Die unmittelbare Nachkriegszeit, zumal die Frage, wie Jüdinnen und Juden ihr Leben nach dem Überleben in Europa gestalteten, war lange Zeit weder Gegenstand historischer Forschung noch von besonderem öffentlichen Interesse. So konnten sich zwei Narrative bilden, die die historische Wirklichkeit jener Jahre verzerrten, ja mythisierten: Eines dieser Narrative spiegelt sich in dem Begriff "Stunde Null" wider, der suggeriert, dass auf den Sieg der Alliierten über die deutsche Wehrmacht ein Bewusstseinswandel in der deutschen Bevölkerung gefolgt sei, der einem gesellschaftlichen Neubeginn gleiche. Das andere umfasst die weitverbreitete Vorstellung, die Überlebenden hätten unmittelbar nach ihrer Befreiung aus den Lagern und Verstecken über das Erlebte geschwiegen.
Der Mythos "Stunde Null" und das Narrativ des Schweigens
Bereits die erste qualitative sozialpsychologische Studie, das sogenannte Gruppenexperiment, das das Institut für Sozialforschung unmittelbar nach seiner Neugründung in Frankfurt am Main zu Beginn der 1950er Jahre vornahm, kam zu dem Ergebnis, dass autoritäre und antidemokratische Einstellungen in der deutschen Bevölkerung im Zuge von Re-Education, Entnazifierungs- und Zensurmaßnahmen der US-amerikanischen Streitkräfte zwar aus dem öffentlichen Leben verbannt, in privaten Gesprächen hingegen weiterhin gepflegt und artikuliert wurden.
Während die geschichtswissenschaftlichen Studien zur Nach- und Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus eine große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen, wurden die Untersuchungen zum Leben der jüdischen Überlebenden unmittelbar nach der Schoa in der deutschen Öffentlichkeit weitaus weniger rezipiert. Dementsprechend wird der Mythos der "Stunde Null" bislang von einem zweiten, noch weiter verbreiteten Narrativ gestärkt, nämlich der Annahme, die jüdischen Überlebenden hätten in der Nachkriegszeit über das geschwiegen, was ihnen in den Jahren zuvor angetan worden war. Die Forschungen der vergangenen Jahre verdeutlichen hingegen etwas anderes: Viele der Überlebenden dokumentierten ihre Erfahrungen unter der nationalsozialistischen Herrschaft unmittelbar nach deren Ende in Interviews, auf Fragebögen, in jiddischsprachigen Zeitschriften, mit Theaterstücken und in visuellen Darstellungen – aber sie vertrauten diese Zeitzeugnisse ausschließlich anderen Überlebenden oder auch, zumeist jüdischen, Mitgliedern der alliierten Streitkräfte an.
Der polnisch-jüdische Historiker Philip Friedman etwa, der die deutsche Besatzung im Versteck überlebte, sammelte als Gründungsmitglied der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission bereits 1944 Augenzeugenberichte von Überlebenden ein und publizierte 1945 das erste Buch über das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.
Bann über jüdischem Leben in Deutschland
Die Aktivitäten der jüdischen Überlebenden in den Displaced Persons Camps konzentrierten sich nicht ausschließlich auf die Dokumentation und Darstellung der erlittenen Verbrechen. Sie dienten insbesondere auch der Vorbereitung auf ein zukünftiges Leben außerhalb Europas – zumeist im britischen Mandatsgebiet Palästina. Nach Gründung des Staates Israel 1948 verließ ein Großteil der jüdischen Displaced Persons die Lager, die in den kommenden Jahren sukzessive aufgelöst wurden. Wer blieb, musste sich fortan vor anderen Jüdinnen und Juden dafür rechtfertigen, noch immer auf dem Boden des vormaligen Deutschen Reichs zu leben: "Nach der Katastrophe lastete auf Deutschland ein Cherem, ein Bann. Von niemandem verhängt, war er doch allgegenwärtig", erinnert sich der Historiker Dan Diner.
Dieser Bann und das Wissen darum, dass viele der deutschen Nachbarinnen und Nachbarn an den nationalsozialistischen Verfolgungen und Bereicherungen beteiligt gewesen waren, führte dazu, dass die Überlebenden unter sich blieben und den Kontakt mit der deutschen Bevölkerung weitgehend mieden. Ihre Verbundenheit mit dem Staat Israel brachten die bis zu 30000 Mitglieder der jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1950er Jahren mit umfangreichen Spenden an zionistische Organisationen wie den jüdischen Nationalfonds (KKL) und die Women’s International Zionist Organization (WIZO) sowie in dem Wunsch zum Ausdruck, dass die eigenen Kinder in das gelobte Land auswandern sollten. Die "vormaligen osteuropäischen DPs, die wesentlich jüdisch-national gestimmt sowie aufgrund ihres verhältnismäßig jungen Alters und ihrer nach 1945 vornehmlich auf deutschem Boden geborenen Nachkommenschaft (…) die jüdischen Zukunft" in der Bundesrepublik gestalteten,
Eine ganz andere Entwicklung nahm jüdisches Leben in der DDR. Noch vor der Gründung des zweiten deutschen Staates wanderten deutsche Jüdinnen und Juden in die Sowjetische Besatzungszone ein, um sich am Aufbau eines sozialistischen Gemeinwesens zu beteiligen. In dem dezidiert antifaschistischen Selbstverständnis des neuen Staats spielten die Erfahrungen der kommunistischen Opfer des Nationalsozialismus jedoch eine bedeutend größere Rolle als die jüdische Verfolgungserfahrung. Nach dem Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der kommunistischen Partei in der Tschecheslowakei, dem sogenannten Slansky-Prozess 1952, sahen sich viele Jüdinnen und Juden von dem von Stalin beförderten, staatlichen Antisemitismus bedroht und verließen die DDR. Andere nahmen wichtige Positionen im neuen Staatsapparat ein und prägten dessen Kulturleben, meist ohne die jüdische Herkunft und Erfahrung in der Zeit des Nationalsozialismus als solche zum Thema zu machen. Die wenigsten Jüdinnen und Juden pflegten weiterhin gemeinschaftsbildende Traditionen, sodass die religiöse jüdische Gemeinschaft in der DDR bis in die 1980er Jahre hinein beständig kleiner wurde. "Während die zögernde Herausbildung und allmähliche Entfaltung jüdischer Gemeinden in der alten Bundesrepublik zum Topos jüdischen Selbstverständnisses werden konnte, scheint sich dieses Thema in der DDR nahezu verflüchtigt zu haben", resümiert der Historiker Moshe Zimmermann.
Veränderungen im jüdischen Selbstverständnis
In den 1980er Jahren begann sich die Situation von Jüdinnen und Juden in beiden deutschen Staaten grundlegend zu ändern. Dabei spielten nicht nur der generationelle Wandel in den Gemeinden, sondern auch erinnerungspolitische Ereignisse und Konflikte eine zentrale Rolle. Einer dieser Konflikte führte 1985 zur Besetzung der Bühne des Schauspiels Frankfurt am Main durch Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die die Aufführung von Rainer Werner Fassbinders Theaterstück "Die Stadt, der Müll und der Tod" verhindern wollten.
Frankfurt am Main war nicht nur die Stadt, in der bedeutende jüdische Organisationen wie die Zentrale Wohlfahrtsstelle oder die Jewish Claims Conference ihren Sitz hatten. Hier lebten, arbeiteten und wirkten auch maßgebliche Persönlichkeiten der bundesdeutschen jüdischen Zeitgeschichte, wie etwa Max Horkheimer, Friedrich Pollock, Theodor W. Adorno, Ignatz Bubis, Michel Friedman, Daniel Cohn-Bendit, Micha Brumlik und Dan Diner. In den sozialpsychologischen Untersuchungen, an denen sie beteiligt waren, den Konflikten, die sie austrugen, und den Neugründungen, die sie vornahmen, wurde dementsprechend nicht nur ihre eigenes, sondern auch das Verhältnis von Jüdinnen und Juden zur deutschen Öffentlichkeit im Allgemeinen und insbesondere die Frage verhandelt, inwieweit und unter welchen Bedingungen es für Remigranten und Nachkommen der Überlebenden möglich war, Vertrauen in die Demokratie- und Lernfähigkeit der nicht-jüdischen bundesdeutschen Gesellschaft zu fassen.
In der jüdischen Gemeinschaft der DDR zeichneten sich in den ausgehenden 1980er Jahren ebenfalls Veränderungen ab. Auf Einladung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin fanden sich ab 1986 jüngere Jüdinnen und Juden zusammen, um Näheres über die jüdische Tradition zu erfahren, die für die Generation der Eltern keine Rolle gespielt hatte. Aus diesen Treffen formierte sich die Gruppierung "Wir für uns – Juden für Juden". In regelmäßigen Zusammenkünften pflegten die Mitglieder der Gruppe gemeinschaftlich die Traditionen, diskutierten über deren Geschichte und Sinn, und setzten sich mit der politischen Gegenwart auseinander. Sie veranstalteten Theaterabende, Vortragsreihen und entwickelten sich zu einer festen Größe im jüdischen Leben der DDR – bis deren Ende es ihnen ermöglichte, einen unabhängigen Jüdischen Kulturverein zu gründen, der im März 1990 bereits über 200 Mitglieder zählte.
Formen und Folgen einer opferzentrierten Gedenkkultur
1980 beschloss der Magistrat der Stadt Frankfurt, ein Jüdisches Museum zu gründen, das acht Jahre später, am 9. November 1988, von Bundeskanzler Helmut Kohl eröffnet werden sollte. Unmittelbar vor der Eröffnung dieses ersten kommunalen Jüdischen Museums der Bundesrepublik Deutschland war in der DDR die Stiftung Centrum Judaicum gegründet worden, deren erster symbolischer Akt am 10. November in der Grundsteinlegung zum Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin bestand. Eröffnung und Grundsteinlegung waren in die etwa 10.000 deutschlandweiten Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Novemberpogroms eingebunden und mithin Bestandteil jenes Großereignisses, das Y. Michal Bodemann als Inbegriff der sich in den 1980er Jahren formierenden "Kultur, genauer: (…) Epidemie des Gedenkens in Deutschland" bezeichnete.
Die Durchsetzung des Opferparadigmas als maßgebliches Erinnerungsnarrativ an die Schoa ging insbesondere nach der deutschen Wiedervereinigung auch mit großen nationalen Anstrengungen wie etwa der Errichtung einer Stiftung "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" und dem von ihr betriebenen großflächigen Mahnmal im Zentrum Berlins einher, dessen von Peter Eisenman entworfene Formsprache an die Gestaltung eines jüdischen Friedhofs angelehnt ist. Die spezifische Erfahrung, die das Denkmal seine Besucherinnen und Besuchern beim Betreten machen lässt, beschrieb Eisenman wie folgt: "Was wir machen wollten, war, den Menschen vielleicht für einen Moment das Gefühl geben, wie es sein mag, wenn man auf verlorenem Posten steht, wenn einem der Boden unter den Füßen schwankt, wenn man von seiner Umgebung isoliert wird."
Die Historikerin Ulrike Jureit hat scharfe Kritik an dem ästhetischen Konzept des Denkmals und der ihm zugrundeliegende Vorstellung eines Nachempfindens der jüdischen Erfahrung geübt, die sie als "architektonische Simulation des Todes in Auschwitz" bezeichnete, die "das gesamte Verharmlosungs- und Verleugnungspotential" des opferidentifizierten deutschen Erinnerungsdiskurses symbolisiere.
Innerjüdische Pluralisierung und Konflikte um Erinnerung
In seiner erinnerungspolitischen Streitschrift "Desintegriert Euch" greift der Publizist Max Czollek die Kritik von Jureit auf und verbindet diese mit dem Begriff "Gedächtnistheater" von Bodemann. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei der vielbeachteten Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 und dessen Gedanken, dass "es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann".
Nach dem Fall der Mauer wanderten die ersten Jüdinnen und Juden aus den postsowjetischen Ländern in das Gebiet der DDR ein. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde diese Zuwanderung mit einer Sonderregelung legalisiert, infolge derer bis 2005 etwa 220.000 Menschen nach Deutschland kamen, die sich mit Dokumenten als "Ivrei" ausweisen konnten. Mit ihnen wanderte ein neues erinnerungspolitisches Selbstverständnis in die jüdischen Gemeinden ein. Während die Mitglieder sich bis dato als Überlebende und deren Nachfahren, also als Opfer der Schoa, verstanden hatten, hielt mit den postsowjetischen Jüdinnen und Juden das Selbstverständnis von Veteranen der Roten Armee, also das Selbstbewusstsein von Siegern Einzug. Die entgegengesetzten Perspektiven kamen unter anderem auch in den verschiedenen Gedenktagen zum Ausdruck: Hatten die Gemeinden bislang ihre Gedenkstunden an die Ermordeten am 9. November oder am israelischen Jom HaSchoa abgehalten, forderten die Zugewanderten, nun den 9. Mai als Tag des Sieges zu begehen. Die innerjüdische Pluralisierung der Erinnerungsnarrative wurde durch die Zuwanderung von Israelis noch weiter beschleunigt, die immer wieder Kritik an den monumentalen Formen der Repräsentation äußerten, in denen die Schoa dargestellt und erinnert wird.