Im Mittelpunkt des im Herbst 2020 veröffentlichten 16. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung stehen unterschiedliche Räume politischer Selbstbildung. Neben weitgehend pädagogisch institutionalisierten Räumen wie dem Kindergarten, der Schule, den Angeboten der beruflichen Bildung, der Kinder- und Jugendarbeit, den Hochschulen und den Freiwilligendiensten, um nur ein paar zu nennen, geht die Sachverständigenkommission im Bericht auch auf Jugendkulturen und soziale (Protest-)Bewegungen ein.
Politische Bildung wird von den Autor*innen des 16. Kinder- und Jugendberichts als ein von Subjekten – in diesem Kontext also von Jugendlichen und jungen Erwachsenen – "getragener Prozess der Herausbildung von Mündigkeit, der sich an demokratischen Grundwerten wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden, Solidarität, Emanzipation und Freiheit orientiert", begriffen. Dem liegt ein Politikverständnis zugrunde, wonach Politik die "Gesamtheit der Aktivitäten und Strukturen [ist], die auf die Herstellung, Durchsetzung und Infragestellung allgemein verbindlicher und öffentlich relevanter Regelungen in und zwischen Gruppierungen von Menschen abzielt".
Verknüpft mit einem prozeduralen Verständnis von Demokratie, wonach "Demokratie in ihrer konkreten Erscheinungsform historisch geworden ist und immer neu ausgehandelt wird", verstehen die Sachverständigen – auch angesichts der Geschichte des Praxisfeldes und des Standes der Fachdiskussion – politische Bildung als unauflösbar an demokratischen Prinzipien und Werten orientiert: "Die Kommission verwendet daher das im deutschen wissenschaftlichen und praxisbezogenen Diskurs anerkannte Konzept der Politischen Bildung, auch wenn dieser Begriff vielfach durch spezifische Akzentsetzungen der Demokratiebildung und der Demokratiepädagogik Verwendung findet (…)."
Die Idee, heterogene soziale Räume
Würde man den bekannten Dreiklang von formalen, non-formalen und informellen Bildungsprozessen heranziehen, müssten die zuletzt genannten Räume sicherlich der dritten Kategorie, den informellen Bildungskontexten, zugeschlagen werden. In diesem Sinne führt der 16. Kinder- und Jugendbericht durch die Aufnahme eines eigenen Kapitels zu von jungen Menschen getragenen Protesten, sozialen Bewegungen und Jugendkulturen von Beginn vor Augen, dass politische Bildung eben nicht nur in den professionellen Settings stattfindet, sondern auch in nonformalen und vor allem auch informellen Kontexten.
Fokus: Jugendkulturen und soziale (Protest-)Bewegungen
Wenn man unterschiedliche Räume politischer Bildung in den Blick nehmen möchte – vor allem in Abhebung zu den institutionalisierten professionellen bildenden Kontexten –, ist es durchaus naheliegend, von jungen Menschen getragenen sozialen (Protest-)Bewegungen und Jugendkulturen ein eigenes Kapitel zu widmen. Zugleich hat sich die Kommission damit ein anspruchsvolles Programm gegeben und ein breites Spektrum unterschiedlicher Gruppierungen und Bewegungen in den Blick genommen, sodass erstens genauer differenziert werden muss – etwa im Hinblick auf Strukturen, Aktionsformen und Reichweiten – und sich zweitens die Frage stellt, ob und in welcher Weise diese Gruppierungen jeweils überhaupt Räume politischer Bildung im Sinne des Kinder- und Jugendberichts sind. So ist beispielsweise bei bestimmten nationalistischen und rechtsextremen Gruppierungen – ebenso wie bei einigen Gruppierungen auf der anderen Seite des politischen Spektrums – eine Orientierung an demokratischen, humanistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien nicht erkennbar.
In Bezug auf die vielfältigen Ausdrucksformen von Jugendkulturen und -szenen gilt nach wie vor, was die Erziehungswissenschaftlerin Nicolle Pfaff vor einiger Zeit formuliert hat: Es gibt eine "Vielzahl jugendkultureller Ausdrucksformen, deren ‚politischer Gehalt‘ im Auge des Betrachters liegt, d.h. je nach Perspektive anders bestimmt wird."
Auf Grundlage des erwähnten weiten Politikverständnisses stellt die Kommission zunächst fest, dass in den in Rede stehenden Kontexten "die jungen Menschen (…) durch ihre Aktivitäten und ihr Handeln erst den Raum [erschaffen], in dem sie sich artikulieren und in dem sich politische Bildungsprozesse vollziehen können. Die Zugehörigkeit der Akteure zum jeweiligen Raum ergibt sich durch eben jenes gemeinsame Handeln in der Öffentlichkeit, womit sich die jungen Menschen automatisch im Raum des Politischen befinden. Während sie sonst aus dieser Sphäre überwiegend ausgeschlossen sind, ermächtigen sie sich als Akteure sozialer Bewegungen und Protestformen selbst als legitime Sprecherinnen und Sprecher über politische Inhalte."
Betont werden dabei die zentralen Prinzipien der Offenheit und Freiwilligkeit und die Besonderheit, "dass sie – im Gegensatz zu den institutionell überformten Räumen – beständig oszillieren, sich in einem Zustand der Unruhe, der Bewegung befinden. Gelegenheiten zum Innehalten, zur Distanzierung, Kontemplation und Reflexion, die für (politische) Bildungsprozesse gleichfalls wichtig sind, werden durch die ständige Veränderung und Aktivität im Raum vielfach eingeschränkt".
Zugleich muss ergänzt werden, dass die hier im Zentrum stehenden Szenen und Bewegungen nicht nur in Teilen durch Erwachsene vordefiniert sind, sondern dass sie auch eingebettet sind durch gesellschaftliche – also von Erwachsenen dominierten – Normen, Strukturen und Verfahren. "Die jungen Menschen können in der Öffentlichkeit eben nicht primär als Gleiche unter Gleichen auftreten (…), sondern müssen sich gleichzeitig gegen die Bevormundung jener zur Wehr setzen, die über ein umfangreicheres Repertoire an Bürgerrechten verfügen. So sind beispielsweise das Wahlrecht, das Recht auf Mitgliedschaft in Parteien oder auf Demonstrationsanmeldung an bestimmte Altersgrenzen gebunden."
Schaut man etwas genauer hin, ergibt sich ein differenziertes Bild. Einerseits zeigen sich innerhalb der Bewegungen und Jugendkulturen vielfältige Formen der Selbstorganisation politischer Bildung. Die Akteure "organisieren sich selbst entsprechend ihrer Anliegen und Bildungsräume, bringen ihre eigene Expertise als Betroffene ein und organisieren kooperative, subjektorientierte Lernformate (z.B. in Workshops, Seminaren, Sommerschulen, Camps und Konferenzen bis hin zur Gründung eigener Bildungsträger und Demokratischer Schulen)".
Um der Vielfalt der von jungen Menschen getragenen Szenen und Bewegungen näherungsweise gerecht zu werden, nimmt der 16. Kinder- und Jugendbericht exemplarisch für den Bereich der Jugendkulturen die Hip-Hop-Szene, für die sozialen Bewegungen die LSBTTIQ*-Bewegung,
Die Bilanz dieser Analysen fällt zunächst zurückhaltend aus: "Jugendkulturen sowie soziale Bewegungen und Protestformationen als soziale Räume können über enorme Potenziale für die politische Bildung von Kindern und Jugendlichen verfügen."
Dennoch eröffneten "die Selbstorganisationspotenziale in diesen Teilräumen Möglichkeiten, Demokratie unmittelbar zu erfahren, und machen sie für die Akteurinnen und Akteure erlebbar. Insbesondere vor dem Hintergrund der hier jenseits der IBD dokumentierten sozialen Räume ist die Selbstaneignung und Konstituierung als (kollektives) politisches Subjekt und Akteur eine Besonderheit und kann eine Kraftreserve für die zukünftige Entwicklung der bundesrepublikanischen demokratischen Kultur sein."
Im 16. Kinder- und Jugendbericht wird entsprechend bemängelt, dass "über die genuine Rolle von jungen Menschen in sozialen Bewegungen, über ihr Verhältnis zu älteren Bewegungsakteurinnen und -akteuren, über die Strukturen und Rahmenbedingungen in diesen Teilräumen, über die Frage, wie demokratisch organisiert und möglicherweise institutionell überformt sie sind, (…) aus der Forschung zu aktuellen Jugendkulturen und sozialen Bewegungen bisher zu wenig bekannt [ist]".
Während die Autor*innen einerseits das "grundsätzliche Potenzial der politischen Subjektwerdung, Selbstaneignung und Handlungsfähigkeit" von Jugendkulturen und von jungen Menschen getragenen sozialen Bewegungen betonen und damit diesem informellen Selbstbildungsraum einen systematischen Stellenwert für politische Bildung einräumen, verdeutlicht der Bericht andererseits, dass diese Potenziale keineswegs allen jungen Menschen offenstehen: "Bewegungsförmige Zusammenschlüsse sind – so zeigen es die historische Entwicklung der Bundesrepublik und ein Großteil der hier präsentierten Fallbeispiele, ein Mittelschichten-Phänomen."
Hieraus resultiert eine ambivalent anmutende Forderung. Während zunächst die Selbstorganisation und Selbstmobilisierung als zentrale Merkmale und Potenziale von Jugendkulturen und sozialen Bewegungen hervorgehoben werden, werden vor dem Hintergrund der offensichtlichen Hürden der Zugänglichkeit zugleich Sensibilisierungs- und Informationsbedarfe postuliert, die seitens der formalen Bildungsinstanzen zu bearbeiten seien: "Daher sind auch die jugendlichen Akteurinnen und Akteure selbst für die Ausschließungsmechanismen ihrer politischen Aktionsformen zu sensibilisieren und zu ermutigen, die unsichtbaren Grenzen der sozialen Schichten und Milieus zu überwinden. Sie selbst sollten über Möglichkeiten und Grenzen der politischen Selbstmobilisierung informiert sein. (…) Es ist eine Integration der Wissensvermittlung hinsichtlich der Legitimität von Protesthandeln in die Räume formaler politischer Bildung notwendig, gleichzeitig auch eine Sensibilisierung für Macht- und Gewaltbezüge, hierarchische Dynamiken und Ausschlussprozesse, die soziale Bewegungen und Protestformationen gleichfalls kennzeichnen können."
Unabhängig davon steht der 16. Kinder- und Jugendbericht in Bezug auf die jungen Akteur*innen für eine klare Befähigungsperspektive. Nicht zuletzt wird dies durch die folgenden bilanzierenden Perspektiven und Empfehlungen zu Jugendkulturen und sozialen Bewegungen sichtbar:
Informelles Lernen durch Engagement in sozialen Bewegungen unterstützen und die Gemeinnützigkeit von Bewegungsakteuren stärken;
Politische Bewegungen öffnen, als Handlungsmöglichkeiten in der formalen Bildung thematisieren, Ausschlüsse problematisieren und abbauen;
Die Stärkung der Selbstmobilisierung junger Menschen von Beginn an durch non-formale Formate unterstützen;
[Die Schaffung] Offene[r] digitale Plattformen und Kommunikationsangebote für junge Menschen und soziale Bewegungsakteure;
Öffnung der Schulen und der formalen Bildung für politisches Engagement.
Konsequenzen für die politische Bildungspraxis
Versucht man, die Ergebnisse des jüngsten Kinder- und Jugendberichts mit Blick auf die Konsequenzen für die politische Bildungspraxis zu diskutieren, erscheinen folgende Aspekte vorrangig von Bedeutung zu sein.
Erstens: Im 16. Kinder- und Jugendbericht wird die Aufmerksamkeit bewusst auf die informellen Bildungsorte Jugendkulturen und soziale Bewegungen gelegt. Neben den formalen und nonformalen Bildungsorten können sie damit als eigenständige Räume politischer Bildung gelten. Jugendkulturen und soziale Bewegungen erhalten damit nicht nur den Status fluider gesellschaftlicher Phänomene, über die die Fachszene und die interessierte Öffentlichkeit regelmäßig zu informieren ist. Vielmehr legen die Autor*innen des Berichts einen Perspektivenwechsels nahe, um das in den selbstorganisierten Jugendkulturen und sozialen Bewegungen vorhandene politische Selbstbildungspotenzial anzuerkennen und gegebenenfalls daran anknüpfen zu können. Das liest sich einerseits trivial; andererseits zeigt der Blick in die einschlägige Fachliteratur, dass die politische Bildung als Profession noch ein Stück davon entfernt ist, in der Breite über ein angemessenes und differenziertes Verständnis der verschiedenen Jugendkulturen und sozialen (Protest-)Bewegungen als Räume politischer Bildung und in Relation zu ihren eigenen Angeboten zu verfügen.
Dabei erscheinen diese informellen Bildungsräume aus professioneller Sicht in mehrfacher Hinsicht interessant, weil man an die dort gemachten Erfahrungen und verhandelten Inhalte anknüpfen kann; zugleich erweisen sich Jugendkulturen und soziale Bewegungen als sperrig, weil diese Räume aufgrund ihres informellen Charakters nicht mit den üblichen professionell-pädagogischen Ansätzen gestaltet und angesprochen werden können – auch weil sie sich nicht selten als bewusste Gegenwelten zu dem staatlich geförderten Bildungsbetrieb verstehen. Die Herausforderung der professionellen politischen Bildung besteht somit in dem Balanceakt, an die Selbstorganisationspotenziale demokratischer Bewegungen und Jugendkulturen anzuknüpfen, diese in ihrem Eigenwert und in ihrer Bedeutung für Demokratie und Demokratiebildung wertzuschätzen und ihre Akteur*innen gegebenenfalls zu unterstützen und zugleich die dort gemachten Erfahrungen zum Ausgangspunkt von Selbstbildungsprozessen zu machen.
Zweitens: Der 16. Kinder- und Jugendbericht zeigt einmal mehr, dass Beteiligung, Mitmachen, Engagement und Selbstorganisation junger Menschen in all ihren Varianten für sich genommen und allein aus sich heraus nicht gewährleisten, dass politische Selbstbildungsprozesse im Sinne vom Demokratiebildung angeregt werden. Im Gegenteil: Nicht selten erweisen sich Gruppierungen aus den unterschiedlichen Ecken als antidemokratisch, antipluralistisch, mitunter als rassistisch und nationalistisch. In jedem Fall sind sie jedoch hochgradig politisch "und verfügen sowohl auf ästhetischer als auch aktionistischer Ebene über ein für Jugendliche anziehendes Potenzial".
Hierfür kann man zunächst an die vielfältigen Erfahrungen der Mobilen Beratungsteams, der einschlägigen Modellprojekte aus dem Bundesprogramm "Demokratie leben!" und seiner Vorgängerprogramme sowie anderer Angebote anknüpfen.
Drittens: Rückt man das Prinzip der Selbstorganisation in den Mittelpunkt und interpretiert es vor dem Hintergrund eines weit gefassten Politikbegriffs im Sinne von "Herstellung, Durchsetzung und Infragestellung allgemein verbindlicher und öffentlich relevanter Regelungen in und zwischen Gruppierungen von Menschen", trifft man unweigerlich auch auf Jugendkulturen, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach nichts "mit Politik am Hut haben" und sich bewusst von Politik – in ihrem Verständnis – abwenden. Für die professionalisierte politische Bildung führt dies in ein fast auswegloses Dilemma, vor allem wenn man den Anspruch hat, mit den eigenen Angeboten an die Lebenswelt junger Menschen anzuknüpfen. Zugleich gibt es aber in unterschiedlichen pädagogischen Kontexten sehr wohl Fachkräfte, die mit diesen jungen Menschen in Kontakt stehen und mit ihnen arbeiten, sei es als Jugendsozialarbeit, als Streetwork, als kulturpädagogisches Angebot oder als offener Treff – um nur ein paar Optionen zu nennen. Die Herausforderung in diesen Fällen betrifft dann eher die Seite der Fachkräfte, weil diese sich nicht immer selbst als politische Bildner*innen verstehen und ihren eigenen Stellenwert auf diesem Gebiet systematisch unterschätzen.
Der 16. Kinder- und Jugendbericht verdeutlicht zum wiederholten Mal, dass es eine Aufgabe der "etablierten" politischen, vor allem außerschulischen Kinder- und Jugendbildung ist, sich gegenüber den anderen pädagogischen Fachpraxen zu öffnen – wie auch vice versa –, um ihr "Wissen, ihre Konzepte und ihre Erfahrungen, aber auch ihre Bedenken und Einwände zur Verfügung [zu] stellen, um Anschlüsse zu ermöglichen".