Als sich unmittelbar nach der Juliflut 2021 in Westdeutschland Betroffene und politisch Verantwortliche zu Wort meldeten, standen ihre Aussagen in einer langen historischen Tradition: Niemand habe sich so etwas vorstellen können, so hoch habe das Wasser noch nie gestanden, so plötzlich sei es noch nie gekommen. Bis in den Wortlaut hinein gleichen diese Aussagen dem, was im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Chronisten nach entsprechenden Ereignissen niederschrieben; heute fehlt freilich der Hinweis auf Gottes Zorn in der Berichterstattung, dafür wird gelegentlich von einem "Zurückschlagen der Natur" gesprochen.
Hydrologen haben inzwischen auf vergleichbare, unter Umständen sogar größere Hochwasser der Ahr in den Jahren 1804 und 1910 hingewiesen.
Während bei wiederkehrenden Hochwasser- oder Sturmflutereignissen im Jahres- oder mehrjährigen Rhythmus die Gefahr permanent im Gedächtnis gehalten wird, fehlt im öffentlichen Bewusstsein eine lange umwelthistorische Perspektive, die gefährdete Räume auch dann kenntlich macht, wenn sie über Jahrzehnte und Jahrhunderte nicht mehr von Katastrophen heimgesucht wurden.
Klima- und Witterungsgeschichte
Forschung zu natürlichen Extremereignissen der Vergangenheit war lange Zeit eine Nischentätigkeit in den historisch arbeitenden Wissenschaften, die der akademischen Karriere nicht zuträglich war. Noch heute basiert die Klima-, Witterungs- und Hochwassergeschichte Mitteleuropas nicht unwesentlich auf der jahrzehntelangen Fleißarbeit eines meteorologisch interessierten Laien, des Bankangestellten Curt Weikinn (1888–1966), der Zehntausende von Karteikarten mit Exzerpten aus historischen Quellen beschriftete.
Hydrologische Extremereignisse blieben im Vergleich zu seismischen Katastrophen häufiger unbeachtet, auch im flutgefährdeten Mitteleuropa. Hier orientierte sich die Risikoabschätzung an instrumentellen Aufzeichnungen, was die Perspektive fatalerweise stark verkürzte. 2011 haben Schweizer Klimahistoriker eindrücklich gezeigt, dass vormoderne Hochwasserereignisse am Hochrhein sehr viel ausgeprägter waren,
Eine dringend notwendige Ausweitung der nach allen Regeln der historischen Kritik erstellten Datenbasis über das vergangene Jahrtausend bietet also eine große Chance, anwendungsorientiertes Wissen aus der Geschichte zu generieren. Nicht zuletzt ist es die solide geschichtswissenschaftliche Ausbildung in ihrer methodischen und epochalen Tiefe auch vor 1800, die Fachleute hervorbringt, die vormoderne Überlieferung in klimahistorische Daten transformieren können. Und trotz aller Pionierarbeiten ist hier noch viel zu tun; von einer Institutionalisierung an Universitäten und Forschungseinrichtungen ist die Klimageschichte weit entfernt. In der verschränkten Expertise von Geistes- und Naturwissenschaften liegt ein ungleich höheres Erkenntnispotenzial im Blick auf die Extreme der Vergangenheit und deren Bedeutung für die Zukunft als in einzeldisziplinärer Betrachtung.
Erinnerung an Extremwetter im öffentlichen Raum
Doch die Vormoderne und die für sie zuständige Forschung hat zum rapiden, anthropogenen Klimawandel unserer Gegenwart und Zukunft mehr beizutragen als nur Daten für Rekonstruktionen. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Städte erinnerten durch Hochwassermarken an prominenten Orten wie Kirchen und Brücken an vergangene Wasserstände. Alle Nachgeborenen waren tagtäglich mit dem Gefahrenpotenzial der Flüsse konfrontiert, an denen sie lebten. Auch heute gibt es Hochwassermarken, doch diese sind viel weniger auffällig und meist nicht prominent platziert. Darüber hinaus verweisen sie nur selten so weit in die Vergangenheit, wie es nötig wäre. Analog ist auf die sogenannten Hungersteine zu verweisen: Niedrigwassermarken nicht nur, aber vor allem in der Elbe,
Noch eindrücklicher wussten vormoderne Kommunen ihre Bürger als Erinnerungsgemeinschaft einzuschwören: durch religiöse Prozessionen, wie in Frankfurt zur Erinnerung an die "Magdalenenflut", bei denen die Einwohner alle im Jahr 1342 überschwemmten Stadtteile jährlich feierlich abgingen.
Ähnliches gab es in Erfurt, wo man sogar bis 1923 durch einen Umgang an ein Massengrab erinnerte, das Opfer der regeninduzierten Hungersnot von 1316/17 barg.
Extreme Wetterlagen verheerten immer wieder ganze Regionen, wie die "Thüringer Sintflut" von 1613 zeigt. Am 29. Mai 1613 bildeten sich große Gewitterzellen über Thüringen, und gänseeigroße Hagelkörner zerschlugen abends Dächer und Feldfrüchte; der Abfluss der starken Niederschläge ließ in der Nacht die Ilm, einen Nebenfluss der Saale, abrupt um sechs bis acht Meter anschwellen, was Hunderte Menschen, Tausende Stück Vieh, Brücken und Bäume fortriss und in Erfurt 125, in Weimar 44 Häuser zerstörte. Böden wurden erodiert, Wiesen in den Tälern mit Kies, Sand und Lehm überschüttet. Flugschriften, Denkmale und Hochwassermarken erinnerten an das den Julifluten 2021 vergleichbare Ereignis; Maßnahmen zum effektiven Schutz vor erneutem Hochwasser blieben aus.
Solche Flutereignisse lassen sich gerade für spätere Perioden auch kulturgeschichtlich kontextualisieren: So glückte dem 13-jährigen Ludwig van Beethoven am 27. Februar 1784 die Flucht aus der elterlichen Wohnung im zweiten Stock des Hauses Rheingasse 7 in Bonn, und er erreichte mit Mutter Maria Magdalena und seinen Brüdern über eiligst errichtete Stege und Leitern einen hochwassersicheren Ort – nachdem sich die in Ehrenbreitstein bei Koblenz aufgewachsene und dort hochwassererprobte Mutter noch über Stunden in vermeintlicher Sicherheit gewähnt hatte.
Wege zur Resilienz
Eine Erinnerungskultur der Umweltrisiken und ihrer Bewältigung ist nur ein Baustein gesellschaftlicher Resilienz in der anthropogenen Klimaerwärmung. In der Adaptionsdiskussion geht es um Infrastrukturen, und tatsächlich nahm Resilienz als Konzept ihren Ausgang in den Ingenieurswissenschaften: als Eigenschaft von Materialien, äußere Schocks zu absorbieren und dabei Funktionalität zu bewahren. Inzwischen hat das Konzept eine Blitzkarriere in verschiedenen Disziplinen durchlebt, so in der Ökologie, Ökonomie, Psychologie und Geschichtswissenschaft.
Als Musterbeispiel liegt hier das Römische Reich nahe. Nach einem Jahrhundert grundstürzender Veränderungen angesichts militärischer Gefahren an fast allen Grenzen und zahlreicher Umweltstressoren (Pest, Klimawandel), erfand das Imperium sich neu und blieb doch das alte: Wir sprechen von Byzanz, um den politischen, institutionellen und ökonomischen Bruch zu betonen, aber die Byzantiner verstanden sich weiterhin als Römer und nannten sich auch so.
Ein wichtiges Ergebnis ist dabei, dass Resilienz keine vorbestimmte gesellschaftliche Eigenschaft ist. Sie kann verloren gehen, aber auch (wieder) aufgebaut werden.
Daher ist der Aufbau von Resilienz in unseren Gesellschaften, die bald noch größere natürliche Stressoren erleben werden als die gegenwärtige Pandemie, nicht nur ein Thema der Forschung, sondern eine politische Aufgabe. Jenseits der gesamtgesellschaftlichen Transformationsaufgaben ist es eine besondere Herausforderung, den normalen Bürger mit dem Thema "Resilienz" langfristig zu erreichen: Tiefgreifender Wandel ist erst dann akzeptabel, wenn einsichtig wird, dass wir nur so Werte und Selbstverständnis unserer Gesellschaft beibehalten können. Eine umwelt- und klimahistorisch informierte Geschichtswissenschaft kann verschiedene Elemente für den Pfad zur Resilienz bereitstellen: Eine Überarbeitung schulischer Lehrpläne und Informationen für die Öffentlichkeit durch Ausstellungen,
Der Beitrag erschien bereits in einer Kurzfassung ohne Anmerkungen: Martin Bauch/Hans-Rudolf Bork/Adam Izdebski, Vergessenes Extremwetter. Uns fehlt eine Erinnerungskultur für meteorologische Katastrophen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 7. 2021, S. 11.