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Der Biafra-Krieg als globales Medien- und Protestereignis | Nigeria | bpb.de

Nigeria Editorial Nigeria in fünf Büchern. Eine literarische Tour Facetten der Unsicherheit. Nigerias Herausforderungen auf dem Weg zum Frieden Der Fluch des Segens. Nigeria und das Öl Zwischen Hegemonialmachtfantasien und Staatsversagen. Nigerias Rolle in Westafrika Der Biafra-Krieg als globales Medien- und Protestereignis Ikone einer Debatte. Eine Rezeptionsgeschichte der "Benin-Bronzen" Nollywood. Schaufenster eines sich behauptenden Nigerias

Der Biafra-Krieg als globales Medien- und Protestereignis

Lasse Heerten

/ 15 Minuten zu lesen

Anfang Oktober 1968 wandte sich Günter Grass mit einem flammenden Appell an die Menge, die sich anlässlich einer von der Aktion Biafra-Hilfe organisierten Demonstration am Bahnhof Dammtor in Hamburg zusammengefunden hatte. Auschwitz habe, so der Schriftsteller, "hinter Stacheldraht" stattgefunden, nun geschehe jedoch ein "Völkermord vor aller Augen": "Photos, Berichte, Zahlen gehen tagtäglich ein. Fernsehberichte tragen den unmenschlichen Prozeß in jede Familie. Nach dem Abendessen schauen wir zu, wie in Biafra gehungert und gestorben wird."

Bereits in den Monaten zuvor war das "Gewissen der Welt" – so das amerikanische Nachrichtenmagazin "Time" – durch Medienberichte über das menschliche Elend im Nigerianischen Bürgerkrieg beunruhigt worden. Zeitungsleser*innen und Fernsehzuschauer*innen weltweit waren schockiert angesichts der Bilder hungernder Kinder, die sie aus der Sezessionsrepublik Biafra erreichten, die sich 1967 von Nigeria unabhängig erklärt hatte. Gerade im globalen "Westen" waren viele überzeugt, dass der Volksgruppe der Igbo in Biafra ein Völkermord drohe: Am postkolonialen Horizont tauchte das Schreckgespenst eines afrikanischen "Auschwitz" auf.

Der Krieg wurde zum ersten postkolonialen Konflikt, der eine globale Welle humanitärer Empathie hervorrief. Hilfsorganisationen errichteten eine Luftbrücke, um Biafra mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern zu versorgen. Insbesondere im "Westen" gründeten Aktivist*innen zahllose Biafra-Komitees, die Gelder für die Hilfsoperation einwarben, Protestaktionen organisierten, die Medienberichterstattung zu beeinflussen versuchten – und durch den so erzeugten öffentlichen Druck die Außenpolitik ihrer Regierungen.

Obwohl das Jahr 1968 mittlerweile eine Chiffre für transkontinental verknüpfte Proteste ist, spielt das globale Medien- und Protestereignis "Biafra" dabei kaum eine Rolle. Das liegt vor allem in zweierlei Umständen begründet: Erstens waren die Menschen, die sich für Biafra engagierten, nicht Teil der Neuen Linken, die unser Bild von den Protesten dieses Jahres bis heute bestimmt. Ganz im Gegenteil: Biafra wurde als eine Art Gegen-Vietnam, als dezidiert nicht-revolutionäre Vision eines häufig christlichen, tendenziell konservativen Dritte-Welt-Aktivismus etabliert. Zweitens war es die humanitäre Medienkampagne selbst, die das Verschwinden dieses Ereignisses mit begünstigte. Die Berichterstattung fokussierte das Leid der biafranischen Opfer in schauderhaften Bildern. Dadurch rückte jedoch der Konflikt selbst als politischer und historisch bedingter Prozess in den Hintergrund, wurde zur verschwommenen Kulisse eines menschlichen Dramas. Die ikonografischen Muster der Repräsentationen Biafras bestimmen die Berichterstattung zu humanitären Krisen seitdem, der Konflikt selbst ist jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten.

Utopie postkolonialer Unabhängigkeit

Nach der 1960 erlangten Unabhängigkeit trauten viele Beobachter*innen Nigeria eine erfolgreiche "Entwicklung" zu. Kurz zuvor waren reiche Ölvorkommen entdeckt worden, und das Potenzial des bevölkerungsreichsten Staates Afrikas schien fast grenzenlos. Nigeria war geteilt in drei Hauptregionen, die jeweils von einer ethnischen Gruppe dominiert wurden: Hausa und Fulani im Norden, Yoruba im Südwesten und Igbo im Südosten. Bereits wenige Jahre nach der Unabhängigkeit eskalierten ethnisch aufgeladene politische Spannungen in einer Serie von Putschen und Gegenputschen. Nachdem Anfang 1966 ein Putsch als von Igbo-Offizieren geführte Rebellion wahrgenommen wurde, kam es zu Massakern an Igbo in Nordnigeria. Diese von Militärs und Zivilist*innen ausgeübte extreme Gewalt löste die Flucht von etwa zwei Millionen Igbo in die Ostregion aus. Die Bundesregierung versuchte die nationale Einheit zu bewahren, doch Verhandlungen zwischen der damaligen Bundeshauptstadt Lagos und der politischen Führung des Ostens um den Generalgouverneur Chukwuemeka Odumegwu Ojukwu führten zu keinem für beide Seiten zufriedenstellenden Ergebnis. Am 30. Mai 1967 erklärte die Ostregion ihre Unabhängigkeit als Republik Biafra. Der Bürgerkrieg begann mit dem Vorstoß von Bundestruppen in biafranisches Territorium Anfang Juli 1967.

Die Führung der Sezessionist*innen erkannte ihre schlechten militärischen Chancen und versuchte, eine neue Front auf der Bühne der internationalen Politik zu eröffnen. Biafras internationale Lobbyarbeit wurde von im Ausland lebenden Igbo initiiert, vor allem Studierenden, die an ihren Universitäten sogenannte Biafra-Unionen gründeten. Darüber hinaus wurde ein Netzwerk quasi-diplomatischer Gesandter aufgebaut. Vor allem aber engagierte Biafra zur Koordination der internationalen Kampagne PR-Agenturen in Genf, London und New York. Die erfolgreich geführten antikolonialen Kampagnen der vorherigen Jahre hatten gezeigt, dass militärisch aussichtslose Kämpfe durch die Mobilisierung der internationalen öffentlichen Meinung moralisch gewonnen und so jenseits der Schlachtfelder entschieden werden konnten. Die biafranische Führung knüpfte an diese Vorbilder an – auch rhetorisch. Das "Recht auf Selbstbestimmung" hatte während der Dekolonisation eine wirksame rhetorische Waffe dargestellt und war seit 1966 durch die beiden Menschenrechtspakte Teil des UN-Menschenrechtskatalogs. Die Erweiterung der vorrangig individuell gedachten Menschenrechte um dieses Kollektivrecht war zuvorderst ein Effekt der veränderten Zusammensetzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen, der nun zahlreiche unabhängig gewordene ehemalige Kolonien angehörten.

In der biafranischen Kampagne wurden die Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit und Menschenrechten mit der Warnung vor einem Genozid verbunden. Die Ängste vor extremer ethnisch begründeter Gewalt hatten ihren Ursprung in den Massakern von 1966, die nun, mythologisch zum Märtyrertod erhoben, zum moralischen Kern der biafranischen Unabhängigkeitsvision aufstiegen. Dazu kam das spezifische Selbstverständnis vieler Igbo, die bereits seit der Kolonialzeit als "Juden Afrikas" bezeichnet wurden. Wahrscheinlich eine Erfindung kolonialer Ethnografen, etablierte sich dieser Begriff in der Fremdzuschreibung – dabei nicht frei von antisemitischen Anklängen – ebenso wie in ihrer kollektiven Identität. Nun sollte Biafra zum afrikanischen Israel werden: So wie der Holocaust zur Gründung des jüdischen Staates im Nahen Osten geführt hatte, sollten die Massaker an den Igbo die Notwendigkeit der Gründung eines neuen Staates in Westafrika evident machen.

Genozid und Menschenrechte waren zentrale Kategorien in der biafranischen Melange politischer Ideen, die im Kern jedoch um die klassische Konzeption antikolonialer Rechtsvorstellungen kreiste: das Recht auf Selbstbestimmung. Trotz der intensiven Bemühungen Biafras überstrapazierte diese Vision allerdings die Vorstellungskraft diplomatischer Zirkel der Zeit. Fast alle Regierungen lehnten es ab, Biafra als unabhängigen Staat anzuerkennen. Mit der Unabhängigkeit Nigerias war der Logik der globalen Dekolonisationswelle nach dem Zeitalter der Weltkriege zufolge das Recht auf Selbstbestimmung bereits umgesetzt: Pro Kolonie konnte dieses nur einmal genutzt werden. Die Angst vor einer "Balkanisierung" war in der postkolonialen Welt beträchtlich, insbesondere in Afrika. Die einzigen Staaten, die Biafra offiziell anerkannten, waren im Frühjahr 1968 Côte d’Ivoire, Gabun, Sambia und Tansania, 1969 kam noch Haiti dazu.

Globales humanitäres Ereignis

Die geschätzten Todeszahlen waren seit Beginn des Konflikts hoch. Trotzdem erregten der Nigerianische Bürgerkrieg und die biafranische Unabhängigkeitsbewegung im ersten Jahr des Konflikts aufgrund der Strukturen der entstehenden postkolonialen internationalen Ordnung sehr wenig internationale Aufmerksamkeit. Die Situation änderte sich schlagartig, als der Konflikt eine humanitäre Dimension erhielt. Schon gegen Ende 1967 gab es Zeichen, dass Biafra eine ernsthafte Unterversorgung mit Nahrungsmitteln bevorstehen könnte. Mit der Eroberung der Hafenstadt Port Harcourt am 19. Mai 1968 schlossen Bundestruppen einen Blockadering um Biafra, der den Sezessionsstaat vom Zugang zum Meer und somit von wichtigen Handelswegen abschnitt. Die Bevölkerung Biafras war auf dem Weg in eine Hungersnot, die Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschenleben bedrohte.

Missionar*innen waren die ersten ausländischen Stimmen, die auf die Krise aufmerksam machten. Denn während die meisten Bürger*innen anderer Staaten zu Beginn des Krieges ausreisten, blieben viele Missionar*innen in ihren Gemeinden. Vor allem katholische Netzwerke lenkten die internationale Aufmerksamkeit auf die humanitäre Krise. Missionar*innen aktivierten ihre Netzwerke und fungierten als Ansprechpartner*innen im Feld für Journalist*innen, deren Reisen zudem häufig von christlichen Hilfswerken finanziert waren.

Viele Kirchenleute waren überzeugt, dass die christlichen Igbo in einem vom muslimischen Norden Nigerias angezettelten Religionskrieg ihre Unterstützung benötigten. Die Beschwörung eines religiösen Konflikts fand über Kirchenkreise hinaus nur begrenzten Anklang in der westlichen Öffentlichkeit oder der internationalen Diplomatie, strukturierte die Wahrnehmung des Konflikts aber prägend mit: Biafra wurde zu einer "christlichen Enklave" in Afrika, auch durch die biafranische Kampagne befeuert, die einen religiös gefärbten Konflikt zeichnete, in dem das "zivilisierte" und "moderne" Biafra barbarischen Horden aus Nigerias islamischem Norden gegenüberstand.

Um die Mitte des Jahres 1968 wurde "Biafra" innerhalb weniger Wochen zu einem global bekannten Begriff. Mit dem Titelbericht der britischen "Sun" am 12. Juni 1968 wurde eine neue Ikone der sogenannten Dritten Welt geschaffen: die "Biafra-Kinder". Der britische Sender ITN war der erste, der Fernsehbilder aus der Region sendete, weitere folgten bald. In den folgenden Wochen waren die Zeitungskioske in Westeuropa und Nordamerika mit den Bildern abgemagerter Kinder buchstäblich tapeziert. Am 28. Juli 1968 titelte der "Stern": "Bilder klagen an. Die verhungernden Kinder von Biafra". Das Cover zeigte ein Kind, das den Betrachter direkt ansieht. Die weit geöffneten Augen sind ein wiederkehrendes Motiv in dieser appellativen Ikonografie: Die "Biafra-Kinder" scheinen die Betrachter*innen um Hilfe anzuflehen.

Die Bilder hinterließen bei vielen einen tiefen Eindruck. Nicht wenige fühlten sich an die Fotografien erinnert, die 1945 während der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager gemacht worden waren. Wie Lady Violet Bonham Carter im House of Lords argumentierte: "Niemand von uns kann behaupten ‚Davon habe ich nichts gewußt‘", denn "dank dem Wunder des Fernsehens sehen wir mit eigenen Augen, wie sich Geschichte ereignet".

Biafra wurde durch die Linse der Kameras beobachtet – und dabei wurde der Sezessionsstaat in ganz neuer Art und Weise sichtbar. Dieses "Biafra" stand in starkem Kontrast zu dem "Biafra", das in der internationalen Politik der sogenannten Dritten Welt verhandelt wurde. Dabei handelte es sich um einen Sezessionsstaat, der seine Unabhängigkeit erlangen wollte. Die Medienberichte und die Appelle humanitärer Organisationen entwarfen Biafra als einen entfernten Ort, an dem unschuldige Kinder zu Tode hungerten. Als Biafra "entdeckt" wurde, war es nicht die utopische Rhetorik des postkolonialen Rechts auf Selbstbestimmung, die das Publikum erreichte, sondern eine dystopische Vision postkolonialer Katastrophe.

Durch die Verwandlung Biafras in ein dringendes humanitäres Problem waren westliche Regierungen dazu gezwungen, auf die Krise zu reagieren. Die Diskussionen waren im Vereinigten Königreich, der früheren Kolonialmacht in Nigeria, besonders virulent. Die Labour-Regierung Harold Wilsons war der wichtigste internationale Partner für Lagos und unterstützte die dortige Bundesregierung mit Waffenlieferungen. In einem vermutlich von Auberon Waugh geschriebenen Leitartikel im "Spectator" wurde der Konflikt als "Vernichtungskrieg" betitelt: Die "Endlösung für die Igbo" stehe unmittelbar bevor. Dieses Mal unterstütze Großbritannien allerdings die falsche Seite.

Ähnliche Vorwürfe wurden auch anderswo erhoben. In den USA fügte im September 1968 der republikanische Präsidentschaftskandidat Richard Nixon dem Chor der moralischen Anklagen seine Stimme hinzu, als er im Rahmen seiner Wahlkampagne ein Statement veröffentlichte: In Biafra vollziehe sich ein "Genozid", "und die Hungersnot ist der Sensenmann". Dies sei nicht der Zeitpunkt, um auf "diplomatische Feinheiten" zu achten. Die amerikanische Weltmacht müsse ihre Ressourcen umgehend einsetzen, um Leben zu retten. Nach seinem Wahlsieg stellte Nixon 1969 aber fest, dass der amerikanische diplomatische Apparat sehr wohl "diplomatische Feinheiten" beachten wollte. Die bereits von der demokratischen Regierung Lyndon B. Johnsons praktizierte Rücksichtnahme auf die special relationship mit Großbritannien wurde auch unter seinem republikanischen Amtsnachfolger weitgehend fortgesetzt.

Aber wer waren die Biafra-Aktivist*innen? "Der Spiegel" stellte zunächst einmal fest, wer sie nicht waren: Der Biafra-Krieg habe "wahrscheinlich schon mehr Menschenleben gekostet als Vietnam, aber nirgendwo in der Welt dröhnt es seinetwegen aus Megaphonen, schwanken Transparente über Demonstranten, ist auch nur eine einzige Strassenbahnschiene blockiert worden. Dieses Blutbad ist offenbar nicht attraktiv für Emotionen." Es gebe kein Interesse an diesem Konflikt, "obwohl seine Folgen die Bevölkerung härter treffen als amerikanische Bombenteppiche und Partisanengranaten die Vietnamesen". In der "Zeit" fragte Marion Gräfin Dönhoff, was die "sonst so rührigen Protestler von den USA bis Tokio" angesichts dieses "Völkermords" machten? "Gar nichts."

Ähnliche Vorwürfe wurden in zahlreichen Medien erhoben – und waren in der Sache nicht falsch: Die Neue Linke war nicht Teil der Biafra-Lobby, die sich zuvorderst aus christlichen und konservativen Kreisen zusammensetzte. Selbst eher linke Biafra-Aktivist*innen gingen meist auf Distanz zu den mit "Studentenprotesten" assoziierten Zielen. Durch "Biafra" wurde ein neuer antirevolutionärer Dritte-Welt-Aktivismus begründet, der teils an Mustern kolonialer humanitärer Kampagnen anknüpfte – aber sich vor allem von den auf den amerikanischen Krieg in Südostasien bezogenen linken Protesten der Zeit abgrenzte.

In der äußerst aktiven Biafra-Lobby in Frankreich waren staatliche Machtpolitik und nicht-staatlicher Aktivismus eng verwoben – insbesondere bis zu Charles de Gaulles Rücktritt als Staatspräsident Ende April 1969. In einer Regierungserklärung vom 31. Juli 1968 stimmte die französische Regierung dem biafranischen Recht auf Selbstbestimmung zu und bestätigte diese Position im Anschluss mehrfach. Die Haltung der französischen Regierung war zumindest auch von der Hoffnung motiviert, Nigeria zu schwächen – den westafrikanischen Staat mit der größten Bevölkerung und reichen Ölvorkommen, der auch nach der Unabhängigkeit in der britischen Einflusssphäre verblieb. Entscheidend waren aber die gaullistischen Netzwerke, die Regierung und Biafra-Komitees verbanden: Biafra war ein gaullistisches Thema, wurde mit gaullistischen Prinzipien verbunden und von gaullistischen Aktivist*innen maßgeblich propagiert. In für diese Rhetorik typischer Form appellierte der Parlamentarier Raymond Offroy – Kopf des Comité d’Action pour le Biafra – an die Traditionen des französischen Universalismus: Frankreich habe "immer das Recht auf Selbstbestimmung der Völker verteidigt". Als aktiver Teil einer Kampagne, in der humanitäre Visionen und Realpolitik ineinander verschwammen, war Paris die gewichtigste fremde Macht, die die Sezessionist*innen unterstützte – ohne Biafra jedoch jemals offiziell anzuerkennen.

Ende und Nachleben

Die internationale Kampagne zugunsten Biafras konnte die Niederlage des Sezessionsstaates nicht verhindern. Nachdem die Truppen zweieinhalb Jahre gekämpft hatten, kapitulierte Biafra am 15. Januar 1970. Dass die Sezessionist*innen ihre meisten Unterstützer*innen im nicht-staatlichen Sektor fanden, der keinen direkten Einfluss auf politische Entscheidungen hatte, gereichte ihrem politischen Projekt kaum zum Vorteil. Biafras Selbstbestimmung blieb eine Utopie.

Jedoch hatte Biafra sogar die PR-Schlacht verloren. Entscheidend dafür war eine Initiative, die von London ausging. Der Eindruck, dass die von dort unterstützte nigerianische Bundesregierung die Zivilbevölkerung im eingekesselten Biafra in einer genozidalen militärischen Kampagne gezielt verhungern ließ, stellte ein beträchtliches Problem für die britische Regierung dar. Auf Londons Druck hin lud Lagos im August 1968 ein internationales Beobachtungsteam ein, das die Genozid-Vorwürfe und das Verhalten der Truppen prüfen sollte – wie sich herausstellen sollte ein äußerst effektiver Schachzug. Das Team wurde hauptsächlich aus militärischem Personal aus Staaten zusammengesetzt, die Nigeria wohlwollend gegenüberstanden. Nigerianische Soldat*innen zeigten den Beobachter*innen die Schlachtfelder, meistens einige Tage nach den Kämpfen. Das Team begann ab Oktober 1968 Berichte zu veröffentlichen, in denen es zu dem Ergebnis kam, dass es keinen Genozid gebe.

Zwar kritisierte die Biafra-Lobby nicht zu Unrecht, dass die biafranische Enklave nicht besucht worden war und sich zudem keine Jurist*innen unter den Beobachter*innen befunden hatten. Trotzdem wurden die biafranischen Genozid-Vorwürfe durch die Berichte international weitgehend als entkräftet betrachtet.

Biafras Genozid-Vorwürfe hatten sicherlich einen realen Kern in den Massakern von 1966 und in den teils erbittert geführten militärischen Auseinandersetzungen. Hunger war unleugbar ein Problem. Aber dass Nigeria eine Politik des Genozids verfolgte, ist zumindest fraglich. Zahlreiche Igbo lebten weitgehend unbehelligt in Teilen Nigerias, die von der Bundesarmee kontrolliert wurden. Unabhängig davon, ob die Beobachtungsmission die richtigen Schlüsse zog: Für Biafra waren die dadurch verursachten Probleme gewaltig. Denn die Unabhängigkeitskampagne hatte selbst so viel Gewicht auf das Genozid-Argument gelegt, dass damit ein tragender Pfeiler ihrer Repräsentation des Konflikts zusammenbrach. Die imaginierte Gemeinschaft "Biafra" war abhängig von dem Gedanken des Genozids: eine im genozidalen Tod geborene Nation. Die Gefahr dieses Genozids erschien jedoch immer weniger real. Nun wurde folglich fragwürdig, ob "Biafra" als nationales Projekt real war: Waren dies nur von der biafranischen Führung geschaffene Fiktionen?

Mit derartigen Fragen in den Köpfen vieler Zeitgenoss*innen fiel die Rhetorik der Holocaust-Vergleiche wie ein Bumerang zurück auf die biafranische Führung. Nicht nur Nigerias Propaganda verglich die Sezessionsregierung mit der Führung des nationalsozialistischen Deutschland. Manche Beobachter*innen kamen zu dem Schluss, dass, wenn überhaupt eine der beteiligten Regierungen mit den Nazis zu vergleichen sei, es die biafranische sei. Bernard D. Nicholls von der Church Missionary Society bemerkte in einem Brief an den Generalsekretär der Entwicklungsorganisation Oxfam, die "in Biafra verbreitete Furcht vor einem vermeintlichen Genozid ist ganz sicher sehr real, doch ebenso sicher ist sie fehlgeleitet, und die meisten Menschen sind genauso Opfer einer boshaften und bewußten Propaganda wie die Deutschen unter Hitler".

Die Medien zeichneten fortan die biafranische Führung in einem zunehmend schlechten Licht und charakterisierten sie als Vertreterin einer heranwachsenden, aber schon früh verdorbenen postkolonialen afrikanischen Elite. In einem Artikel nach der biafranischen Kapitulation skizzierte "Der Spiegel" den biafranischen Militärgouverneur Ojukwu als einen dandyhaften Lebemann, der die Vorzüge der "Ausbildung der Weißen" und des Studentenlebens in Oxford genossen habe, wo "er als Playboy in schnellen MG-Sportwagen aufgefallen" sei. Nur in seinen Propagandabemühungen bleibe dieser "doppelzüngig[e]" Politiker erfolgreich: "Um die Weltmeinung für seine Sache zu mobilisieren, erfand er mithilfe der Genfer Werbeagentur Markpress (…) einen ‚Religionskrieg‘ der islamischen Haussas an den christlichen Ibos [sic] und schrie Völkermord zu einer Zeit als davon keine Rede sein konnte."

Die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Führung schienen sich am Ende des Krieges zu bestätigen: "Ojukwu flieht, während Biafra vollständig zusammenbricht", informierte die "Times" am 12. Januar 1970 auf der Titelseite. Entgegen den Voraussagen der Biafra-Lobby schlachtete die nigerianische Armee die Igbo nach der Kapitulation Biafras nicht ab.

Der Wandel der Wahrnehmung der Biafra-Kampagne war die Folge einer grundlegenden Spannung, die diesen Konflikt strukturierte: Aus humanitärer Perspektive handelte es sich um eine unpolitische menschliche Tragödie. Biafra war allerdings zuvorderst ein politisches Projekt. Die dominierende humanitäre Repräsentation des Konflikts entpolitisierte den Bürgerkrieg. Doch die empathischen Reaktionen auf das Leid der "Biafra-Kinder" implizierten häufig ein Bekenntnis zu den politischen Zielen Biafras. Selbst wenn das nicht so intendiert war, wurden die humanitären Aktivist*innen weitgehend als Teil der Biafra-Lobby wahrgenommen. Im Laufe des Konflikts wurde es jedoch immer fraglicher, ob die Rebellen Unterstützung verdienten.

Darüber hinaus machte es die Inszenierung des Konflikts als humanitäres Medienereignis zunehmend schwierig, die dahinter liegende Realität zu erkennen. Bis heute ist das wirkliche Ausmaß der Hungersnot unbekannt. Auch die Zahl der Opfer des Krieges insgesamt ist schwierig zu bestimmen. Schätzungen für den gesamten Konflikt reichen von einer bis zu drei Millionen Opfern. Der Konflikt verdeutlichte allerdings, dass Regierungsvertreter willens waren, in einem machtpolitischen Pokerspiel mit Menschenleben zu spielen – und das auf beiden Seiten, wie die vertrackten Verhandlungen über mögliche humanitäre Hilfskorridore zeigten.

Nachdem Biafra Geschichte geworden war, löste sich bald auch die Biafra-Lobby auf – mit einigen Ausnahmen, wie der irischen Organisation Concern oder der Hamburger Aktion Biafra-Hilfe, die sich 1970 als Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) neu gründete. Eine große Ausnahme vom internationalen Niedergang der Biafra-Kampagne war Frankreich. Noch lange, nachdem der Krieg vorbei war, erzählten Stars der humanitären Szene wie Bernard Kouchner – Mitbegründer und Gallionsfigur zuerst des Comité de Lutte contre le Génocide au Biafra, dann von Ärzte ohne Grenzen und einige Jahrzehnte später französischer Außenminister – dieselbe Geschichte über Biafra. Demnach hätten junge französische Ärzte in der Enklave aus erster Hand das Leid einer unschuldigen Opfergruppe erfahren und seien daraufhin nach Paris zurückgekehrt, um die internationale Politik zu revolutionieren. In diesen Darstellungen wurde die biafranische Erfahrung zu einem Ursprungsmythos eines neuen Humanitarismus.

Derartige tendenziell teleologische, lineare Narrative über Biafra als "Anfang" eines globalen humanitären Regimes sind jedoch mit Vorsicht zu behandeln. Außerhalb Nigerias, wo die biafranische Unabhängigkeitsbewegung in neuen Formen bis heute aktiv ist, und des humanitären Sektors, in dem Narrative über die Geburt des sans-frontièrisme aus dem Geiste Biafras eine wichtige Rolle spielen, ist der Konflikt aus dem Gedächtnis internationaler Öffentlichkeiten weitgehend verschwunden.

Das Nachleben Biafras ist subtilerer Art. 1968 war "Biafra" zu einer Chiffre für menschliches Leid geworden – und zum pars pro toto für den postkolonialen Niedergang Afrikas, verkörpert durch die Ikone der hungernden "Biafra-Kinder". So nachvollziehbar die Beweggründe der Aktivist*innen und Journalist*innen für die Inszenierung dieses Leids gewesen sein mögen, so ambivalent waren die Effekte. Denn die Berichterstattung war bestimmt von einer Ikonografie, die den Konflikt entpolitisierte und dekontextualisierte. Im Effekt machte diese humanitäre Vision den Konflikt austauschbar. In den folgenden Jahrzehnten tauchten ähnliche Bilder aus Äthiopien, Somalia oder dem Sudan in globalen Medien auf: Gespenstererscheinungen neuer "Biafras", die nur wenige an Biafra erinnerten, manche an den Holocaust, aber immer neue Variationen der visuellen Figuration des afrikanischen Kontinents als Sorgenkind der Weltgemeinschaft hervorbrachten. Der Nigerianische Bürgerkrieg geriet jedoch in Vergessenheit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Günter Grass, Völkermord vor aller Augen. Ein Appell an die Bundesregierung, in: Die Zeit, 11.10.1968, S. 5.

  2. Vgl. Lasse Heerten, A wie Auschwitz, B wie Biafra. Der Bürgerkrieg in Nigeria (1967–1970) und die Universalisierung des Holocaust, in: Zeithistorische Forschungen 3/2011, S. 394–413.

  3. Vgl. hier und im Folgenden ders., The Biafran War and Postcolonial Humanitarianism. Spectacles of Suffering, Cambridge 2017.

  4. Vgl. ders., Biafras of the Mind. French Postcolonial Humanitarianism in Global Conceptual History, in: The American Historical Review 4/2021 (i.E.).

  5. Vgl. etwa Matthew Connelly, A Diplomatic Revolution. Algeria’s Fight for Independence und the Origins of the Post-Cold War Era, Oxford 2002.

  6. Vgl. etwa Ross K. Baker, The Emergence of Biafra: Balkanisation or Nation-Building, in: Orbis. A Quarterly Journal of World Affairs 2/1968, S. 518–533.

  7. Siehe "The Land of No Hope" und "Children Wait to Die", in: The Sun, 12.6.1968, S. 1, S. 3.

  8. Zit. nach Hansard Lords, 27.8.1968, Spalte 700, Externer Link: http://hansard.millbanksystems.com/lords/1968/aug/27/nigeria.

  9. Another More Murderous Harvest, in: The Spectator, 31.5.1968, S. 729f.

  10. Nixon for President Committee, News Release, 10.9.1968, S. 1.

  11. Betr. Biafra, in: Der Spiegel, 1.7.1968, S. 5.

  12. Lebendig begraben, in: Der Spiegel, 1.7.1968, S. 70–76, hier S. 70.

  13. Marion Gräfin Dönhoff, Belsen in Biafra?, in: Die Zeit, 12.7.1968, S. 1.

  14. Raymond Offroy, Editorial, in: Biafra. Bulletin du Comité d’Action pour le Biafra 1/1969, S. 1f., hier S. 2.

  15. Bernard D. Nicholls an Leslie Kirkley, 5.12.1968, in: OXFAM Archives, Nr. OA/14: Nigeria/Biafra, Vol. 2.

  16. Ein Kavalierskrieg, in: Der Spiegel, 19.1.1970, S. 82–87, hier S. 84, S. 85f.

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ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum und Leiter des DFG-Projekts "Tor zur Welt. Der Hamburger Hafen und das Kaiserreich" E-Mail Link: lasse.heerten@ruhr-uni-bochum.de