Mit der Verhängung einer Gefängnisstrafe nimmt der Staat dem Verurteilten seine Freiheit. Wer in Haft ist, kann nur noch über wenige Aspekte seines Lebens autonom entscheiden. Der Alltag der Inhaftierten folgt festen Abläufen, sie können zu einer Arbeitstätigkeit verpflichtet werden, Besuche von Freunden und Familie sind streng reglementiert. Ganz ohne Zweifel fügt der Staat dem Gefangenen ein Übel zu. Und das ist auch richtig so. Strafe ist nicht nur ein Instrument sozialer Intervention zugunsten des Täters, sie ist die gerechte Antwort auf das von ihm verschuldete Unrecht.
Sinn von Strafe
Über Sinn und Unsinn von Haftstrafen kann man nur urteilen, wenn man sich den Zweck von Strafen für eine Gesellschaft vor Augen führt. Welche Ziele der Staat mit der Strafe verfolgt, wird in der Strafrechtswissenschaft seit jeher kontrovers diskutiert. Dabei gibt es nicht "den einen" richtigen Strafzweck.
Der Öffentlichkeit zeigt die Bestrafung des Täters, dass die strafrechtlichen Verhaltensnormen ausnahmslos gelten und vom Staat durchgesetzt werden. Die Strafe hat hier zwei Funktionen: Sie soll von Normbrüchen abhalten, und sie soll eine gerechte Reaktion auf die Tat darstellen. Die erste Funktion wird als "Abschreckung" oder auch "negative Generalprävention" bezeichnet:
Die zweite Funktion der gegenüber der Öffentlichkeit kommunizierten Strafe ist es, dem Bedürfnis der Menschen nach Gerechtigkeit Rechnung zu tragen. Die Sanktionierung von Unrecht ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Das belegen Experimente zur Verhaltensökonomie.
Diese Antwortet schuldet der Staat nicht nur der Gemeinschaft, sondern auch und gerade dem Opfer und seinen Angehörigen. Der Täter verletzt durch sein Verhalten nicht nur eine Regel der Allgemeinheit (zum Beispiel: "Du sollst nicht töten"), sondern auch individuelle Rechtsgüter der Betroffenen (in diesem Beispiel: das Leben des Opfers). Die Straftat ist in erster Linie ein Konflikt zwischen Menschen. Für diesen Konflikt muss der Staat Verantwortung übernehmen, wenn er Selbstjustiz vermeiden möchte.
Nicht zuletzt wird auch dem Täter durch die Bestrafung deutlich gemacht, dass er für seine Tat zur Verantwortung gezogen wird. Damit wird er von der Rechtsordnung ernst genommen.
Sinn des Freiheitsentzugs
Um ihre Zwecke zu erfüllen, muss die Strafe ein "Übel" für den Täter sein. Der bloße Tadel – etwa ein gerichtlicher Schuldspruch ohne jede Sanktion – würde keinen gerechten Unrechtsausgleich herstellen und die berechtigten Strafbedürfnisse von Öffentlichkeit und Opfern nicht befriedigen.
Damit bleiben als mögliche Rechtspositionen nur das Eigentum, die Arbeitskraft – und eben die Freiheit des Täters. Geldstrafen wären als einzige Sanktion offensichtlich unzureichend. Die Tötung eines Menschen oder der sexuelle Missbrauch eines Kindes können auf diese Weise nicht angemessen geahndet werden. Zudem hat die Geldstrafe einige Nachteile: Sie wird von der Öffentlichkeit oft als ein "Sich-Freikaufen" wahrgenommen. Das gilt auch deshalb, weil sie – obwohl sie sich am Einkommen des Täters orientiert – sozial Schwache mehr belastet als Wohlhabende.
Freiheitsstrafe ist für schwere Delikte alternativlos, für leichte Kriminalität hingegen ein zu scharfes Schwert. Doch sie wird auch bei weniger gravierenden Taten angewendet, in der Form der sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe. Sie tritt dann ein, wenn der Täter eine Geldstrafe nicht bezahlt und auch keine gemeinnützige Arbeit erbringt. Ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe entspricht dann in der Regel sechs Stunden gemeinnützige Arbeit. Bundesweit sitzen etwa 3.000 Menschen im Gefängnis, obwohl das Gericht sie eigentlich zu einer Geldstrafe verurteilt hat.
Resozialisierung statt Strafe?
Ein häufiger Einwand gegen die Haftstrafe ist, dass sie "niemanden besser mache". Diese Annahme ist empirisch allerdings nicht belegt. Einige Studien weisen darauf hin, dass der Strafvollzug Rückfälle verringern und die Einstellung der Inhaftierten zu ihrer Tat verbessern kann.
Die geringe und in einigen Fällen sogar nachteilige Wirkung der Haft auf die Resozialisierung des Täters ist ein Problem – aber kein durchgreifender Einwand gegen die Institution der Freiheitsstrafe. Das wäre sie nur, wenn die Resozialisierung gerade das wesentliche Ziel der Strafe wäre und ihren Ansprüchen dann nicht genügen würde. Aber der Staat verfolgt mit der Strafe in erster Linie Zwecke, die unabhängig von einer Besserung des Täters sind. Anderenfalls wäre eine Straftat nur Anlass für eine soziale Intervention, die sich nicht am Maß des Unrechts, sondern an den Behandlungsbedürfnissen des Täters zu orientieren hätte.
Dass Strafe auch dann verhängt werden muss, wenn sie nicht der Resozialisierung des Täters dient, zeigen zwei Beispiele. So wird etwa der bis dahin unbescholtene Ehemann, der nach jahrelangen Auseinandersetzungen seine Ehefrau tötet, eine solche Tat vermutlich kein zweites Mal begehen; Maßnahmen zur Resozialisierung wären nicht oder jedenfalls nur in geringem Umfang erforderlich. Gleichwohl würde wohl kaum jemand meinen, dass er deswegen nicht bestraft werden muss. Noch deutlicher wird die Notwendigkeit einer von Resozialisierungsbemühungen unabhängigen Strafe bei der Ahndung von NS-Verbrechen. Die Täter, die sich in Konzentrationslagern wegen schwerster Straftaten schuldig gemacht haben, leben seit Jahrzehnten unauffällig und sozial integriert. Der Staat bestraft sie heute nicht, um sie zu bessern, sondern um das von ihnen begangene Unrecht zu vergelten. Selbst wenn Gefängnisse also nicht zur Resozialisierung beitragen könnten, würde hierdurch der Sinn von Freiheitsstrafen nicht infrage gestellt. Richtig ist aber, dass die Besserung von Straftätern ein wichtiges gesellschaftliches Interesse ist, dem im Rahmen des Strafvollzugs Rechnung getragen werden muss.
Sinnvolle Haftstrafen
Die Freiheitsstrafe ist nicht nur sinnvoll, sie ist als Institution letztlich alternativlos. Keine der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vorgeschlagenen Reformideen kommt gänzlich ohne eine Inhaftierung von Tätern aus.
Die Resozialisierung des Täters ist nicht Sinn der Strafe, ein Versagen von Resozialisierung kann daher auch nicht ihren "Unsinn" begründen. Resozialisierung ist wohl aber ein bedeutendes Anliegen der Gemeinschaft. Es ist im Interesse aller, wenn ein Täter nach Verbüßung seiner Strafe keine weiteren Delikte begeht. Die Freiheitsstrafe sollte daher bei Fällen geringer und mittlerer Kriminalität mit großer Zurückhaltung eingesetzt werden, wenn von ihr keine positiven Wirkungen auf den Täter zu erwarten sind. Stattdessen muss über neue Formen der Sanktionierung nachgedacht werden. So erscheint etwa die gemeinnützige Arbeit als sinnvolle Alternative zur Geldstrafe. Zudem sollten bestehende Instrumente besser genutzt werden, zum Beispiel der Täter-Opfer-Ausgleich, der die Betroffenen in einen Austausch miteinander bringt. Eine kritische Durchsicht des Strafgesetzbuchs könnte ebenfalls dazu beitragen, unnötige Freiheitsstrafen zu verhindern. Würde etwa die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein entkriminalisiert,
Ist eine Freiheitsstrafe unumgänglich, muss die Ausgestaltung der Haft konsequent am Resozialisierungsgedanken orientiert sein. Die Strafe liegt in der Beschränkung der Freiheit, nicht in einer schlechten Behandlung der Gefangenen im Vollzug. Die Haftzeit kann dann sinnvoll genutzt werden, wenn sie den Täter dabei unterstützt, sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen und sich als Person weiterzuentwickeln. Dafür müssen Verhaltens- und Drogentherapien, Sprachkurse und Berufsfortbildungen angeboten werden. Zudem muss darauf geachtet werden, dass die Inhaftierten wichtige Kontakte zu ihrer Familie und engen Bezugspersonen nicht verlieren. Ein menschenwürdiger Strafvollzug muss auch die Folgeschäden für die Angehörigen der Täter, insbesondere ihre Kinder, so gering wie möglich halten.