Als die Roten Khmer unter Pol Pot 1975 in Kambodscha die Macht übernahmen, suspendierten sie als Teil ihrer brutalen "Year Zero"-Kampagne sämtliche akademische Tätigkeiten, setzten Bibliotheken in Brand, verwandelten Schulgebäude in Gefängnisse, Universitäten in landwirtschaftliche Betriebe und massakrierten Tausende Forschende und Studierende.
Die bislang existierende Datengrundlage bot keine klare Antwort auf die Frage, wie es um die Wissenschaftsfreiheit weltweit steht. Daher haben wir uns in einem internationalen Konsortium
Wissenschaftsfreiheit weltweit
Einen ersten Überblick über die weltweite Situation der Wissenschaftsfreiheit liefert Abbildung 1, die für 2020 die Werte des AFi abbildet, der von 0 (keine Wissenschaftsfreiheit) bis 1 (hohe Wissenschaftsfreiheit) skaliert ist. Dieser erste Vergleich zeigt eine breite Diversität zwischen den Ländern und auch innerhalb der Weltregionen. In Kombination mit den jeweiligen Bevölkerungszahlen stellen wir fest, dass aktuell etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung in einem Land lebt, das unter 0,8 auf dem AFi abschneidet und die Wissenschaftsfreiheit entsprechend moderat bis sehr stark einschränkt.
Globale Durchschnittswerte der fünf Academic Freedom Index Indikatoren im Zeitverlauf (1900–2020). (© bpb)
Globale Durchschnittswerte der fünf Academic Freedom Index Indikatoren im Zeitverlauf (1900–2020). (© bpb)
Abbildung 2 zeigt im Zeitverlauf seit 1900 die globalen Durchschnittswerte der fünf Indikatoren, die den AFi ausmachen. Zunächst können wir ein Absacken von Wissenschaftsfreiheit in den beiden Weltkriegen (1914–1918 und 1939–1945) feststellen. Alle Indikatoren zeigen zudem global betrachtet eine langsame Verschlechterung zwischen den frühen 1960er und den späten 1970er Jahren – vermutlich im Zusammenhang mit der repressiven Politik in der Sowjetunion, der Machtübernahme durch mehrere Militärjuntas in Lateinamerika sowie dem durch den Kalten Krieg bedingten Druck auf die Wissenschaft in anderen Teilen der Welt. Die 1980er Jahre hingegen sind eine Periode langsamer Verbesserungen, die sich in den frühen 1990er Jahren mit der dritten Demokratisierungswelle beschleunigen, bevor die Wissenschaftsfreiheit sich global stabilisiert.
Seit 2013 ist bei mehreren Variablen ein leichter Rückgang zu verzeichnen, der jedoch innerhalb des statistischen Fehlers der Daten bleibt. Zudem zeigt der historische Vergleich, dass wir uns weiterhin auf einem deutlich höheren Niveau bewegen als im vergangenen Jahrhundert. Um aktuelle Negativtrends, die in letzter Zeit oft missverständlich als "globaler Rückgang" porträtiert werden, besser zu verstehen, muss man diejenigen Fälle genauer in Augenschein nehmen, bei denen sich solche Negativentwicklungen deutlich abzeichnen. Globale Trendlinien sind hierfür wenig geeignet, denn die Daten zeigen auch, dass es stets Länder gibt, die Verbesserungen aufweisen, während andere Verschlechterungen verzeichnen. Dies bedeutet keineswegs, dass der Rückgang von Wissenschaftsfreiheit vielerorts nicht besorgniserregend wäre – doch ist es auch wichtig, die positiven Entwicklungen zu würdigen, die in den vergangenen Jahren weiter stattfanden, beispielsweise in Gambia, Kasachstan oder im Sudan.
Der Vergleich zwischen den Indikatoren in Abbildung 2 deutet darauf hin, dass die institutionelle Autonomie eher träge auf Veränderungen reagiert und sich wegen eines geringeren Anstiegs seit 1990 im Durchschnitt auf einem wesentlich niedrigeren Niveau als andere Indikatoren eingependelt hat. Dies entspricht der Erwartung, dass institutionelle Prozesse langsamer vonstattengehen als die von anderen Indikatoren erfassten Bereiche. Die akademische und kulturelle Ausdrucksfreiheit weist dagegen auf globalem Niveau die stärksten Schwankungen auf. Während sie bis Ende der 1970er Jahre durchweg niedriger ist als alle anderen vier Indikatoren, steigt ihr Gesamtdurchschnittswert ab diesem Zeitpunkt steil an und erreicht ein ähnliches Niveau wie die drei anderen Indikatoren abseits der institutionellen Autonomie. In den vergangenen Jahren ist dies auch der Indikator, der am ehesten einen Rückgang im globalen Durchschnitt andeutet. Diese Muster unterstreichen die Annahme, dass die politische Ausdrucksfreiheit von Akademiker:innen empfindlicher auf Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld eines Landes reagiert als andere Aspekte von Wissenschaftsfreiheit.
Eine Betrachtung des Academic Freedom Index anhand verschiedener Länderbeispiele (Abbildung 3) zeigt stark divergierende Trends. Demnach liegt das Niveau der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland während der Kaiserzeit im frühen 20. Jahrhundert knapp unter dem weltweiten Durchschnitt, steigt dann während der Weimarer Republik deutlich an, bevor das Naziregime die Wissenschaftsfreiheit fast vollständig einschränkt. Die Besatzungszeit zwischen 1945 und 1949 wurde nicht kodiert. Im Nachkriegsdeutschland (das bis 1990 nur Westdeutschland repräsentiert) hat die Wissenschaft gleich zu Beginn ein vergleichsweise hohes Freiheitsniveau und erfährt schrittweise weitere Liberalisierungen in den späten 1960er Jahren und zum Ende des Kalten Krieges. Danach stabilisiert sich die Wissenschaftsfreiheit auf einem sehr hohen Niveau. Die Wissenschaft Irlands weist bei der Unabhängigkeit des Landes in den frühen 1920er Jahren eine im globalen Vergleich hohe Freiheit auf und zeigt laut den Indexwerten weitere Verbesserungen im Laufe der Zeit, die zeitlich mit dem allmählichen Rückgang des kirchlichen Einflusses und der Stärkung der formalen Universitätsautonomie in den frühen 1970er Jahren zusammenfallen.
Academic Freedom Index-Werte in vier Ländern und globale Durchschnittswerte im Zeitverlauf (1900–2020). (© bpb)
Academic Freedom Index-Werte in vier Ländern und globale Durchschnittswerte im Zeitverlauf (1900–2020). (© bpb)
Im direkten Vergleich sehen wir, dass die Wissenschaftsfreiheit beispielsweise in der Türkei und Ägypten in den vergangenen Jahrzehnten deutlich unbeständiger war. Mit der Einführung des Mehrparteiensystems nach 1945 nahm die Wissenschaftsfreiheit in der Türkei zunächst zu. In den Jahren vor dem Militärputsch von 1960, der manchmal auch als "progressiver Putsch" bezeichnet wird, sinkt das Freiheitsniveau – mit der Rückkehr zur Zivilregierung nimmt sie wieder zu. Der Putsch von 1971 wirkt sich kurzzeitig negativ aus, aber es ist der Militärputsch von 1980, der die Universitäten besonders hart trifft, wie der plötzliche Rückgang des AFi-Werts zeigt. Der steile Anstieg auf einen Wert nahe des (ebenfalls gestiegenen) weltweiten Durchschnitts in den frühen 2000er Jahren fällt mit dem Beginn einer vergleichsweise liberalen Ära in der türkischen Politik zusammen, wenngleich einzelne Akademiker:innen weiterhin politisch verfolgt werden. Ab 2010 nehmen die autoritären Maßnahmen jedoch wieder zu und der Putschversuch 2016 hat eine fast vollständige Unterdrückung der Wissenschaftsfreiheit zur Folge. In Ägypten ist mit Gamal Abdel Nassers Putschversuch 1952 ein steiler Rückgang des bis dahin mittleren Niveaus an Wissenschaftsfreiheit zu beobachten, das sich schließlich unter Anwar as-Sadat (1970er Jahre) und Husni Mubarak (1981–2011) langsam wieder verbessert, insgesamt aber auf einem relativ niedrigen Niveau bleibt. Die Revolution von 2011 schafft Freiraum für einen kurzen Anstieg der Wissenschaftsfreiheit, doch fällt sie nach dem Militärputsch, der Mohamed Morsi 2013 entmachtet, auf das Niveau der Sadat-Ära zurück und erreicht zuletzt einen historischen Tiefstand.
Diese Betrachtungen sind nur einige Beispiele für die zahlreichen Einblicke in den Status und die Entwicklung von Wissenschaftsfreiheit weltweit, die der Datensatz um den Academic Freedom Index bietet. Daraus ergeben sich auch eine Reihe möglicher Einsatzgebiete, die von einer tiefer gehenden Erforschung des Themas bis hin zu praktischen Anwendungen in der Außenpolitik und Wissenschaftskooperation reichen.
Hintergründe: Die Datenlücke
Als wir mit unserer Arbeit zur vergleichenden Bewertung von Wissenschaftsfreiheit begannen, gab es bereits erprobte Erhebungsmethoden und Datensätze zu diesem Thema. Man kann diese grob in fünf Datentypen einteilen: Ereignisdaten, institutionelle Eigenauskünfte, juristische Analysen, Umfragedaten und Expert:inneneinschätzungen. Diese vorhandenen Methoden oder ihre bisherige Umsetzung waren jedoch ungenügend, um ein umfassendes Bild von Wissenschaftsfreiheit weltweit zu zeichnen.
Ereignisdaten, wie beispielsweise die vom "Scholars at Risk"-Netzwerk dokumentierten Fälle von drangsalierten Forschenden und Studierenden weltweit,
Institutionelle Eigenauskünfte bilden beispielsweise die Grundlage für die Autonomy Scorecard der European University Association, die den Grad der Unabhängigkeit von Universitäten in europäischen Ländern bewertet. Die betreffenden Institutionen müssen dabei selbst zu einer Reihe an Kriterien Informationen zur Verfügung stellen. Das Problem mit solchen Daten ist, dass sie relativ leicht manipuliert werden können. Und sie setzen Kooperationsbereitschaft voraus – die European University Association kann keine Informationen einfordern, nur darum bitten.
Die juristische Analyse von Verfassungen, Gesetzestexten und Verordnungen ist eine weitere mögliche Grundlage für vergleichende Studien,
Ein weiterer Weg, Daten zu Wissenschaftsfreiheit zu erheben, sind Umfragen unter Forschenden und Studierenden.
Aufgrund dieser Problematiken sind wir zu dem Schluss gekommen, dass Expert:inneneinschätzungen am geeignetsten sind, um global vergleichbare Daten zu Wissenschaftsfreiheit zu erheben.
Die Erhebung von Expert:inneneinschätzungen ist aufwendig und komplex. Eine große Herausforderung besteht darin, genügend qualifizierte und zuverlässige Expert:innen zu finden. Eine zweite liegt darin, die Einschätzungen verschiedener Personen so zu validieren, zu aggregieren und zu kalibrieren, dass ausgewogene und vergleichbare Ergebnisse über Länder und Zeiträume hinweg erzielt werden. Deshalb haben wir uns in der Umsetzung der Vermessung von Wissenschaftsfreiheit mit dem V-Dem-Institut an der Universität Göteborg zusammengetan und konnten von dessen langjähriger Erfahrung und umfangreicher Infrastruktur profitieren.
Was messen?
Eine Schwierigkeit des globalen Vergleichs von Wissenschaftsfreiheit liegt darin, dass das eingangs beschriebene breite Spektrum an Szenarien zwischen Kambodscha in 1975 und Deutschland in 2021 abgedeckt, aber auch die Nuancen dazwischen möglichst gut erfasst werden müssen. In vergleichenden Erhebungen gibt es jedoch immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem Grad an Vergleichbarkeit und dem Grad an Komplexität, den man erreichen kann; wir müssen vereinfachen, um vergleichen zu können. Der AFi-Datensatz geht dieses Dilemma auf zweierlei Weisen an: Zum einen beruhen die Expert:inneneinschätzungen auf einer klar definierten Fünf-Punkte-Skala, die eine sinnvolle – wenngleich noch immer grobe – Klassifizierung von Ländern weltweit ermöglicht. Zum anderen haben wir uns bewusst dafür entschieden, mehrere Komponenten von Wissenschaftsfreiheit separat voneinander zu erheben und damit der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich um ein mehrdimensionales Konzept handelt und diese Dimensionen unterschiedlich ausgeprägt sein können. So können wir durch eine disaggregierte Darstellung der Indikatoren zum Beispiel abbilden, wo Akademiker:innen vergleichsweise frei darin sind, zu entscheiden, wozu sie forschen wollen, aber stark eingeschränkt sind, wenn sie ihre Erkenntnisse an die Öffentlichkeit kommunizieren wollen.
Die Auswahl an Dimensionen von Wissenschaftsfreiheit, die im AFi-Datensatz erhoben werden, basiert auf einer Sichtung der einschlägigen Literatur und ausführlichen Diskussionen mit hochschulpolitischen Entscheidungsträger:innen, Akademiker:innen (inklusive verfolgten Kolleg:innen), und Verfechter:innen von Wissenschaftsfreiheit. Die fünf daraus resultierenden Indikatoren – die Freiheit der Forschung und Lehre, die Freiheit des akademischen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation, die institutionelle Autonomie von Hochschulen, die Campus-Integrität
Wichtig zu erwähnen ist zudem, dass wir in der Definition und Formulierung der Indikatoren jede unzulässige Einmischung nicht-akademischer Akteure als Verletzung von Wissenschaftsfreiheit betrachten; zu diesen gehören zum Beispiel Politiker:innen, Parteisekretär:innen, extern ernannte Hochschulleitungen, Unternehmen, Stiftungen, andere private Geldgeber, religiöse Gruppen und Interessengruppen. Folglich betrachten wir Einschränkungen, die von der akademischen Gemeinschaft selbst gesetzt werden, nicht als Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit, unabhängig davon, ob es sich um Fragen zu Forschungsprioritäten, ethischen und Qualitätsstandards in Forschung und Publikation oder standardisierten Curricula zur Verbesserung der Lehre handelt.
Die Index-Daten
Der AFi wurde erstmals im Frühjahr 2020 herausgegeben und wird seitdem jedes Jahr in erweiterter und aktualisierter Form veröffentlicht. Nach aktuellem Stand enthält er Daten zu 175 Ländern und Territorien und deckt den Zeitraum von 1900 bis 2020 ab.
Die Daten werden dann in einem komplexen statistischen Aggregierungsverfahren zusammengeführt, mit dem das V-Dem seit vielen Jahren wissenschaftlich fundierte Demokratiemessung betreibt. Das von V-Dem entwickelte statistische Modell basiert auf probabilistischer Testtheorie und der Einsicht, dass abstrakte Konzepte in der Realität nicht einfach beobachtbar sind. Es wird berücksichtigt, dass Expert:innen voreingenommen sein können beziehungsweise unvollständige Informationen haben, sodass Unsicherheiten in Bezug auf ihre Bewertungen bestehen können. Durch den Einbezug von in der Regel mindestens fünf Expert:inneneinschätzungen pro Länderjahr pro Indikator – oft noch deutlich mehr – kann statistisch ein Wert geschätzt werden, der dem "wahren" Wert möglichst nahe kommen soll.
Trotz der soliden Erhebungsmethode hat die quantitative Erfassung von Wissenschaftsfreiheit klare Grenzen – sowohl was ihre Genauigkeit und Zuverlässigkeit angeht, als auch dahingehend, was sie von vornherein alles nicht erfassen kann. Bezüglich des ersten Punkts sehen wir beispielsweise anhand von Brasilien, wie sich die jüngsten beunruhigenden Entwicklungen unverhältnismäßig stark im Index niederschlagen, was wohl ein inhärentes Merkmal von Daten ist, die von jenen Akademiker:innen kodiert werden, die direkt von solchen Veränderungen und der einhergehenden Verunsicherung betroffen sind. Dies muss nicht unbedingt per se problematisch sein, sondern kann auch als wichtiges Warnsignal dienen – sollte jedoch offen diskutiert und kritisch begleitet werden. Die retrospektive Neubewertung, die bei den jährlichen Erhebungen von allen Expert:innen vorgenommen werden kann, bietet Raum für mögliche Korrekturen.
Die quantitativen Daten können in jedem Fall nur ein grobes Bild von der Situation der Wissenschaftsfreiheit in einem bestimmten Land und Jahr vermitteln. Aus diesem Grund raten wir dazu, die Auswertung der Daten mit Informationen aus qualitativen Fallstudien zu ergänzen, die mehr Aufschluss über länderspezifische Entwicklungen, deren Hintergründe, sowie disziplinare und institutionelle Varianz innerhalb eines Landes geben können.
Fazit
Die Wissenschaftsfreiheit ist ein international anerkanntes Menschenrecht und von grundlegender Bedeutung für den wissenschaftlichen Fortschritt, für Forschungskooperationen sowie für eine hochwertige Hochschulbildung. Trotz zahlreicher Selbstverpflichtungen von Universitäten und Staaten, diese Freiheit zu schützen, wird sie vielerorts unterminiert oder direkt angegriffen. Eine systematische, globale Untersuchung war allerdings bislang aufgrund fehlender Daten nicht möglich. Der Academic Freedom Index schließt diese Lücke mit fünf Indikatoren zu verschiedenen Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit sowie einem aggregierten Indexwert. Aufbauend auf Expert:innenbefragungen und dem bewährten statistischen Modell von V-Dem ist dieser Datensatz eine zentrale neue Ressource mit konzeptionell fundierten und empirisch validen Indikatoren. Die Daten bieten damit einen erheblichen Erkenntnisgewinn und liefern nicht nur deskriptive Informationen über den Wandel von Wissenschaftsfreiheit im Laufe der Zeit sowie die Grundlage für tiefergehende Forschung, sondern sie können auch praktische Maßnahmen zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit unterstützen.