Hundert Tage vor der Bundestagwahl gingen am 18. Juni 2021 in über 30 deutschen Städten wieder zahlreiche Aktivist*innen von Fridays for Future (FFF) auf die Straße, um lautstark für eine bessere Klimapolitik zu demonstrieren. Seit ihren ersten Großdemonstrationen steht die Bewegung sinnbildlich für eine Kehrtwende in der Wahrnehmung der Jugend und ihres politischen Engagements. Zu Beginn von FFF Deutschland waren am 15. März 2019 rund 300.000 vornehmlich junge Menschen zusammengekommen, um die von der schwedischen Schülerin Greta Thunberg initiierte Bewegung zu unterstützen. Mit ihrem 2018 begonnenen Schulstreik hatte die damals 15-Jährige binnen kürzester Zeit eine weltweite Mobilisierung von Jugendlichen in Gang gesetzt. FFF steht mittlerweile wie keine andere Bewegung für eine Generation, der Klimaschutz wichtig ist und die sich engagiert. Sie tut dies allerdings vor allem in Aktionsgruppen und losen Zusammenschlüssen, weit weniger in Parteien.
Sich in einer Partei zu engagieren und wählen zu gehen, sind die Kernelemente demokratischer Teilhabe, beide Partizipationsformen sind jedoch voraussetzungsvoll: An Bundestagswahlen dürfen nur diejenigen teilnehmen, die aufgrund ihres Alters und ihrer Nationalität wahlberechtigt sind, also mindestens 18 Jahre alt und deutsche Staatsbürger*innen sind. (Allein in Brandenburg, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein können schon 16-Jährige an Landtags- beziehungsweise Bürgerschaftswahlen teilnehmen).
Für das Mitwirken in Parteien bestehen diese Voraussetzungen nicht, dennoch ist die Beteiligung niedrig. Hierfür werden von Jugendlichen vor allem folgende Gründe genannt: zum einen die fehlende Identifizierung mit, zum anderen der erschwerte Zugang zu Parteien sowie die fehlenden Einflussmöglichkeiten innerhalb der Parteistrukturen.
In Jugendvereinen und (Protest-)Aktionsgruppen gibt es dagegen meist keine oder nur wenige formale Kriterien zur Auf- und Teilnahme. Diese Formen der politischen Beteiligung gelten gemeinhin als niedrigschwellige Formen der demokratischen Teilhabe, die für alle jungen Menschen leicht zugänglich sind. Um beispielweise bei FFF aktiv zu werden, reicht eine Nachricht über einen Messengerdienst aus, um mit der jeweiligen Ortsgruppe in Kontakt zu treten und kostenlos mitzuwirken.
Bei näherer Betrachtung finden sich jedoch auch in diesen Arenen politischer Beteiligung Teilhabehürden. Selbst Proteste und Bewegungen sind nicht für alle jungen Menschen gleichermaßen zugänglich und sprechen auch längst nicht alle gleichermaßen an. Die Barrieren sind hier jedoch häufig informeller, obgleich sie ebenfalls von strukturellen Ausschlussmechanismen geprägt sind. Das zeigt sich besonders, wenn es um Repräsentations- und Machtpositionen geht. Das gilt zwar nicht nur für Proteste, Bewegungen und Vereine von und mit Jugendlichen, ist hier aber besonders relevant. Denn kaum eine andere Lebensphase ist prägender für die eigene Identität als die Zeit des Erwachsenenwerdens.
Informell statt institutionell
Aussagen über das Ausmaß des politischen Engagements junger Menschen in Deutschland waren lange Zeit wenig schmeichelhaft. Noch 2006 betitelte die jährliche Shell-Jugendstudie die junge Generation zwischen 14 und 27 Jahren als "pragmatisch" und sagte eine zunehmend entpolitisierte "Generation Z" voraus.
Der Blick auf die Beteiligung bei Wahlen und das Engagement in Parteien als institutionell etablierte Formen der Teilhabe verdeutlicht diese Diskrepanz: Bei der Bundestagswahl 2017 lag die Wahlbeteiligung der 18- bis 24-Jährigen unter 70 Prozent und damit deutlich unter der Gesamtbeteiligung von 76,2 Prozent.
Im Vergleich mit digitalen Aktionsformen zeigt sich der Unterschied noch deutlicher: Hier sind es mit 57 Prozent der 14- bis 22-Jährigen mehr als die Hälfte der Befragten, die schon mal an einer Onlineaktion oder Onlinepetition mitgewirkt haben, wie eine Studie des Bundesumweltministeriums zeigt.
Der Vergleich der politischen Teilhabe über den Zeitverlauf zeigt die Veränderung des Protest- und Vereinsengagements selbst: Waren etablierte Jugendvereine früher die zentralen Akteure der Jugendverbandsarbeit, differenziert sich das Organisationsfeld seit mindestens einem Jahrzehnt stärker aus.
Neben der Vervielfältigung der Formen des Engagements haben sich auch die Organisationsidentitäten diversifiziert, was letztlich den gesellschaftlichen Wandel widerspiegelt. So ist die Anzahl der Jugendvereine und Zusammenschlüsse von Vereinen, die sich bewusst als Jugendvereine mit migrations- oder religionsbezogener Pluralität positionieren, deutlich gestiegen. Zugleich haben sich diese selbst verändert: In den 1980er Jahren dominierten zunächst sogenannte Migrantenjugendselbstorganisationen (MJSO) als Vertretungen junger Menschen mit Migrationsbezügen. Anknüpfend an die Erwachsenenvereine, die Migrantenselbstorganisationen (MSO), offenbarte der Name bereits ihre Entstehung aus ebenjenen Elternvereinen und verwies auf ihr Selbstverständnis als migrantisch. Ihr primäres Anliegen war es, die eigene kulturelle Identität auszuleben. Oftmals waren diese Vereine weit weniger in der Jugend(verbands)politik aktiv. Heute erleben wir hingegen junge Vereine, die sich als "neue deutsche" oder "postmigrantische" Organisationen verstehen. Sie erkennen ihre migrantischen, familiären oder eigenen Bezüge als prägend an, betonen aber zugleich ihre Dazugehörigkeit und die Transformation der Gesellschaft.
Die skizzierte Entwicklung zeigt, dass die Jugendverbandsarbeit diverser geworden ist und innerhalb der bestehenden Strukturen Aushandlungen über Teilhabe geführt werden. Als Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass junge Menschen in Deutschland stärker in informellen Zusammenhängen engagiert sind, mit der Ausnahme von Jugendvereinen, die insgesamt vielfältiger geworden sind. Die Schlussfolgerung, dass diese Beteiligungsformate voraussetzungsfrei wären, verkennt aber die indirekten Teilhabehürden, um die es im nächsten Abschnitt gehen soll.
Proteste, Bewegungen, Vereine: Teilhabe ohne Hürden?
Zwei Vorfälle aus den vergangenen Jahren zeigen, dass die Debatten um Diversität von aktuellen Jugendprotestbewegungen längst auch öffentlich geführt werden: So sorgte ein Pressefoto der Presseagentur Associated Press von Greta Thunberg und vier weiteren FFF-Aktivistinnen, die 2020 zum Weltwirtschaftsforum in Davos eingeladen worden waren, für eine leidenschaftliche Diskussion um Rassismus und Repräsentation, als herauskam, dass die ugandische Klimaaktivistin Vanessa Nakate, die einzige nicht-weiße Person auf dem Foto, "aus kompositorischen Gründen" aus dem Bild geschnitten worden war.
Diese zwei Episoden deuten auf einen Umstand hin, der bei einer vielfaltssensiblen Betrachtung rasch deutlich wird: nämlich, dass auch für das Engagement in Bewegungen Hürden zu überwinden sind. Umfragen belegen, dass bestimmte Gruppen in sozialen Bewegungen wie FFF unterrepräsentiert sind: Bei einer Befragung von FFF-Demonstrant*innen des Berliner Instituts für Protest- und Bewegungsforschung gaben 96 Prozent der Befragten an, in Deutschland geboren zu sein; 16 Prozent gaben wiederum an, einen Migrationshintergrund zu haben.
Letztlich setzen auch ehrenamtliches Engagement und die Beteiligung an Protesten bestimmte Fähigkeiten und Ressourcen voraus, wodurch manchen Menschen der Zugang erschwert wird. Zunächst bedarf es Zeit, um sich zu engagieren, sowie unter Umständen Geld, um Fahrten oder Materialien zu finanzieren. Zudem müssen Menschen von der Gelegenheit des Engagements erfahren, das setzt häufig deutsche Sprachkenntnisse, aber auch den Zugang zu Netzwerken voraus. Sich zu organisieren und seine Positionen einzubringen, bedeutet darüber hinaus, das Knowhow zu haben und auch den Habitus zu kennen, wie ich mich als Protestierende oder im Verein verhalte. Hier berichten junge Menschen mit Migrationsbezügen oder aus bildungsfernen Haushalten, dass sie sich in bestimmten Räumen unwohl fühlten und beispielweise nach ihrer "eigentlichen" Herkunft gefragt werden.
Neben der direkten Kommunikation untereinander werden auch in der Kommunikation nach außen nicht selten – bewusst oder unbewusst – bestimmte Personen stärker als andere angesprochen. So kritisierten Menschen mit familiären Beziehungen in Länder des Globalen Südens die "5 vor 12"-Rhetorik führender FFF-Aktivist*innen als realitätsfern und eurozentrisch, da in vielen Staaten die Auswirkungen des Klimawandels schon heute verheerend und lebensverändernd seien.
Noch stärker treten die fehlenden Zugänge bei Repräsentations- und Vorstandspositionen auf, sodass die Gesichter von Bewegungen und Vereinen weit weniger Vielfalt repräsentieren, als gesellschaftlich vorhanden ist. Die ungleiche Teilhabe ist hier nicht nur auf Individual- sondern auch auf Organisationsebene erkennbar. In den zentralen Interessenvertretungen der Jugendverbandsarbeit wie den Jugendringen oder den Jugendhilfeausschüssen sind Organisationen mit diversen Bezügen nur randständig oder gar nicht vertreten.
Obwohl es in Deutschland viel jugendliches Engagement und eine große Vielfalt an Vereinen und Bewegungen gibt, bestehen auch hier ungleiche Teilhabezugänge. Anders als bei Parteien und Wahlen sind die Barrieren indirekter und informeller, führen aber nichtsdestotrotz zu Parallelstrukturen statt zu einem Wandel etablierter Interessen- und Vereinsvertretungen oder Repräsentationsfunktionen.
Vorbilder gesucht
Blicken wir auf Best-Practice-Beispiele von Vereinen, Institutionen und Organisationen, denen dieser Wandel gelungen ist, dann stellen wir fest, wie stark er – zumindest zu Beginn – von einzelnen Menschen abhängt. Meist erkämpfen sich Einzelne als Erste eine zentrale Position und fungieren danach als Vorbilder, zum Beispiel als Schlüsselfiguren in Jugendbewegungen. Vorbilder haben nicht nur symbolischen Wert, sondern befähigen andere junge Menschen, ihnen zu folgen. Dies führt nicht selten dazu, dass auch nachfolgende Positionen neu besetzt werden.
Solche "Gesichter nach außen" sind oft entscheidend für die Reichweite, wer angesprochen und mobilisiert wird. Bei der ersten Demonstrationsbefragung der FFF-Aktivist*innen in Deutschland zum Beispiel gaben rund 65 Prozent der Beteiligten an, dass Greta Thunberg einen maßgeblichen Einfluss auf ihre Teilnahmeentscheidung hatte.
Mit Blick auf den Status quo der Jugendverbandsarbeit in Deutschland ist es umso überraschender, dass die Bedeutung der ersten Engagementerfahrungen für spätere politische Beteiligung und demokratische Teilhabe von Forschung und Politik kaum beachtet wird. Dabei belegen Studien aus anderen Ländern eindrücklich, wie prägend erste Beteiligungserfahrungen sind. Am Beispiel ehrenamtlicher schulischer Aktivitäten wurde etwa aufgezeigt, dass sie eine wichtige Rolle für den eigenen Sozialisationsprozess und die spätere Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme spielen.
Ausblick
Im Bundestagswahljahr 2021 steht die Beteiligung an Wahlen als Form der politischen Teilhabe im Vordergrund. Mit Blick auf die demografische Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft wird die junge Bevölkerung aber selbst mit hoher Beteiligungsquote kaum eine Chance auf eine größere parlamentarische Repräsentation ihrer Interessen haben. Wie es aussieht, werden Parteien auch in nächster Zukunft junge Menschen mit ihren strukturellen und diskursiven Teilhabehürden eher abschrecken. Stattdessen wird die Anzahl der engagierten Netzwerke, die on- und offline Beteiligung kombinieren, weiter zunehmen.
Dass auf der einen Seite junges Engagement außerhalb etablierter Institutionen und Organisationen immer vielfältiger wird, auf der anderen Seite aber diese Diversität häufig nicht zu Veränderungen bestehender Strukturen, Gruppen und Repräsentationen führt, ist ein Paradoxon, dass zwei Seiten derselben Medaille zeigt. Junge Menschen, die von etablierten Organisationen nicht angesprochen werden oder sich dort nicht verorten können, gründen vermehrt ihre eigenen Interessenvertretungen. Umso entscheidender ist es, dass Forscher*innen die Hürden für Engagement und Einfluss verstärkt in den Vordergrund rücken und die (Jugend-)Politik Voraussetzungen schafft, diese abzubauen. Hier braucht es eine proaktive Politik, die die Bedeutung der ersten Erfahrungen junger Menschen mit politischem Engagement in ihrer Bedeutung erkennt und die entsprechenden Möglichkeiten dazu verstärkt und diversitätsbewusst fördert. Die Notwendigkeit zur interkulturellen Öffnung wird bislang vor allem von Aktivist*innen und Engagierten selbst thematisiert. Die Bedeutung solcher Zugänge zur Teilhabe und Repräsentation für den Zusammenhalt in unserer postmigrantischen Gesellschaft ist jedoch kaum zu überschätzen und verdient insbesondere im Jugendengagement wesentlich größere Aufmerksamkeit.