. Es gibt zwar nicht wenige leistungsstarke Individuen, die die partielle Ungewissheit kompensieren, sie sogar begrüßen. Für viele stellen sich aber die Versprechen der Projektarbeit als falsch diskontiert dar.

Falsche Versprechen und gescheiterte Verwirklichungsversuche setzen nun ein Arsenal negativer Gefühle wie Enttäuschung, Frustration, Groll oder Ressentiment frei. Während Lasch die affektive Regression psychoanalytisch als eine Schwächung des kollektiven Über-Ichs durch den Verfall institutioneller Autorität (Familie, Schule, Staat) analysiert, lohnt es, einen frühen sozialphilosophischen Erklärungsansatz heranzuziehen. Max Scheler verortete in seinem Aufsatz "Das Ressentiment im Aufbau der Moralen" aus dem Jahr 1912 die Ursprünge des Ressentiments in dem Spannungsmoment moderner liberaler Gesellschaften. Die affektive Feindseligkeit ist für ihn kein Ausdruck individueller Verbitterung, sondern in die "Struktur der Sozietät" eingeschrieben: Das formale Gleichheitsversprechen gehe mit einer Ungleichheit der Lebenschancen einher, der man ohnmächtig gegenüberstehe. Das "Konkurrenzsystem" besiedele darum die Seele der Gesellschaft, das durch den permanenten Vergleich ein Gefühl des Mangels, des "Wenigerseins" hervorrufe.

Kurzum, das spätmoderne Individuum ist herausgelöst aus traditionellen Netzwerken, es ist gesellschaftsabhängig und verhält sich kompetitiv gegenüber anderen. Dadurch ist es tendenziell narzisstisch und leicht zu kränken. Es ist damit – trotz des Fortschritts an Bildung und Aufklärung – in mehrfacher Weise gefährdet, Verschwörungsmythen anheimzufallen. Denn hierfür gibt es in der Regel zwei Gründe: Die Kompensation eines Kontrollverlustes und das Streben nach Einzigartigkeit. Gerade die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bedeuteten für jene Gruppe, für die Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und gewisse Züge des Anti-Autoritarismus prägend waren, einen enormen Kontrollverlust über ihre Lebensführung. Fallen Routinen, Regeln und Normen plötzlich weg – weil man sich zum Beispiel nicht mehr die Hände reichen durfte –, dann entsteht eine Konstellation der Anomie, die nicht nur das Alltagshandeln verunsichert, sondern vor allem Angst und Zweifel produziert. Derartig anomische Konstellationen bezeichnet Zygmunt Baumann als "ungeschminkte Beschränkung". Unter Rückgriff auf Verschwörungsnarrative kann das Individuum nun in doppelter Weise seine Unabhängigkeit demonstrieren: Es kann die Autorität des Wissens der Expert:innen bestreiten und sich selbst (narzisstisch) überhöhen als ein Subjekt, das die wahren Zusammenhänge durchschaut hat.

Epistemische Gegengemeinschaft

Mit Bezug auf Alexis de Tocqueville analysiert Bauman das moderne Individuum als Feind des Bürgers, denn es kümmere sich nicht um das Gemeinwesen, den öffentlichen Raum, sondern privatisiere diesen zu seinem eigenen Nutzen. Weil die modernen Individuen kaum mehr etwas auf staatsbürgerliche Ideale gäben, würden sie ihr Engagement allein in affektive Gemeinschaften kanalisieren, die nichts anderes seien als "der Nagel, an dem eine Reihe vereinzelter Individuen vorübergehend ihre Ängste aufhängen".

Wir interpretieren die Zunahme konspirativer Denkmuster im Zuge der Corona-Pandemie in diesem Sinn als eine versuchte epistemische Resouveränisierung, die die Kränkungen des spätmodernen Subjekts kitten soll. Verschwörungstheoretische oder auch okkulte Welterklärungsmodelle kompensieren die Realität der Schranken und Entbehrungen, indem sie ein Fantasma der Souveränität über exklusive Wissensbestände konstituieren: Das Weltgeschehen ist intentional von dunklen Mächten gesteuert, von deren Existenz einzig privilegierte Individuen – Sehende oder Erwachte – wissen. Die von Corona-Skeptiker:innen neu formulierte Frage "But is it true?" stellt damit nicht nur den Wirklichkeitsgehalt eines noch unbekannten Risikos infrage, eben des Coronavirus, sondern mit ihm gleichfalls die staatlichen Machtbefugnisse, die das individuelle Handeln einschränken. Es ist augenscheinlich, dass die Demonstrationen der Querdenken-Bewegung ebenso wie widerständige Alltagspraktiken (beispielsweise die Maskenverweigerung) performativ Handlungsmacht herstellen. Ähnliches gilt auch für das Wissen. Aus unserer Sicht ist das Beharren auf (anti)wissenschaftlichen oder alternativen Wissensbeständen ein Symptom neuer epistemischer Konfliktlagen, über die gebrochene Versprechen und Kränkungen einer liberalen Konkurrenzgesellschaft kanalisiert werden.

Es greift daher zu kurz, die Affinität zum Verschwörungsdenken einseitig bei ungebildeten und unteren sozialen Klassen und Schichten zu verorten. Die Ausbildung von neuen "Gegengemeinschaften", deren "Weltsicht, Normen und Selbstverständlichkeiten sich um die Mitte unsichtbarer Bedrohungen" gruppieren, hatte bereits Beck beobachtet. Wie die Risiken universal sind, so ist auch die Gruppenzusammensetzung heterogen. Vereint sind sie gegen die vermeintlich erfahrungslose wissenschaftliche Expertise, die als Begründung politischer Regulation dient, indem sie für das "Einfache, Konkrete, Anschauliche" Partei ergreifen, wie Alexander Bogner betont. Man kann die Revolte der Skeptiker:innen in diesem Sinn als regressive Formen nachtraditionaler Vergemeinschaftung interpretieren, deren hochindividualisierte Mitglieder über ein "enges Netz kleiner, ‚moralisch überhitzter‘ Affinitäts-Gruppen" aneinander gebunden sind. Wissen beziehungsweise Gegenwissen ist hier eine "Gemeinschaftsproduktion", die ein kollektives Bedeutungsuniversum kreiert und narzisstische Illusionen von Ganzheit und Einheit bedient, die sich gruppenintern, durch die Einebnung politischer Differenzen, wie gruppenextern, in einer "symbiotischen" Beziehung zur Natur, manifestieren.

Als Gegenexpertise wird das Verschwörungsdenken gleichzeitig als ein Produkt einer Risikogesellschaft verstehbar, die in verstärktem Ausmaß vorläufiges Wissen und multiple Formen des Nichtwissens produziert, was die Legitimation von politischen Verordnungen angreifbar macht. Die strukturelle Unsicherheit, wie eine neue Situation zu beurteilen, wie auf sie angemessen zu reagieren sei, führt zu affektgeladenen Wissenskonflikten. Während das Expertenwissen durchaus seinen provisorischen Gehalt reflektiert, hält das Verschwörungsdenken an der letztlich rationalen Idee fest, dass Nichtwissen oder falsifizierbares Wissen als ein Mangel zu bewerten sei. Konspirative Erklärungsmodelle partizipieren an der Gegen-Definitionsmacht von sozialen Bewegungen und wollen die Bedrohung des Nicht-Wissen-Könnens in evidentes Gegenwissen transformieren. Denn gerade das Eingeständnis, nicht wissen zu können, greift die eigene Wissenssouveränität, die wir als typisch für das spätmoderne Subjekt erachten, existenziell an.

Fazit: Epistemische Kritik

Die Verbreitung verschwörungstheoretischer Narrative, so haben wir argumentiert, ist nicht der Ausdruck mangelnder Aufklärung, sondern das Resultat spätmoderner Individualisierung. Das spätmoderne Individuum ist verwundbar und leicht zu kränken. Es ist ferner anfällig für eine neue "neurotische Angst", wie sie Franz Neumann in seiner Lesart von Freud entwickelt hat. Bei Neumann war die neurotische Angst ein Resultat der eigenen Hemmungen, einer Entfremdung des Ichs von der Dynamik der Triebe. Statt des Ichs ist es jetzt eine äußerliche Instanz, der Staat, der hemmt. Denn trotz aller Appelle an die Eigenverantwortung, die letztlich eine Kompetenz der Ich-Stärke ist, halten die Menschen regelmäßig zu wenig Abstand – man denke nur an die vollen Einkaufsstraßen nach den ersten Lockerungen. Der Staat trat an die Stelle des Ichs, auf ihn ist die neurotische Angst entsprechend gerichtet.

In der Öffentlichkeit wird immer noch nach dem richtigen Umgang mit den Anhänger:innen der Querdenker gesucht. Auch wenn die eigentliche Bewegung jetzt wohl verebben wird, bleiben die Entfremdung vom politischen System und ebenso die vielen Menschen, die Verschwörungsmythen anhängen. Während der vergangenen beiden Jahre hatten mehr als 20 Prozent der Bürger:innen Verständnis für die Proteste. In diesen Protesten zeigt sich eine Form des epistemischen Widerstands gegen die Gesellschaft, gegen die Politik der zurückliegenden Jahre. Deshalb ist es notwendig, darüber zu reflektieren, gegen was für eine Gesellschaft sich die Kritik äußert. Oder anders formuliert: Welche Gesellschaft bringt solch eine Art von Bewegung hervor? Hier kann dies nur angedeutet werden, aber es hat möglicherweise mit dem Paradox spätmoderner Gesellschaften zu tun, dass sie zwar liberaler sind, aber gleichzeitig von einem Rückzug des Staates keine Rede sein kann. Das Ausmaß biopolitischer Regulierungen – in Gesundheit, Sexualität, Arbeit – war vermutlich nie höher.

Abbildung: Einstellungen von Teilnehmenden an Corona-Demonstrationen in Deutschland und der Schweiz (© bpb)

Das spätmoderne, für Verschwörungsnarrative offene Individuum hat maximale Partizipationsansprüche. Es überhöht sein eigenes Erfahrungswissen vor dem Wissen von Expert:innen. Zentrale Prinzipien moderner Demokratien sind ihm suspekt, weil sie es in seinen unbegrenzten Ansprüchen an Autonomie begrenzen: Repräsentation, Delegation, Verantwortung und Intermediatisierung durch Organisation. Deshalb erscheinen ihm alle Entscheidungen, an denen es nicht beteiligt ist, als Form einer Eliten-Konspiration. Der britische Ökonom William Davies schrieb noch vor der Corona-Pandemie: "Der Staat erscheint vielen als ein abgekartetes Spiel von Insidern. Für diese Kritiker ist der Unterschied zwischen Experte und Politiker zur Illusion geworden".

In der Verschwörungsepidemie ist aus einer staatsbürgerlich durchaus vernünftigen epistemischen Kritik ein epistemischer Widerstand geworden. Dieser ist jedoch nicht nur in seiner Offenheit nach rechts, in seinem Hang zu Verschwörungsnarrativen, demokratiepolitisch gefährlich. Denn hier steht eine Grundvoraussetzung der modernen Demokratie auf dem Spiel: in ihr hat jede "Auseinandersetzung (…) zur Voraussetzung, dass man in derselben Welt lebt". Dies ist zum Teil nicht mehr gegeben. Ein Kampf für eine bessere Welt hat immer auch zur Voraussetzung, dass man über die gleiche Welt spricht, die man kritisiert.

Die Flut des Verschwörungsdenkens wird zwar nicht in gleichem Maße steigen wie der Meeresspiegel durch den Klimawandel, aber die Spätmoderne, so fürchten wir, ist eine systematische Triebfeder von Verschwörungsmentalitäten. Man darf zwar nicht übersehen, dass viele Individuen trotz dieser Voraussetzungen resilient gegenüber dem verschwörungstheoretischen Denken bleiben. Sie können sich in Krisen behaupten, weil sie als Individuum im sozialen Sinn anerkannt werden. Für eine Universalisierung dieser Form der sozialen Freiheit bräuchte es gleichwohl aber andere Institutionen, sodass die Menschen zusammen und mit anderen Individuen frei sein können – und nicht gegen sie.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Ditzingen 2021; William Davies, Nervöse Zeiten. Wie Emotionen Argumente ablösen, München 2019.

  2. Zur paradoxen Entwicklung der Moderne vgl. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016, Kap. 3.

  3. Vgl. Harry Nutt, Corona-Impfdebatte und Neid in der Pandemie: "Ist das gerecht so?", Interview mit Sighard Neckel, 10.5.2021, Externer Link: http://www.fr.de/-90528319.html.

  4. Luc Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, Berlin 2010, S. 13.

  5. Vgl. Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey, Die Risikogesellschaft und die Gegenwelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 17. Februar 2021, S. N3.

  6. Alexander Bogner interpretiert den gegenwärtigen science denial ebenfalls als eine "enttäuschte Hoffnung des hochindividualisierten, aktivierten Subjekts auf volle Souveränität und eine vollends durchschaubare, entscheidungsoffene Welt", Bogner (Anm. 1), S. 104.

  7. Scott Lash, Expertenwissen oder Situationsdeutung? Kultur und Institutionen im desorganisierten Kapitalismus, in: Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash (Hrsg.), Reflexive Modernisierung: eine Kontroverse, Frankfurt/M. 1996, S. 338–364, hier S. 344.

  8. Ulrich Beck, Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, S. 25.

  9. Ebd., S. 255.

  10. Ulrich Beck, Wissen oder Nicht-Wissen? Zwei Perspektiven "reflexiver Modernisierung", in: ders./Giddens/Lash (Anm. 7), S. 289–315, S. 299.

  11. Ders., (Anm. 8), S. 302.

  12. Ebd.

  13. Boltanski (Anm. 4), S. 13.

  14. Beck (Anm. 8), S. 31.

  15. Alexander Bogner/Wolfgang Menz, Wissen und Werte im Widerstreit. Zum Verhältnis von Expertise und Politik in der Corona-Krise, in: Leviathan 1/2021, S. 111–132, hier S. 111.

  16. Davies (Anm. 1), S. 130.

  17. Beck (Anm. 8), S. 101.

  18. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt/M. 2003, S. 25.

  19. Beck (Anm. 8), S. 119.

  20. Bauman (Anm. 18), S. 50.

  21. Émile Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 129.

  22. Franz L. Neumann, Angst und Politik, in: ders., Wirtschaft, Staat und Demokratie. Aufsätze 1930–1954, Frankfurt/M. 1978, S. 424–459, hier S. 447.

  23. Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.

  24. Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 204.

  25. Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzissmus, Hamburg 1995, S. 13.

  26. Vgl. Bauman (Anm. 18), S. 51.

  27. Vgl. Nachtwey (Anm. 2).

  28. Vgl. Sighard Neckel, Eingesperrt: der Groll, in: Merkur 5/2021, S. 81–87.

  29. Max Scheler, Vom Umsturz der Werte, Band 1, Leipzig 1919, S. 59.

  30. Ebd., S. 67.

  31. Vgl. Katharina Nocun/Pia Lamberty, Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Köln 2020.

  32. Vgl. Oliver Nachtwey/Robert Schäfer/Nadine Frei, Politische Soziologie der Corona-Proteste, in: SocArXiv, DOI: 10.31235/osf.io/zyp3f.

  33. Bauman (Anm. 18), S. 30.

  34. Ebd., S. 50.

  35. Vgl. Christine Hentschel, Das große Erwachen. Affekt und Narrativ in der Bewegung gegen die Corona-Maßnahmen, in: Leviathan 1/2021, S. 62–85.

  36. Vgl. Nachtwey et al. (Anm. 32).

  37. Beck (Anm. 8), S. 98.

  38. Bogner (Anm. 1), S. 50.

  39. Nicola Gess führt anschaulich vor, wie mit dem Bedürfnis nach Anschaulichkeit narrative Beschreibungsverfahren einhergehen, die auf "anekdotische[r] Evidenz" fußen. Vgl. Nicola Gess, Halbwahrheiten, Berlin 2021, S. 38.

  40. Lash (Anm. 7), S. 355.

  41. Ebd., S. 357.

  42. Christine Hentschel hat in ihrer ethnographischen Feldstudie zur Bewegung gegen die Corona-Maßnahmen ebenfalls eine Sehnsucht nach "Eins-Sein" beobachtet, die oftmals mit der Imago politischer Transzendenz, jenseits von links und rechts zu stehen, verbunden ist. Vgl. Hentschel (Anm. 35), S. 70–72.

  43. Vgl. Neumann (Anm. 22).

  44. Vgl. Edgar Grande et al., Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, WZB Discussion Paper 601/2021.

  45. Davies (Anm. 1), S. 111.

  46. Bogner (Anm. 1), S. 54.

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ist Literaturwissenschaftlerin und Soziologin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Basel. E-Mail Link: carolin.amlinger@unibas.ch

ist Professor für Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Soziologie der Universität Basel.
E-Mail Link: oliver.nachtwey@unibas.ch