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Die Vermessung von Wissenschaftsfreiheit Ergebnisse und Hintergründe des Academic Freedom Index

Katrin Kinzelbach Janika Spannagel

/ 16 Minuten zu lesen

Wie kann der Grad an Wissenschaftsfreiheit systematisch und global gemessen werden? Der neu entwickelte Academic Freedom Index gibt für 175 Länder und Territorien sowie rückwirkend bis 1900 Auskunft.

Als die Roten Khmer unter Pol Pot 1975 in Kambodscha die Macht übernahmen, suspendierten sie als Teil ihrer brutalen "Year Zero"-Kampagne sämtliche akademische Tätigkeiten, setzten Bibliotheken in Brand, verwandelten Schulgebäude in Gefängnisse, Universitäten in landwirtschaftliche Betriebe und massakrierten Tausende Forschende und Studierende. Diese Ausradierung des akademischen Sektors liegt an einem Ende eines sehr breiten Spektrums von Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit. Näher am anderen Ende finden wir Interessenkonflikte, die durch Forschungsfinanzierung von Unternehmen entstehen können. In Köln beispielsweise finanziert das Unternehmen Bayer Graduiertenprogramme im Bereich der Medizinforschung, was vor einigen Jahren Argwohn über eine mögliche Einflussnahme des Pharmakonzerns in Forschungs- und Lehrinhalte schürte. Diese beiden Szenarien – die Abschaffung von allem "Intellektuellen" und der subtile Einfluss privatwirtschaftlicher Gelder – mögen schwer vergleichbar erscheinen. Doch wenn wir Wissenschaftsfreiheit weltweit erfassen wollen, dann muss ein entsprechendes Bewertungsinstrument diese Diskrepanzen abbilden können und zugleich den Nuancen zwischen diesen Szenarien möglichst gerecht werden.

Die bislang existierende Datengrundlage bot keine klare Antwort auf die Frage, wie es um die Wissenschaftsfreiheit weltweit steht. Daher haben wir uns in einem internationalen Konsortium mehrere Jahre damit befasst, wie man Wissenschaftsfreiheit global vergleichend messen kann. Das Ergebnis dieser Arbeit ist der Academic Freedom Index (AFi), dessen zweite Auflage im März 2021 veröffentlicht wurde und mittlerweile 175 Länder und Territorien abdeckt. In diesem Beitrag stellen wir zunächst einige Ergebnisse dieses neuen Datensatzes vor, der zum ersten Mal einen systematischen globalen Vergleich von Wissenschaftsfreiheit ermöglicht. Anschließend erläutern wir die Hintergründe und bieten Einblicke in den methodischen Ansatz der Datenerhebung.

Wissenschaftsfreiheit weltweit

Wissenschaftsfreiheit weltweit 2020 nach dem Academic Freedom Index. (© bpb)

Einen ersten Überblick über die weltweite Situation der Wissenschaftsfreiheit liefert Abbildung 1, die für 2020 die Werte des AFi abbildet, der von 0 (keine Wissenschaftsfreiheit) bis 1 (hohe Wissenschaftsfreiheit) skaliert ist. Dieser erste Vergleich zeigt eine breite Diversität zwischen den Ländern und auch innerhalb der Weltregionen. In Kombination mit den jeweiligen Bevölkerungszahlen stellen wir fest, dass aktuell etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung in einem Land lebt, das unter 0,8 auf dem AFi abschneidet und die Wissenschaftsfreiheit entsprechend moderat bis sehr stark einschränkt.

Globale Durchschnittswerte der fünf Academic Freedom Index Indikatoren im Zeitverlauf (1900–2020). (© bpb)

Abbildung 2 zeigt im Zeitverlauf seit 1900 die globalen Durchschnittswerte der fünf Indikatoren, die den AFi ausmachen. Zunächst können wir ein Absacken von Wissenschaftsfreiheit in den beiden Weltkriegen (1914–1918 und 1939–1945) feststellen. Alle Indikatoren zeigen zudem global betrachtet eine langsame Verschlechterung zwischen den frühen 1960er und den späten 1970er Jahren – vermutlich im Zusammenhang mit der repressiven Politik in der Sowjetunion, der Machtübernahme durch mehrere Militärjuntas in Lateinamerika sowie dem durch den Kalten Krieg bedingten Druck auf die Wissenschaft in anderen Teilen der Welt. Die 1980er Jahre hingegen sind eine Periode langsamer Verbesserungen, die sich in den frühen 1990er Jahren mit der dritten Demokratisierungswelle beschleunigen, bevor die Wissenschaftsfreiheit sich global stabilisiert.

Seit 2013 ist bei mehreren Variablen ein leichter Rückgang zu verzeichnen, der jedoch innerhalb des statistischen Fehlers der Daten bleibt. Zudem zeigt der historische Vergleich, dass wir uns weiterhin auf einem deutlich höheren Niveau bewegen als im vergangenen Jahrhundert. Um aktuelle Negativtrends, die in letzter Zeit oft missverständlich als "globaler Rückgang" porträtiert werden, besser zu verstehen, muss man diejenigen Fälle genauer in Augenschein nehmen, bei denen sich solche Negativentwicklungen deutlich abzeichnen. Globale Trendlinien sind hierfür wenig geeignet, denn die Daten zeigen auch, dass es stets Länder gibt, die Verbesserungen aufweisen, während andere Verschlechterungen verzeichnen. Dies bedeutet keineswegs, dass der Rückgang von Wissenschaftsfreiheit vielerorts nicht besorgniserregend wäre – doch ist es auch wichtig, die positiven Entwicklungen zu würdigen, die in den vergangenen Jahren weiter stattfanden, beispielsweise in Gambia, Kasachstan oder im Sudan.

Der Vergleich zwischen den Indikatoren in Abbildung 2 deutet darauf hin, dass die institutionelle Autonomie eher träge auf Veränderungen reagiert und sich wegen eines geringeren Anstiegs seit 1990 im Durchschnitt auf einem wesentlich niedrigeren Niveau als andere Indikatoren eingependelt hat. Dies entspricht der Erwartung, dass institutionelle Prozesse langsamer vonstattengehen als die von anderen Indikatoren erfassten Bereiche. Die akademische und kulturelle Ausdrucksfreiheit weist dagegen auf globalem Niveau die stärksten Schwankungen auf. Während sie bis Ende der 1970er Jahre durchweg niedriger ist als alle anderen vier Indikatoren, steigt ihr Gesamtdurchschnittswert ab diesem Zeitpunkt steil an und erreicht ein ähnliches Niveau wie die drei anderen Indikatoren abseits der institutionellen Autonomie. In den vergangenen Jahren ist dies auch der Indikator, der am ehesten einen Rückgang im globalen Durchschnitt andeutet. Diese Muster unterstreichen die Annahme, dass die politische Ausdrucksfreiheit von Akademiker:innen empfindlicher auf Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld eines Landes reagiert als andere Aspekte von Wissenschaftsfreiheit.

Eine Betrachtung des Academic Freedom Index anhand verschiedener Länderbeispiele (Abbildung 3) zeigt stark divergierende Trends. Demnach liegt das Niveau der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland während der Kaiserzeit im frühen 20. Jahrhundert knapp unter dem weltweiten Durchschnitt, steigt dann während der Weimarer Republik deutlich an, bevor das Naziregime die Wissenschaftsfreiheit fast vollständig einschränkt. Die Besatzungszeit zwischen 1945 und 1949 wurde nicht kodiert. Im Nachkriegsdeutschland (das bis 1990 nur Westdeutschland repräsentiert) hat die Wissenschaft gleich zu Beginn ein vergleichsweise hohes Freiheitsniveau und erfährt schrittweise weitere Liberalisierungen in den späten 1960er Jahren und zum Ende des Kalten Krieges. Danach stabilisiert sich die Wissenschaftsfreiheit auf einem sehr hohen Niveau. Die Wissenschaft Irlands weist bei der Unabhängigkeit des Landes in den frühen 1920er Jahren eine im globalen Vergleich hohe Freiheit auf und zeigt laut den Indexwerten weitere Verbesserungen im Laufe der Zeit, die zeitlich mit dem allmählichen Rückgang des kirchlichen Einflusses und der Stärkung der formalen Universitätsautonomie in den frühen 1970er Jahren zusammenfallen.

Academic Freedom Index-Werte in vier Ländern und globale Durchschnittswerte im Zeitverlauf (1900–2020). (© bpb)

Im direkten Vergleich sehen wir, dass die Wissenschaftsfreiheit beispielsweise in der Türkei und Ägypten in den vergangenen Jahrzehnten deutlich unbeständiger war. Mit der Einführung des Mehrparteiensystems nach 1945 nahm die Wissenschaftsfreiheit in der Türkei zunächst zu. In den Jahren vor dem Militärputsch von 1960, der manchmal auch als "progressiver Putsch" bezeichnet wird, sinkt das Freiheitsniveau – mit der Rückkehr zur Zivilregierung nimmt sie wieder zu. Der Putsch von 1971 wirkt sich kurzzeitig negativ aus, aber es ist der Militärputsch von 1980, der die Universitäten besonders hart trifft, wie der plötzliche Rückgang des AFi-Werts zeigt. Der steile Anstieg auf einen Wert nahe des (ebenfalls gestiegenen) weltweiten Durchschnitts in den frühen 2000er Jahren fällt mit dem Beginn einer vergleichsweise liberalen Ära in der türkischen Politik zusammen, wenngleich einzelne Akademiker:innen weiterhin politisch verfolgt werden. Ab 2010 nehmen die autoritären Maßnahmen jedoch wieder zu und der Putschversuch 2016 hat eine fast vollständige Unterdrückung der Wissenschaftsfreiheit zur Folge. In Ägypten ist mit Gamal Abdel Nassers Putschversuch 1952 ein steiler Rückgang des bis dahin mittleren Niveaus an Wissenschaftsfreiheit zu beobachten, das sich schließlich unter Anwar as-Sadat (1970er Jahre) und Husni Mubarak (1981–2011) langsam wieder verbessert, insgesamt aber auf einem relativ niedrigen Niveau bleibt. Die Revolution von 2011 schafft Freiraum für einen kurzen Anstieg der Wissenschaftsfreiheit, doch fällt sie nach dem Militärputsch, der Mohamed Morsi 2013 entmachtet, auf das Niveau der Sadat-Ära zurück und erreicht zuletzt einen historischen Tiefstand.

Diese Betrachtungen sind nur einige Beispiele für die zahlreichen Einblicke in den Status und die Entwicklung von Wissenschaftsfreiheit weltweit, die der Datensatz um den Academic Freedom Index bietet. Daraus ergeben sich auch eine Reihe möglicher Einsatzgebiete, die von einer tiefer gehenden Erforschung des Themas bis hin zu praktischen Anwendungen in der Außenpolitik und Wissenschaftskooperation reichen. Der Datensatz bringt uns damit einen entscheidenden Schritt weiter, weil er zum ersten Mal eine globale Grundlage bietet, um Wissenschaftsfreiheit über Länder und die Zeit hinweg systematisch zu vergleichen. Doch wieso hat es dafür überhaupt einen vollkommen neuen Datensatz gebraucht? Und wie kommen die Indexwerte zustande? Im Folgenden geben wir Antworten auf diese Fragen.

Hintergründe: Die Datenlücke

Als wir mit unserer Arbeit zur vergleichenden Bewertung von Wissenschaftsfreiheit begannen, gab es bereits erprobte Erhebungsmethoden und Datensätze zu diesem Thema. Man kann diese grob in fünf Datentypen einteilen: Ereignisdaten, institutionelle Eigenauskünfte, juristische Analysen, Umfragedaten und Expert:inneneinschätzungen. Diese vorhandenen Methoden oder ihre bisherige Umsetzung waren jedoch ungenügend, um ein umfassendes Bild von Wissenschaftsfreiheit weltweit zu zeichnen.

Ereignisdaten, wie beispielsweise die vom "Scholars at Risk"-Netzwerk dokumentierten Fälle von drangsalierten Forschenden und Studierenden weltweit, sind zwar eine überaus nützliche Grundlage um Probleme zu illustrieren, aber sie sind ungeeignet, um Repression systematisch und umfänglich zu erfassen. Der ausschließliche Fokus auf Ereignisse von Repression und Gewalt bedeutet, dass bereits bestehende institutionelle Einschränkungen, ein etabliertes Klima der Angst und auch verdeckte Einschüchterung nicht berücksichtigt werden. Ein paradoxer Effekt ist, dass besonders repressive Kontexte dadurch relativ frei erscheinen können, weil die Selbstzensur bereits so verbreitet ist, dass Gewaltanwendung kaum noch vorkommt. Zudem ist bekannt, dass international zusammengestellte Ereignisdatensätze sehr selektiv und daher stark verzerrt sind – in der Regel zugunsten besonders gewaltsamer und sichtbarer Vorfälle.

Institutionelle Eigenauskünfte bilden beispielsweise die Grundlage für die Autonomy Scorecard der European University Association, die den Grad der Unabhängigkeit von Universitäten in europäischen Ländern bewertet. Die betreffenden Institutionen müssen dabei selbst zu einer Reihe an Kriterien Informationen zur Verfügung stellen. Das Problem mit solchen Daten ist, dass sie relativ leicht manipuliert werden können. Und sie setzen Kooperationsbereitschaft voraus – die European University Association kann keine Informationen einfordern, nur darum bitten.

Die juristische Analyse von Verfassungen, Gesetzestexten und Verordnungen ist eine weitere mögliche Grundlage für vergleichende Studien, doch auch sie hat Grenzen. Das Kernproblem liegt darin, dass die Diskrepanz zwischen der juristischen und der realen Situation in einem Land mitunter sehr groß sein kann. Wir haben beispielsweise festgestellt, dass 2020 mehr als ein Drittel aller Länder, die laut dem AFi besonders schlecht abschneiden (unter 0,4 auf einer Skala von 0 bis 1), die Freiheit der Wissenschaft in ihrer Verfassung verankert haben. Ein Beispiel ist Ägypten, dessen Verfassung die "Unabhängigkeit von Universitäten" und die "Freiheit wissenschaftlicher Forschung" garantiert, während in den vergangenen Jahren jedoch Tausende Forschende und Studierende politisch verfolgt wurden und werden und an den Universitäten ein Klima von Angst und Selbstzensur herrscht.

Ein weiterer Weg, Daten zu Wissenschaftsfreiheit zu erheben, sind Umfragen unter Forschenden und Studierenden. Die so gewonnenen Informationen können sehr wertvoll sein, insbesondere weil sie Einblicke zum Thema Selbstzensur gewähren – ein Phänomen, das anderweitig kaum erfasst werden kann. Die sinnvolle Durchführung von Umfragen ist jedoch sowohl inhaltlich als auch geografisch stark eingeschränkt: Ethische Bedenken in der Abfrage von sensiblen Themen in autoritär regierten Ländern stehen neben Problemen von Selbst-Selektion, Zensur und Manipulation einer globalen Anwendung dieser Methode im Weg.

Aufgrund dieser Problematiken sind wir zu dem Schluss gekommen, dass Expert:inneneinschätzungen am geeignetsten sind, um global vergleichbare Daten zu Wissenschaftsfreiheit zu erheben. Expert:innen können unterschiedliche Arten von Informationen kontextualisieren und so auch Datenlücken schließen, die in anderen Quellen bestehen. Aus diesem Grund ist diese Erhebungsmethode im Bereich der Demokratiemessung inzwischen grundsätzlich gut etabliert, darunter – mit unterschiedlichen Ansätzen – das "Varieties of Democracy"-Projekt (V-Dem), Freedom House oder der Bertelsmann Transformation Index. In der Regel werden an Länder dabei numerische Punktwerte vergeben, indem Expert:innen ihre qualitative Einschätzungen auf einer vordefinierten Skala verorten und damit länderübergreifend vergleichbar machen. Tatsächlich thematisierten Freedom House und V-Dem die Wissenschaftsfreiheit bereits vor der Entwicklung des Academic Freedom Index, aber mit konzeptionell unzulänglichen Indikatoren – unter anderem, weil sich beide auf politische Meinungsäußerung konzentrierten beziehungsweise auch die Lehrtätigkeit an Schulen schwerpunktmäßig einbezogen. Zwar sind Fragen von freier Meinungsäußerung und Wissenschaftsfreiheit eng miteinander verwandt, aber eben nicht identisch. Aus diesem Grund war es notwendig, neue Indikatoren zur Wissenschaftsfreiheit zu entwickeln.

Die Erhebung von Expert:inneneinschätzungen ist aufwendig und komplex. Eine große Herausforderung besteht darin, genügend qualifizierte und zuverlässige Expert:innen zu finden. Eine zweite liegt darin, die Einschätzungen verschiedener Personen so zu validieren, zu aggregieren und zu kalibrieren, dass ausgewogene und vergleichbare Ergebnisse über Länder und Zeiträume hinweg erzielt werden. Deshalb haben wir uns in der Umsetzung der Vermessung von Wissenschaftsfreiheit mit dem V-Dem-Institut an der Universität Göteborg zusammengetan und konnten von dessen langjähriger Erfahrung und umfangreicher Infrastruktur profitieren.

Was messen?

Eine Schwierigkeit des globalen Vergleichs von Wissenschaftsfreiheit liegt darin, dass das eingangs beschriebene breite Spektrum an Szenarien zwischen Kambodscha in 1975 und Deutschland in 2021 abgedeckt, aber auch die Nuancen dazwischen möglichst gut erfasst werden müssen. In vergleichenden Erhebungen gibt es jedoch immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem Grad an Vergleichbarkeit und dem Grad an Komplexität, den man erreichen kann; wir müssen vereinfachen, um vergleichen zu können. Der AFi-Datensatz geht dieses Dilemma auf zweierlei Weisen an: Zum einen beruhen die Expert:inneneinschätzungen auf einer klar definierten Fünf-Punkte-Skala, die eine sinnvolle – wenngleich noch immer grobe – Klassifizierung von Ländern weltweit ermöglicht. Zum anderen haben wir uns bewusst dafür entschieden, mehrere Komponenten von Wissenschaftsfreiheit separat voneinander zu erheben und damit der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich um ein mehrdimensionales Konzept handelt und diese Dimensionen unterschiedlich ausgeprägt sein können. So können wir durch eine disaggregierte Darstellung der Indikatoren zum Beispiel abbilden, wo Akademiker:innen vergleichsweise frei darin sind, zu entscheiden, wozu sie forschen wollen, aber stark eingeschränkt sind, wenn sie ihre Erkenntnisse an die Öffentlichkeit kommunizieren wollen.

Die Auswahl an Dimensionen von Wissenschaftsfreiheit, die im AFi-Datensatz erhoben werden, basiert auf einer Sichtung der einschlägigen Literatur und ausführlichen Diskussionen mit hochschulpolitischen Entscheidungsträger:innen, Akademiker:innen (inklusive verfolgten Kolleg:innen), und Verfechter:innen von Wissenschaftsfreiheit. Die fünf daraus resultierenden Indikatoren – die Freiheit der Forschung und Lehre, die Freiheit des akademischen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation, die institutionelle Autonomie von Hochschulen, die Campus-Integrität und die akademische und kulturelle Ausdrucksfreiheit – stehen auch in Einklang mit der Definition von Wissenschaftsfreiheit, die der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im April 2020 verabschiedet hat. Der Einbezug weiterer Aspekte wäre denkbar gewesen, beispielsweise der gleichberechtigte Zugang zur Hochschulbildung oder die Arbeitsplatzsicherheit von Akademiker:innen. Jedoch haben wir uns bewusst für eine sparsame Auswahl an Indikatoren entschieden, die die De-facto-Situation von Wissenschaftsfreiheit in einer Weise abbilden, die erstens über unterschiedliche Hochschulsysteme hinweg weltweit vergleichbar ist; zweitens spezifisch für den akademischen Sektor und noch nicht durch bereits bestehende Indikatoren erfasst ist. Die fünf Indikatoren werden durch ein von V-Dem entwickeltes Verfahren zum AFi aggregiert. Das mehrdimensionale Vorgehen erlaubt Nutzer:innen der Daten aber auch, diese Elemente einzeln zu betrachten oder in anderer Weise zu aggregieren.

Wichtig zu erwähnen ist zudem, dass wir in der Definition und Formulierung der Indikatoren jede unzulässige Einmischung nicht-akademischer Akteure als Verletzung von Wissenschaftsfreiheit betrachten; zu diesen gehören zum Beispiel Politiker:innen, Parteisekretär:innen, extern ernannte Hochschulleitungen, Unternehmen, Stiftungen, andere private Geldgeber, religiöse Gruppen und Interessengruppen. Folglich betrachten wir Einschränkungen, die von der akademischen Gemeinschaft selbst gesetzt werden, nicht als Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit, unabhängig davon, ob es sich um Fragen zu Forschungsprioritäten, ethischen und Qualitätsstandards in Forschung und Publikation oder standardisierten Curricula zur Verbesserung der Lehre handelt.

Die Index-Daten

Der AFi wurde erstmals im Frühjahr 2020 herausgegeben und wird seitdem jedes Jahr in erweiterter und aktualisierter Form veröffentlicht. Nach aktuellem Stand enthält er Daten zu 175 Ländern und Territorien und deckt den Zeitraum von 1900 bis 2020 ab. Die Datenerhebung erfolgt durch ein breites Expert:innennetzwerk anhand von standardisierten Fragebögen – am AFi-Datensatz allein waren bislang rund 2.000 Expert:innen weltweit beteiligt. In der Regel sind diese promoviert und leben in den jeweiligen Ländern, die sie bewerten. Sie verorten dabei das Land für jedes Jahr separat ("Länderjahr") für jeden Indikator auf der vorgegebenen Skala von 0 bis 4, je nach Expertise auch für historisch zurückliegende Zeiträume. Dadurch ergibt sich ein Rohdatensatz, der mehrere individuelle Expert:inneneinschätzungen für jeden Indikator und jedes Länderjahr enthält, und der auch öffentlich einsehbar ist.

Die Daten werden dann in einem komplexen statistischen Aggregierungsverfahren zusammengeführt, mit dem das V-Dem seit vielen Jahren wissenschaftlich fundierte Demokratiemessung betreibt. Das von V-Dem entwickelte statistische Modell basiert auf probabilistischer Testtheorie und der Einsicht, dass abstrakte Konzepte in der Realität nicht einfach beobachtbar sind. Es wird berücksichtigt, dass Expert:innen voreingenommen sein können beziehungsweise unvollständige Informationen haben, sodass Unsicherheiten in Bezug auf ihre Bewertungen bestehen können. Durch den Einbezug von in der Regel mindestens fünf Expert:inneneinschätzungen pro Länderjahr pro Indikator – oft noch deutlich mehr – kann statistisch ein Wert geschätzt werden, der dem "wahren" Wert möglichst nahe kommen soll. Dabei wird im Datensatz auch die statistische Unsicherheit angegeben, mit der der jeweilige Wert behaftet ist.

Trotz der soliden Erhebungsmethode hat die quantitative Erfassung von Wissenschaftsfreiheit klare Grenzen – sowohl was ihre Genauigkeit und Zuverlässigkeit angeht, als auch dahingehend, was sie von vornherein alles nicht erfassen kann. Bezüglich des ersten Punkts sehen wir beispielsweise anhand von Brasilien, wie sich die jüngsten beunruhigenden Entwicklungen unverhältnismäßig stark im Index niederschlagen, was wohl ein inhärentes Merkmal von Daten ist, die von jenen Akademiker:innen kodiert werden, die direkt von solchen Veränderungen und der einhergehenden Verunsicherung betroffen sind. Dies muss nicht unbedingt per se problematisch sein, sondern kann auch als wichtiges Warnsignal dienen – sollte jedoch offen diskutiert und kritisch begleitet werden. Die retrospektive Neubewertung, die bei den jährlichen Erhebungen von allen Expert:innen vorgenommen werden kann, bietet Raum für mögliche Korrekturen.

Die quantitativen Daten können in jedem Fall nur ein grobes Bild von der Situation der Wissenschaftsfreiheit in einem bestimmten Land und Jahr vermitteln. Aus diesem Grund raten wir dazu, die Auswertung der Daten mit Informationen aus qualitativen Fallstudien zu ergänzen, die mehr Aufschluss über länderspezifische Entwicklungen, deren Hintergründe, sowie disziplinare und institutionelle Varianz innerhalb eines Landes geben können.

Fazit

Die Wissenschaftsfreiheit ist ein international anerkanntes Menschenrecht und von grundlegender Bedeutung für den wissenschaftlichen Fortschritt, für Forschungskooperationen sowie für eine hochwertige Hochschulbildung. Trotz zahlreicher Selbstverpflichtungen von Universitäten und Staaten, diese Freiheit zu schützen, wird sie vielerorts unterminiert oder direkt angegriffen. Eine systematische, globale Untersuchung war allerdings bislang aufgrund fehlender Daten nicht möglich. Der Academic Freedom Index schließt diese Lücke mit fünf Indikatoren zu verschiedenen Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit sowie einem aggregierten Indexwert. Aufbauend auf Expert:innenbefragungen und dem bewährten statistischen Modell von V-Dem ist dieser Datensatz eine zentrale neue Ressource mit konzeptionell fundierten und empirisch validen Indikatoren. Die Daten bieten damit einen erheblichen Erkenntnisgewinn und liefern nicht nur deskriptive Informationen über den Wandel von Wissenschaftsfreiheit im Laufe der Zeit sowie die Grundlage für tiefergehende Forschung, sondern sie können auch praktische Maßnahmen zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit unterstützen.

ist Professorin für Internationale Politik der Menschenrechte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und leitet mit Prof. Dr. Staffan I. Lindberg (Universität Göteborg) ein von der VolkswagenStiftung gefördertes Projekt zum Academic Freedom Index.
E-Mail Link: katrin.kinzelbach@fau.de

forscht an der Freien Universität Berlin zu akademischer Freiheit und ist Non-Resident Fellow am Global Public Policy Institute.
E-Mail Link: janika.spannagel@fu-berlin.de