Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Jenseits des Erwartungshorizonts | Geschichte und Erinnerung | bpb.de

Geschichte und Erinnerung Editorial Jüdische Gegenwart und ihre Funktionalisierung im deutschen Gedenken an die Schoa Von den Deutschen lernen? Koloniale Ursprünge? Zur Debatte um mögliche Wege von Windhuk nach Auschwitz Denkmalsturz und Denkmalschutz. Positionen der Denkmalpflege zum Umgang mit Denkmälern des Kolonialismus Verwobene Geschichten – geteilte Erinnerungen Ein Flugzeug als Objekt staatlicher Erinnerungspolitik? Die "Landshut" als deutscher Erinnerungsort Jenseits des Erwartungshorizonts. Pandemie und kollektives Gedächtnis Vergessenes Extremwetter. Umwelthistorische Wegweiser auf dem Pfad der Resilienz

Jenseits des Erwartungshorizonts Pandemie und kollektives Gedächtnis

Astrid Erll

/ 17 Minuten zu lesen

Nichts scheint ferner zu liegen, als während einer Pandemie über Gedächtnis nachzudenken. Wir stecken noch mittendrin. Aber das gesellschaftliche Erinnern und Vergessen von Pandemien hat die Erfahrung von Covid-19 stark vorgeprägt. Praktiken des historischen Erinnerns, des Archivierens und Gedenkens haben sich als wichtige Ressourcen inmitten der Coronavirus-Pandemie erwiesen. Und als erinnerter Gegenstand schließlich wird Covid-19 auch die Zukunft unserer Gesellschaft mitprägen. Deshalb diskutiere ich in diesem Beitrag die Rolle des kollektiven Gedächtnisses vor, während und nach der Coronavirus-Pandemie.

Die Forschung zum kollektiven Gedächtnis geht zurück auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs, der in den 1920er Jahren den Begriff der mémoire collective prägte. Halbwachs betonte, dass Erinnerungen stets "sozial gerahmt" sind. Heute wird die Gedächtnisforschung im Rahmen der interdiziplinären Memory Studies betrieben. Das kollektive Gedächtnis ist ein komplexer Prozess, an dem biologische, psychische, soziale, mediale, kulturelle und materielle Aspekte beteiligt sind und der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in immer neue Beziehungen zueinander setzt. Die Begriffe "individuell" und "kollektiv" sind daher kein Gegensatzpaar, sondern zeigen eher verschiedene Perspektiven der Forschung im Bereich der Memory Studies an: Die Psychologie wählt als Zugang individuelle Gedächtnisleistungen, die Soziologie wird eher gesellschaftliche oder transnationale Prozesse beobachten. Ebenso wenig steht das kollektive Gedächtnis im Gegensatz zur Geschichte. Das historische Geschehen ist ein Gegenstand, die wissenschaftliche Geschichtsschreibung ist ein Modus des kollektiven Gedächtnisses.<

Kollektives Gedächtnis vor der Pandemie

Es ist verwunderlich, wie wenig die Menschen in Europa auf eine globale Pandemie vorbereitet waren. Eigentlich hätten wir es kommen sehen können. Das vergangene Jahrhundert war geradezu geprägt von Epidemien und Pandemien: Asiatische Grippe (1957/58), Hongkong Grippe (1968–1970), Russische Grippe (1977/78), seit den 1980er Jahren HIV/AIDS, SARS (2002/03, das heißt SARS-CoV, das erste SARS-Coronavirus), Vogelgrippe (2004), Schweinegrippe (2009/10), MERS (2015), das Zikavirus (2015/16) und Ebola (2014–2016).

Pandemien sind also regelmäßig wiederkehrende Ereignisse. Der Medizinhistoriker Frank M. Snowden hat Ebola und SARS bereits 2019 als "Kostümproben" für die nächste Pandemie des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Die meisten Menschen in Europa scheinen Epidemien und Pandemien allerdings weitgehend ignoriert beziehungsweise ihre Vorstellungen davon auf "das Andere" projiziert zu haben – entweder auf das vormoderne Selbst (die Pest) oder auf das kulturell und geografisch Andere. So schien Ebola ein Problem Westafrikas, und die "asiatischen Grippen" der 2000er Jahre schienen (wie ihr Name auch fälschlicherweise implizierte) eine Sache Asiens zu sein.

Die vergessene Spanische Grippe

Aber wenn all diese neueren Pandemien nicht denkwürdig genug gewesen waren, so hätte doch die große Influenza-Pandemie von 1918/19 (die sogenannte Spanische Grippe) mit ihrer gewaltigen Zahl an Todesopfern einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis einnehmen müssen. Die Spanische Grippe kam in drei Wellen, vom Frühjahr 1918 bis zum Frühjahr 1919. Neuere Schätzungen aus der Medizingeschichte besagen, dass sie zwischen 50 und 100 Millionen Menschen weltweit tötete, 2,5 bis 5 Prozent der Weltbevölkerung.

Für Laura Spinney, Autorin von "1918 – Die Welt im Fieber", einer äußerst lesenswerten Globalgeschichte der Spanischen Grippe, war diese Pandemie "die größte Vernichtungswelle seit dem schwarzen Tod im Mittelalter, ja vielleicht sogar die größte der Menschheitsgeschichte", mit Opferzahlen, die "den Ersten Weltkrieg (17 Millionen Tote), den Zweiten Weltkrieg (60 Millionen Tote) und vielleicht sogar beide zusammen in den Schatten stellten". Die Spanische Grippe ist "die Mutter aller Pandemien", denn durch virale Mutationen führte sie zu vielen kleineren Grippewellen. Aber in Europa war sie vor dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie im Großen und Ganzen vergessen.

Erfahrungsraum und Erwartungshorizont

Am Beginn des Jahres 2020 gehörten Pandemien für die meisten Menschen in Europa einfach nicht zu dem, was Reinhart Koselleck als "Erfahrungsraum" bezeichnet hat. Was in einer Kultur wahrgenommen, erfahren und erinnert wird, formt das, was als mögliches Szenario für die Zukunft imaginiert werden kann: den "Erwartungshorizont". Die Spanische Grippe jedoch war in Europa weder Teil der Gedenkkultur noch des Lehrplans in Schulen – und das galt auch trotz der vermehrten Aufmerksamkeit, die sie zum Anlass ihres hundertsten Jahrestags 2018 erhalten hatte.

Genau deshalb konnte es dazu kommen, dass die Coronavirus-Pandemie das Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont so gründlich durcheinanderbrachte. Was Menschen in Europa gestern noch dachten oder zu wissen glaubten (über die Gefahren von Atemwegserkrankungen, über die Möglichkeit von Ausgangssperren und Ad-hoc-Gesetzgebung in demokratischen Gesellschaften, über die Schulpflicht, über ökonomische Stabilität oder über das Tragen von medizinischen Masken) war in nur wenigen Wochen wie weggeblasen. Die neuartige Erfahrung der Pandemie sprengte den Erwartungshorizont in fast jeder Hinsicht. Covid-19 entwickelte sich schnell zu einer "Zumutung", wie Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 23. April 2020 bemerkte. Das Virus war eine Zumutung nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die durch das kollektive Gedächtnis vermittelten gesellschaftlichen Vorstellungen von zeitlichen Rhythmen und Wandel.

Doch was gleichzeitig auf der ganzen Welt geschieht, wird nicht zwangsläufig überall gleichartig wahrgenommen. Der Grund hierfür liegt in der unterschiedlichen Ausprägung kollektiver Gedächtnisse: Die südkoreanische Gesellschaft etwa zeigte sich viel besser vorbereitet auf die Coronavirus-Pandemie, wohl aufgrund ihrer jüngsten Erfahrungen mit schweren Ausbrüchen von SARS (2002) und MERS (2015). Menschen in Westafrika erschienen im Frühjahr 2020 nur wenig überrascht von Covid-19, wahrscheinlich auch, weil sie noch die verheerenden Auswirkungen von Ebola 2014 im Gedächtnis hatten. Außerdem sind Unterschiede in lokalen Wissensordnungen sowie das Gewohnheitsgedächtnis mitzubedenken: In weiten Teilen Asiens ist die Nutzung von medizinischen Atemmasken eine Gewohnheit, die bis auf die Spanische Grippe zurückzugehen scheint – während in Europa im Frühjahr 2020 lange Kontroversen über deren relative Nützlichkeit und Angemessenheit geführt wurden.

Prämedialisierung

Ich verwende den Begriff der "Prämedialisierung", um zu beschreiben, wie kollektives Gedächtnis die Zukunft formt, das heißt die Art und Weise, wie Gruppen und Gesellschaften neue Ereignisse antizipieren, deuten und bewältigen. Warum dieser zugegebenermaßen etwas sperrige Begriff? Von Gestik und mündlicher Kommunikation über Bücher, Fernsehen und das Internet – Erinnerungen brauchen ein Medium, um zum Ausdruck gebracht und sozial geteilt zu werden. Kollektives Erinnern basiert auf Medialisierung. Kollektive Erwartungen sind daher immer medial vorgeformt beziehungsweise prämedialisiert.

Beispiel Spanische Grippe: In Europa war die Spanische Grippe nicht ausreichend medialisiert und remedialisiert worden, als dass sie sich in eine prämedialisierende Kraft für die Erfahrung von Covid-19 hätte verwandeln können. Es gibt keine weithin bekannten zeitgenössischen Memoiren, Gemälde oder Romane über die Spanische Grippe, keine starken visuellen Ikonen oder Narrative, um die sich herum ein gesellschaftliches Gedächtnis hätte herausbilden können. Edvard Munchs "Selbstporträt mit der Spanischen Grippe" (1919) oder Egon Schieles "Kauerndes Menschenpaar (Die Familie)" (1918) etwa sind beeindruckend, gehören aber nicht zu den zentralen Werken der Künstler. Kein eindrückliches visuelles Ikon scheint überlebt zu haben. Die starke kollektive Erinnerung an die mittelalterliche Pest hingegen basiert genau darauf, dass es langlebige Kunstwerke gibt – wie etwa die gemalten Totentänze, die heute noch in Kirchen in ganz Europa zu finden sind, oder literarische Klassiker wie Giovanni Boccaccios "Dekameron" (ca. 1349–1353) –, die bis heute zum Kanon europäischer Gesellschaften gehören.

Erinnerbarkeit

Verschiedene Gründe haben zur geringen Erinnerbarkeit (memorability) der Spanischen Grippe beigetragen. Erstens war sie als historisches Ereignis nicht klar genug konturiert. Das Grippevirus H1N1 war unsichtbar und schnell. Es tötete Menschen oft innerhalb von nur drei Tagen. Und es war nicht diagnostizierbar, weil Viren noch nicht unter dem Elektronenmikroskop sichtbar gemacht worden waren (das würde erst in den 1930er Jahren geschehen). Deshalb wurde die Grippe mit anderen damals grassierenden Epidemien, etwa der Tuberkulose, vermischt. Zudem forderten Krieg und Hunger ihre Opfer. All dies machte es den Zeitgenossen schwer, die Grippe als ein einzelnes, von anderen klar differenzierbares Ereignis wahrzunehmen.

Zweitens folgte daraus ein Mangel an narrativem Potenzial – die Möglichkeit, aus einem unübersichtlichen historischen Geschehen eine wohlgeformte Geschichte zu erzeugen. Denn wie soll eine solche Geschichte entstehen, wenn nicht klar ist, was das Ereignis eigentlich ist, wie und wo es begann, wie es sich entwickelte und wann es zu Ende war?

Drittens hatte der Grippetod zu einer Zeit, als Soldaten auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs starben und heroisiert wurden, für die involvierten Gesellschaften einen geringeren Grad an "Erzählbarkeit" (tellability) beziehungsweise Nachrichtenwert.

Viertens tendieren Erinnerungskulturen zum Normativen: Aber eine "Moral von der Geschicht" lässt sich einfacher aus Kriegen, Genoziden und Terrorakten ziehen, bei denen menschliche Schuld und Verantwortung deutlicher fassbar sind. Erst langsam entwickelt sich angesichts von Klimawandel und Anthropozän ein Bewusstsein dafür, dass auch Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Pandemien vom Menschen (mit)gemacht und zu verantworten sind.

Fünftens und letztens ist Erinnerbarkeit auch eine Frage der Archive: Wenn ein Ereignis wie die Spanische Gruppe von den Zeitgenossen nicht klar als Ereignis erkannt wird, dann führt dies zu einem Mangel an einer bestimmten Sorte von Quellen – jenen Quellen, die die Erfahrung der Pandemie zum Ausdruck bringen und zukünftigen Generationen überliefern wollen. (In der Geschichtswissenschaft werden sie als "Tradition" bezeichnet; im Gegensatz zum "Überrest", dem unabsichtlich übrig gebliebenen Quellenmaterial.)

Was heißt kollektives Erinnern und Vergessen?

Natürlich gibt es zahlreiche globale Spuren beziehungsweise Überreste der Spanischen Grippe. Dazu gehören vor allem medizinische und statistische Quellen, die die Virologie und in den vergangenen Jahrzehnten auch vermehrt die Medizingeschichtsschreibung nutzen. Für die Virologie ist das im Laufe des 20. Jahrhunderts offenbar ausgestorbene Grippevirus H1N1 eine Art fundierendes Ereignis. 2005 wurde es zu Forschungszwecken sogar genetisch rekonstruiert. Im Wissenschaftssystem wurde die Erinnerung an die Spanische Grippe also durchaus wachgehalten. Ein ganz anderer Rahmen, in dem die Überlieferung nie abgebrochen ist, ist das Familiengedächtnis. Wie Guy Beiner et al. in "Pandemic Re-Awakenings" (2021, "Zeit des pandemischen Wiedererwachens") zeigen, gibt es bis heute weltweit Familien, die noch wissen, dass ihre Vorfahren an der Spanischen Grippe verstorben sind.

Kollektives Erinnern bedeutet also nicht, dass alle Individuen identische mentale Repräsentation in ihren Köpfen hätten. Es heißt vielmehr, dass bestimmte Vergangenheitsversionen in sozialen Gruppen und Gesellschaften über Diskurse, Medien und Praktiken immer wieder aktualisiert werden und gut mit anderen Themen vernetzt sind. Ebenso bedeutet kollektives Vergessen nicht, dass sämtliche Spuren eines vergangenen Ereignisses verloren wären. Es bedeutet nur, dass Erinnerungsakte in bestimmten sozialen Rahmen fehlen. So können Ereignisse in der öffentlichen Erinnerung vermieden, verschwiegen und tabuisiert werden oder schwer artikulierbar erscheinen. Oft leben Erinnerungen aber (wie im Falle der Spanischen Grippe) in familialen oder lokalen Rahmen weiter – oder in wissenschaftlichen Spezialdiskursen.

Kollektives Gedächtnis während der Pandemie

Welche Rolle spielte und spielt das kollektive Gedächtnis während der Coronavirus-Pandemie? Welche Erinnerungen hat die Erfahrung der Pandemie ausgelöst? Welche wurden strategisch beschworen? Und welche ersten erinnerungskulturellen Praktiken sind bereits im Verlauf der Pandemie zu beobachten?

Historische Analogien

Paradoxerweise hat ein transnational operierendes Virus zunächst zu einer Renationalisierung, auch im Bereich der Erinnerung, geführt. Nationale Gedächtnisse wurden nach historischen Analogien durchstöbert, um die pandemische Situation zu begreifen und politisches Handeln zu legitimieren. Dabei wurden zunächst die "üblichen Verdächtigen" der Erinnerungskultur aktiviert: Boris Johnson erinnerte an die britische Kampfbereitschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt während des Zweiten Weltkriegs. Emmanuel Macron wiederholte in seiner ersten Corona-Ansprache an die Nation sechs Mal "nous sommes en guerre" – wir sind im Krieg. Donald Trump verglich Covid-19 im Mai 2020 mit Pearl Harbour (und implizierte damit eine hinterhältige Attacke von "Asiaten"). Auf mehr oder weniger plakative Weise wurde dem Virus "der Kampf" angesagt. Bezüge zum Zweiten Weltkrieg hatten in den Gesellschaften der Alliierten von damals sicher vergemeinschaftende und mobilisierende Wirkung. Es ist das bekannte Muster der kollektive Identität stiftenden Erinnerung (etwa im Sinne von: damals wie heute "wir" gegen "sie", beziehungsweise in diesem Fall, gegen "es"). Aber wie Susan Sontag bereits 1988 in ihrem Essay "Aids und seine Metaphern" gewarnt hat, dient die Metapher des "Krieges" meist auch der Legitimierung von Notständen und großen gesellschaftlichen Opfern.

Die Erfahrung der Coronavirus-Pandemie führte auch zu einer Rückbesinnung auf historische Pandemien. Zum ersten Mal seit einem Jahrhundert erhielt die Spanische Grippe nun breite Aufmerksamkeit. Auch die Pest und HIV/AIDS rückten ins Zentrum des Interesses. Neue vergleichende Studien zur Geschichte von Pandemien wurden veröffentlicht, wie etwa Mark Honigsbaums "Das Jahrhundert der Pandemien" (2021). Klassische literarische Werke zum Thema – von Boccaccios "Dekameron" und Defoes "Die Pest zu London" (1722) bis zu Camus’ "Die Pest" (1947) – wurden unerwartet wieder zu Bestsellern, neu gelesen und besprochen.

(Schlechte) Denkgewohnheiten

Die Pandemie hat auch altes stereotypes Denken hervorgetrieben. Die Gewohnheit, Ängste vor dem Anderen in eine Sprache der Infektion, der Krankheit und des Verfalls zu kleiden, hat eine lange Geschichte. So wurden im Mittelalter Juden und Prostituierte als Quelle der Beulenpest gehandelt. Tiefsitzende und teilweise jahrtausendealte Praktiken der negativen Stereotypisierung und des Sündenbock-Denkens tauchen plötzlich wieder auf – darunter auch solche, die man längst für ausrangiert gehalten hatte. Die weltweite Verbreitung solcher wiederkehrender Stereotypen zeigt sich in einer bereits im Frühjahr 2020 auf Wikipedia begonnen Liste von Beispielen für "Xenophobie und Rassismus im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie". Sie hat Hunderte von Einträgen, die von Sinophobie in Nigeria über antijapanische Diskriminierung in Deutschland bis hin zu Antisemitismus in den USA reichen. Stereotypen sind implizite kulturelle Muster, Denkgewohnheiten, die auf noch nicht ausreichend erforschten Wegen über das intergenerationelle Gedächtnis und die Medienkultur weitergegeben werden.

Einer von über 4000 Beiträgen aus dem Coronarchiv: „Masken-Evolution“ von Meike Mittmeyer-Riehl (CC) Lizenz: cc by-sa/4.0/deed.de

Auf der politischen Bühne wurden rassistische Stereotypen strategisch eingesetzt, um das kollektive Gedächtnis der Zukunft bereits während der Pandemie vorzuformen. Trump bezeichnete Covid-19 als "chinesisches Virus", die chinesische Regierung konterte, dass es sich wohl eher um ein "amerikanisches Virus" handle. Solche Kämpfe um die Bezeichnung von Pandemien sind ebenfalls nicht neu: Die Spanische Grippe erhielt nur deshalb ihren Namen, weil das im Ersten Weltkrieg neutrale Spanien zuerst öffentlich zugab, von einer Grippewelle betroffen zu sein, während die Zensur der Kriegsmächte diese Tatsache verschleierte. So falsch der Name auch war – er blieb im kollektiven Gedächtnis haften und mit ihm ein falsches Geschichtsbild. Auch um solche Praktiken der "prospektiven Erinnerungspolitik" zu verhindern, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation seit 2015, stigmatisierende oder irreführende Bezeichnungen von Infektionskrankheiten zu vermeiden. Der Name "Covid-19" ist Ergebnis dieser Bemühungen.

All diese Beispiele zeigen, dass gegenwärtige Krisen wie Abrufhinweise für das kollektive Gedächtnis fungieren. Die aktualisierten Erinnerungen reichen dabei von aktiv gezogenen historischen Analogien über das Hervorbrechen von nur scheinbar vergessenen alten Stereotypen bis hin zu deren strategischer Funktionalisierung.

Archive und Kommemoration

Das Denken in historischen Analogien ist mittlerweile als eine abgeschlossene erste Phase der Orientierung und Bewältigung in der Corona-Pandemie erkennbar. Ein solches Suchen nach der Wiederkehr bestimmter Konstellationen impliziert ein zyklisches Geschichtsdenken. Mit der zweiten Welle im Herbst 2020 schien die Gesellschaft in der Gegenwart der Corona-Pandemie angekommen zu sein. Einzigartigkeit und Eigenart des historischen Ereignisses "Covid-19" waren deutlich hervorgetreten. Das kollektive Gedächtnis operierte nun nicht mehr vergangenheitsorientiert, sondern zunehmend zukunftsorientiert.

Dazu gehörte der Aufbau diverser Corona-Archive. Am bekanntesten in Deutschland ist das Onlineportal Coronarchiv, das "Erlebnisse, Gedanken, Medien und Erinnerungen zur ‚Corona-Krise‘" sammelt. Weltweit sind Hunderte von Initiativen entstanden, die die Erfahrungswirklichkeit der Coronakrise zu dokumentieren versuchen. Viele Museen haben begonnen, eigens Corona-Sammlungen anzulegen. All diese Projekte beruhen auf der Einsicht, dass sich die Weltgesellschaft in einem historischen Moment befindet, dessen Quellen an zukünftige Generationen überliefert werden sollten.

Auch Literatur und Kunst versuchen, die pandemische Gegenwart zum Ausdruck zu bringen und für die Zukunft festzuhalten. Das von der schottischen Lyrikerin Carol Ann Duffy aufgelegte "Write where we are Now"-Projekt ist auf eine große, internationale Sammlung von Gedichten zur Corona-Pandemie angewachsen. Auch Corona-Comics gehören zu den Kunstformen, die sich weltweit intensiv mit der Pandemie auseinandersetzen. In Deutschland sind mit Juli Zehs "Über Menschen" (2021) oder Thea Dorns "Trost. Briefe an Max" (2021) erste Romane und Erzählungen zur Pandemie erschienen. Dieses Tempo der Erfahrungsverarbeitung in literarischen Langformen ist ungewöhnlich. Das wird deutlich, wenn man es etwa mit der erst zehn Jahre nach seinem Ende einsetzenden Romanproduktion zum Ersten Weltkrieg vergleicht oder sich erinnert, wie lange Deutschland auf seinen "Wenderoman" gewartet hat.

Formen der kommemorativen Erinnerung schließlich setzten bereits während der Pandemie ein. Als sich die Coronavirus-Pandemie jährte, wurden erste offizielle Gedenkrituale vollzogen: Mario Draghi legte am 18. März 2021, Italiens nationalem Gedenktag für die Opfer der Corona-Pandemie, einen Kranz in Bergamo nieder. Bundespräsident Frank Walter Steinmeier richtete am 18. April 2021 die zentrale Gedenkfeier für die in der Corona-Pandemie Verstorbenen aus. Das Totengedenken (für Jan Assmann die "Ur-Szene" des kulturellen Gedächtnisses) setzte also nicht erst nach Ende des Ereignisses ein, sondern bereits in dessen Verlauf – auf nationaler Ebene nach dem symbolträchtigen Ablauf eines Jahres. Neben solchen öffentlichen und traditionsreichen Sprachen der nationalen Kommemoration stehen Basisbewegung des Gedenkens. Dazu gehören etwa die zunächst nicht autorisierte National Covid Memorial Wall an der Themse, die von Gedächtnis-Aktivisten mit Tausenden roten Herzen bemalt wurde, oder die zahlreichen Corona-Gedenkseiten im Internet.

Kollektives Gedächtnis nach der Pandemie

Was wird nach dem Ende der Pandemie von den "Corona-Jahren" in Erinnerung bleiben? Wenn man die Quellenlage betrachtet, ist man versucht zu sagen: alles! In unserer selbstreflexiven Erinnerungskultur ist das Bewusstsein, in einem historischen Moment zu leben, groß, und Ad-hoc-Historisierungen der Pandemie zeigen sich überall: Jede Sekunde der pandemischen Zeit scheint auf digitalen Medien aufgezeichnet und über soziale Netzwerke verbreitet und geteilt zu werden. Was die Spanische Grippe nicht hatte – ein bewusst erzeugtes Archiv ihrer Erfahrungswirklichkeit – ist genau das, wodurch die Corona-Pandemie charakterisiert ist. Es ist die erste weltweit digital erlebte und bezeugte Pandemie, ein Testfall für die Produktion globaler Erinnerung im Zeitalter neuer Medien. Dabei stellt sich jedoch die Frage, welche medialisierten Erfahrungen, Überzeugungen und Narrative es in dominante Erinnerungskulturen der Zukunft schaffen werden. Denn das kollektive Gedächtnis ist hoch selektiv.

Entstehung und Bestand des kollektiven Gedächtnisses hängen zum einen von Top-down-Prozessen der Kommemoration ab. Die Frage lautet also: Werden (nationale und internationale) Corona-Gedenktage eingeführt? Wird es Pandemie-Museen geben (die vielleicht auf den Archiven und Sammlungen basieren, die heute schon angelegt werden)? Wird die Pandemie Teil des Lehrplans an Schulen? Es gibt zum anderen aber auch andere Wege des kollektiven Gedächtnisses, etwa eine Bottom-up-Dynamik, die auf einer geteilten und tiefempfundenen Erfahrung basieren. Generationsgedächtnisse sind ein Beispiel dafür.

Generation und Gedächtnis

Wahrscheinlich wird die Corona-Pandemie eine Generation im Sinne von Karl Mannheim hervorbringen, also eine Gruppe von etwa Gleichaltrigen, die sich über eine prägende Erfahrung während ihrer Formativperiode definiert (oder von anderen definiert wird). Als "Formativperiode" oder "kritische Jahre" wird üblicherweise der Zeitraum im Alter zwischen 17 und 24 bezeichnet. Soziologische Forschung zeigt, dass Ereignisse in diesem Lebensabschnitt politische Überzeugungen besonders prägen. Kognitionspsychologische Studien gehen von einem Reminiszenzeffekt (reminiscence bump) in der autobiografischen Erinnerung aus: Wir erinnern uns am besten an Ereignisse aus unserer Formativperiode.

Insbesondere für jüngere Menschen ist die Pandemie ein besonders einschneidendes Ereignis, mit der Schließung von Schulen und Universitäten, der Unmöglichkeit von Treffen in größeren Gruppen, Auslandsaufenthalten oder rites de passage wie Abiturfeiern – alles Aktivitäten, die in diesem Teil der Welt den Lebensabschnitt der Jugend und des frühen Erwachsenenalters definieren. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Covid-19 als Bestandteil eines Generationsgedächtnisses in den kommenden Jahrzehnten erhalten bleibt. Ob diese Erfahrungen der "Corona-Jahre" jedoch die Generationsschwelle überwinden, wird davon abhängen, ob die Pandemie im Rückblick als transformatives (nicht bloß einschneidendes, sondern Familie oder Gesellschaft in fundamentalem Sinne veränderndes) Ereignis wahrgenommen wird.

Pandemie erzählen

Kollektives Gedächtnis basiert auf Selektion, der Auswahl von (kapazitätsbegründet nur sehr wenigen) zu erinnernden Elementen, und auf narrativer Strukturierung, das heißt deren Anordnung in die Form einer kohärenten Erzählung. Wie also wird die Coronavirus-Pandemie in Zukunft erzählt werden? Narrative Strukturen sind für das kollektive Gedächtnis grundlegend. Denn jede Erfahrung und jedes historische Ereignis wirft Fragen nach seinem Anfang, Verlauf und Ende auf. Für den Geschichtstheoretiker Hayden White steht die "Erklärung durch narrative Strukturierung (emplotment)" am Anfang jeden historischen Erzählens. Erzählungen und Erzählstrukturen sind also unvermeidbar. Problematisch sind kontrafaktische Narrative oder rücksichtslos vereinfachende und verfälschende Verschwörungsmythen, die heute um den Eingang in das kollektive Gedächtnis mit (den sicher weniger aufregenden) faktenbasierten Erzählungen um Covid-19 ringen. Welche narrativen Strukturen aber sind nötig, um das komplexe Geschehen und die diversen Erfahrungen der Pandemie möglichst angemessen und produktiv in das kollektive Gedächtnis zu überführen?

Wie alle Pandemien stellt auch die Corona-Pandemie eine besondere narrative Herausforderung dar. Pandemien sind Naturkatastrophen, und Naturkatastrophen sind schwierig erzählbar – zumindest im Rahmen unserer modernen Erinnerungskulturen, wie sie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts nach den Weltkriegen, dem Holocaust, der Erfahrung mit Staatsterror und autoritären Regimes sowie mit globalem Terrorismus herausgebildet haben. Diese Erzählungen sind (mit gutem Grund) anthropozentrisch und normativ. Sie legen den Akzent auf die Taten, die Schuld und Verantwortung von Individuen und Gesellschaften.

Aber wer sind die "Täter", wenn die Katastrophe von einem Strang RNA verursacht wurde? Wie wären "Helden" neu zu definieren? Wer gehört alles zu den "Opfern"? Und was ist die "Moral von der Geschicht"? Um diese Fragen zu beantworten, müssen zukünftige Erinnerungskulturen lernen, stärker mit der Denkfigur des "implizierten Subjektes" (Michael Rothberg) und in einem posthumanen Rahmen zu operieren. Nötig ist eine Form des Erinnerns, die nicht vormodern oder modern ist, sondern die ich als "relational" bezeichne. Was heißt das?

Relational erinnern

Wir leben in einer "Weltrisikogesellschaft" (Ulrich Beck), in der Katastrophen durch das Zusammenwirken vieler Menschen geschehen, die sich individuell keiner Schuld bewusst sind. Der amerikanische Holocaustforscher Michael Rothberg hat dafür den Begriff des "implizierten Subjekts" geprägt. Implizierte Subjekte sind aktive Teile eines Systems, das Katastrophen verursacht. Soziale Ungerechtigkeit, Rassismus, Hunger in der Welt, Klimawandel und Artentod sind Beispiele dafür, wie die meisten Menschen (vor allem in der westlichen Welt) als implizierte Subjekte Verantwortung mittragen, auch, wenn Schuld und Täterschaft in diesen Fällen nicht einfach zu definieren sind, und sogar dann, wenn sie selbst zum Opfer werden.

Diese wichtige Denkfigur in einem posthumanen Rahmen zu erweitern, bedeutet sich einzugestehen, dass wir uns in einem nicht auseinander dividierbaren Zusammenwirken (Donna Haraway nennt das sympoiesis, Jane Bennett distributive agency) mit nicht-menschlichen Akteuren wie Tieren, Pflanzen oder Mikroben befinden. Bei der Coronavirus-Pandemie kommt die Tendenz von Virus-RNA, zu mutieren und Speziesgrenzen zu überspringen, zusammen mit der Tendenz des Menschen, in den Lebensraum von Wildtieren einzudringen und daher solche Sprünge – und damit den Beginn von Pandemien – wahrscheinlicher zu machen. Pandemien sind selten auf eindeutige Ursachen und klar definierbare Täter zurückzuführen. Aber sie sind, wie Snowden schreibt, auch "keine zufälligen Ereignisse (…) Sie breiten sich entlang von Umweltzerstörung, Überbevölkerung und Armut aus."

Im Jahr 2021 erleben wir gleichzeitig eine globale Pandemie, Flut- und Feuerkatastrophen und das Schmelzen der Pole. Es ist anzunehmen, dass die Coronavirus-Pandemie mit diesen Ereignissen des Klimawandels in der kollektiven Erinnerung assoziiert bleiben wird. Ob die Pandemie in der Zukunft jedoch als Wendepunkt in der Klimageschichte erinnert werden wird oder als Kipppunkt, werden erst die Entwicklungen der nächsten Jahre zeigen.

ist Professorin für anglophone Literaturen und Kulturen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und forscht unter anderem im Bereich der Memory Studies.
E-Mail Link: erll@em.uni-frankfurt.de