Die Frage nach dem Sinn von Haftstrafen und damit zugespitzt nach dem Sinn von Gefängnissen lässt sich weniger leicht beantworten als die Frage nach dem Sinn anderer Institutionen: In Schulen sollen Kinder etwas lernen, in Krankenhäusern Menschen von ihren Leiden befreit werden, in Kirchen will man gemeinsam zu Gott finden. Gefängnisse haben ein bisschen etwas von allem: Ihre Insassen sollen lernen, keine Straftaten mehr zu begehen, sie sollen "vom Schlechten geheilt" und die Gesellschaft vor Kriminalität wie vor einer Krankheit geschützt werden, und als Institution werden Gefängnisse vom Glauben an die Gerechtigkeit getragen.
Die Frage, ob unsere Gefängnisse sinnvoll sind, wird unterschiedlich beantwortet. Die Antwort hängt nicht nur vom jeweiligen Wissensstand, sondern auch von der individuellen Betroffenheit ab. Ein Beamter, der im Strafvollzug Geld verdient, wird dessen Sinnhaftigkeit anders beurteilen als die Frau eines Inhaftierten, ganz zu schweigen von den Inhaftierten selbst oder von den Opfern schwerer Straftaten. Das Gefängnis ist ein Ort, an dem zum Teil nicht miteinander in Einklang zu bringende Bedürfnisse aufeinandertreffen. Im Folgenden werde ich die Sinnhaftigkeit unserer Gefängnisse anhand der Überlegung diskutieren, ob sie uns aus gesamtgesellschaftlicher Sicht eher nützen als schaden.
Warum gibt es Gefängnisse?
Warum sperren wir Menschen zur Strafe in geschlossene Anstalten ein? Wozu tun wir dies, und welche Folgen hat es? Die Frage nach dem "Warum" hängt mit der nach dem "Wozu" zusammen, ist jedoch nicht mit ihr identisch. Sie wird gerne gemieden, ist sie doch mit einer kritischen Selbstreflexion verbunden: Warum strafen wir überhaupt?
Schon Kinder glauben, dass das Schlagen eines anderen Kindes und das Wegnehmen eines fremden Apfels unabhängig vom Bestehen einer entsprechenden Regel bestraft werden müssen.
Normbrüche erregen also nicht nur unser allgemeines Interesse, wie es etwa der Erfolg diverser "True Crime"-Formate belegt. Die Mehrheit der Menschen hat auch ein Bedürfnis nach Rache, Vergeltung und Strafe.
Um das Bedürfnis zu befriedigen, sind wir sogar bereit, für die Vergeltung eigene Kosten in Kauf zu nehmen. Bei dem Gedanken an Rache werden die gleichen Teile des Gehirns aktiviert, die sich nach Nikotin, Kokain oder Schokolade sehnen.
Rache ist auch eine wichtige Ursache von nicht-legitimierter Gewalt.
Diese im Verhältnis zu körperlicher Züchtigung fortschrittliche Idee, durch Entzug der Freiheit zu strafen, hat sich wohl eher zufällig aus Interessen und Strukturen entwickelt, die nur zum Teil etwas mit dem zu tun hatten, was wir heute mit Strafen erreichen wollen. Ein Entwicklungsstrang dieser Idee ist das Ziel, in verschiedener Hinsicht als störend wahrgenommene Menschen dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen, etwa indem man Bettler in Anstalten einsperrte. Gleichzeitig sollte die Arbeitskraft der Eingesperrten (aus)genutzt werden. So entstand Ende des 16. Jahrhunderts in Amsterdam ein erstes Spinhuis für Spinn- und Näharbeiten.
Was nützen Gefängnisse (nicht)?
Was erreichen wir mit unseren Gefängnissen? Ein statistischer Nachweis, in welchem Umfang Gefängnisse die Rückfallquote ihrer Insassen reduzieren, ist schwierig. Angesichts der Tatsache, dass etwa die Hälfte der Entlassenen wieder straffällig wird
Noch schwerer lässt sich ermitteln, inwieweit das Gefängnis abschreckende Wirkung auf potenzielle Straftäter hat. Jedenfalls scheint die Abschreckungswirkung des Gefängnisses zum einen weit geringer zu sein, als vielfach vermutet.
Den Bedürfnissen der Geschädigten entsprechen Gefängnisstrafen in vielen Fällen nicht. Schadensersatz, Täter-Opfer-Ausgleich oder gemeinnützige Arbeit sind für Opfer oft wichtiger als das Strafverlangen.
In einiger Hinsicht erscheint der Nutzen unseres Strafvollzugs in seiner jetzigen Form also fraglich. Nun sind wir zwar bereit, auch Kosten und Nachteile in Kauf zu nehmen, um unser Vergeltungsbedürfnis zu stillen – aber eben nur, um damit gesamtgesellschaftlich etwas Sinnvolles im Sinne einer höheren Kooperationsbereitschaft zu bewirken. Kooperationsbereitschaft ist allerdings mehr als das Unterlassen strafbarer Handlungen.
Kinder und Familien von Inhaftierten werden mitbestraft, obwohl sie selbst nichts verbrochen haben. Der Kontakt mit dem Ehemann oder Vater kann für Monate oder Jahre auf wenige Stunden im Monat beschränkt sein. Teilweise dürfen die Gefangenen nur eine Stunde im Monat Besuch empfangen und grundsätzlich weder telefonieren noch das Internet benutzen. In den Anstalten entsteht eine Subkultur. Drogen und Gewalt prägen den Alltag. Die Gefangenen haben fast keine geschützte Intimsphäre. Ihr Haftraum wird regelmäßig durchsucht, ihre Briefe können gelesen werden, sie müssen sich zur Kontrolle auf Drogen entkleiden, jede Anordnung muss befolgt werden. Die Arbeit in Haft ist nicht in die Rentenversicherung einbezogen, sodass nach längeren Haftstrafen ein Alter in Armut droht. Das Stigma einer Gefängnisstrafe bleibt oft ein Leben lang und erschwert eine Wiederaufnahme in die Gemeinschaft als gleichwertiges Mitglied. Dies alles führt zu Demütigung und einer Oppositionshaltung zu Staat und Gesellschaft.
Hinzu kommt, dass vor allem Menschen aus ohnehin an den Rand gedrängten und wenig integrierten Bevölkerungsschichten inhaftiert werden. Besonders deutlich wird dies bei der Ersatzfreiheitsstrafe für Straffällige, die ihre Geldstrafe etwa wegen "Schwarzfahrens" nicht bezahlen konnten. Zwei Drittel sind arbeitslos, ebenfalls zwei Drittel suchtkrank und etwa ein Viertel obdachlos.
Schließlich ist auch die Förderung der Kooperation kein Selbstzweck. Sie dient dem Überleben und Fortkommen der Menschheit an sich und ist daher nicht nur milieuübergreifend, sondern auch generationenübergreifend zu verstehen. Konflikte sind bei jeder Kooperation bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar und sogar konstruktiv. Sie können jedoch auch lähmend und destruktiv wirken. Konflikte werden mit wachsender Weltbevölkerung und knapper werdenden natürlichen Ressourcen zunehmen.
Fortentwicklung des Strafrechts
Um unser Strafrecht weiterzuentwickeln, müssen wir unser Strafbedürfnis reflektieren und näher hinsehen: Nutzen wir die Energie, die Straftaten in uns auslösen, tatsächlich sinnvoll? Eine gesamtgesellschaftliche Reflexion setzt die transparente Kommunikation aller Akteure und ein Interesse füreinander voraus. Denn das Strafen selbst ist zum einen eine Form von Kommunikation, zum anderen ist es eingebettet in einen gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozess.
Es ist sicher nicht hilfreich, wenn von offizieller Seite die Resozialisierung der Inhaftierten in den Vordergrund gestellt wird und dabei aus dem Blick gerät, inwieweit der Strafvollzug oft gerade nicht resozialisierend wirken kann. Auch die öffentliche Kritik an einzelnen Urteilen sollte nicht mit der Begründung abgebügelt werden, nur Fachleute könnten entscheiden, welche Strafe die richtige ist. Das Strafen ist keine Wissenschaft wie die Medizin. Wenn Opfer kaum gehört werden oder viele Inhaftierte keinen Sinn in ihrer Haft sehen können,
Wer näher hinsieht, wird zunächst feststellen, dass in unseren Gefängnissen viele Menschen sitzen, die dort nicht hingehören. Viele Betäubungsmittel- und Bagatelldelikte sollten daher nicht mit Freiheitsstrafe bedroht sein. "Schwarzfahren" etwa kann ebenso gut als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden. Auch hat die Erfahrung längst gezeigt, dass sich der "Krieg gegen Drogen" nicht mit der Kriminalisierung Abhängiger gewinnen lässt.
Wer in die Gefängnisse hineinsieht, wird sich zudem fragen, wer etwas davon haben soll, dass die Menschen dort ihre Zeit absitzen. Neben einer deutlichen Ausweitung des Täter-Opfer-Ausgleichs
Bei näherer Betrachtung des derzeitigen Strafvollzugs wird auch deutlich, dass die Vorbereitung einer Resozialisierung innerhalb geschlossener Anstalten kaum gelingen kann. Nur vergleichsweise wenigen, wie etwa sadistischen Sexualmördern, muss zum Schutz der Allgemeinheit notfalls lebenslang die Freiheit entzogen werden. Im Übrigen jedoch gilt es, das Gefängnis als totale und geschlossene Institution durch dezentrale und offenere Formen der Freiheitsbeschränkung zu ersetzen. Ansätze dafür existieren bereits. So gibt es in Baden-Württemberg und Sachsen einen Strafvollzug in freier Form, in Sachsen seit Kurzem auch für erwachsene Straftäter. Strafgefangene verbüßen dabei ihre Freiheitsstrafe nicht in einem Gefängnis oder einer vergleichbaren Einrichtung, sondern in eng betreuten Wohngruppen. Bei schweren Gewalt- oder Sexualstraftätern können diese Wohngruppen auch gegen Entweichung gesichert sein, es macht jedoch keinen Sinn, Hunderte Straffällige zusammen in eine geschlossene Anstalt einzusperren, aus der sie früher oder später ohnehin wieder entlassen werden.
Als Alternative zur Haft wäre auch elektronisch überwachter Hausarrest wie in Norwegen, Finnland oder Österreich denkbar.
Trennung von Unrechtsausspruch und Rechtsfolgen
Um nicht nur Rechtsfrieden, sondern auch mehr tatsächlichen Frieden erreichen zu können, sollten im Gerichtssaal keine Weichen gestellt werden, von denen oft für lange Zeit kaum noch abgewichen werden kann. Straftaten weisen oft auf grundlegende soziale Probleme hin. Die von ihnen ausgehenden Veränderungs- und Entwicklungsimpulse können wir nutzen, statt sie zu verdrängen.
Dazu wäre eine Trennung von Unrechtsausspruch und Rechtsfolgen sinnvoll,
So könnte beispielsweise ein Einbrecher, der derzeit zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden würde, zu einem elektronisch überwachten Hausarrest zwischen 6 und 18 Monaten verurteilt werden. An dem Gremium, das seinen Fall begleitet, beteiligt sich auch die Geschädigte. Sie hat seit dem Einbruch Angstzustände und möchte verstehen, warum der Täter das getan hat. Ein Mediator begleitet daher einen Gesprächsprozess zwischen Täter und Opfer. Dem Einbrecher wird deutlich, was er über den materiellen Schaden hinaus angerichtet hat. Die Geschädigte verliert etwas ihre Angst vor einer diffusen Bedrohung, da sie den Täter als Menschen kennengelernt hat. Dieser ist zur Finanzierung seiner Drogensucht bei ihr eingebrochen. Das Gremium legt fest, dass er nur die Mindestzeit von 6 Monaten im elektronisch überwachten Hausarrest verbringen muss, wenn er eine Suchttherapie absolviert, ein Jahr lang in Schulen über die Risiken von Drogenkonsum aufklärt und Hilfsarbeiten in einer Senioreneinrichtung leistet. Dies entspricht auch dem Sühneverlangen der Geschädigten. Da der Täter Probleme hat, partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen und längere Zeit eine Arbeit auszuüben, wird ihm für 18 Monate ein erfahrener Sozialpädagoge zur Seite gestellt. Die Kosten dieser Maßnahmen sind insgesamt geringer als die Kosten einer einjährigen Haftstrafe.
Für einen sozialen Sinn von "Strafe"
Gefängnisse in ihrer heutigen Form sind in verschiedener Hinsicht Meilensteine in unserer zivilisatorischen Entwicklung. Straffällige werden dort nicht mehr getötet oder gefoltert, und das reine Wegsperren ist in den vergangenen Jahrzehnten zumindest dem Anspruch gewichen, die Insassen zu resozialisieren