Einleitung
Das Ende der Sowjetunion sei eine "gesamtnationale Tragödie von gewaltigen Ausmaßen" gewesen, meinte der russische Präsident Wladimir Putin 2004, und fügte ein Jahr später hinzu, der Untergang der einstigen Supermacht sei zugleich "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts".
Während die Zunft kritisch mit sich selbst ins Gericht ging, setzte in Deutschland die Politik den Rotstift an und strich einige Geschichtsprofessuren, mehrere Slawistik-Lehrstühle und fast alle Politikprofessuren, die auf Osteuropa spezialisiert waren. Die "Kremlologen" in den USA wurden nicht auf diese Weise abgestraft. Dafür loderte der Streit zwischen den zwei Schulen der "Totalitaristen", welche die Sowjetunion als Werk einer kleinen, gewalttätigen Putschistengruppe sahen, die über siebzig Jahre lang das Volk terrorisiert hatte, und den "Revisionisten", die in der Sowjetunion den Staat der Arbeiter erkannten, die sich hier eine bessere Zukunft verwirklichten, ein letztes Mal auf. Richard Pipes polemisierte, von der sozialgeschichtlichen Geschichtsschreibung der Revisionisten werde nur eine Fußnote übrigbleiben; die Öffnung der Archive werde all ihre sowjetfreundlichen Elaborate Lügen strafen.
Ende der Geschichte
Während im Westen Osteuropaspezialisten um Stellen, Selbstverständnis und Sympathisantentum rangen, wurde in Russland eine ganze Zunft entwurzelt und auf dem "Kehrrichthaufen der Geschichte" entsorgt. In der Sowjetunion hatte man nicht bloß "Geschichtswissenschaft", sondern die gesamte Weltgeschichte als "Geschichte der KPdSU" studiert. Nach dem Verbot der Partei im August 1991, der Diskreditierung der Ideologie und dem Einzug des Kapitalismus auf dem Arbeitsmarkt wurde Geschichte zur brotlosen Kunst: Akademiemitglieder, Universitätsangestellte oder Museumsfachleute suchten sich Zweit- und Drittjobs, um ihre miserablen Löhne aufzubessern. Wer Glück hatte, blieb im Metier und schrieb für Manager-Magazine populärwissenschaftliche Geschichtsessays; wer weniger Glück hatte, verdingte sich als Möbelpacker. Wer die Zeichen der Zeit begriff und die Chance dazu hatte, machte einen Crashkurs in westlichen Theorien, von Max Weber über Pierre Bourdieu bis Michel Foucault, und verschwand ins Ausland, vornehmlich an eine amerikanische Universität. Das Ergebnis: Viele der besten Köpfe sind Professoren in den USA geworden; in Russland gibt es noch die "alte Garde" der hochbetagten Akademieapparatschiks und einige junge, viel versprechende Historikertalente. Aber die Generation dazwischen ist fast nicht existent. Die russische Historikerzunft beginnt sich nach dem Weltuntergang von 1991 erst langsam wieder zu regenerieren.
Die Historiker, die sich nicht mit Nabelschau oder der eigenen Existenzsicherung beschäftigten, interessierten sich weniger für Ursachen und Folgen von 1991 als für die Hochzeit des Stalinismus in den 1930er Jahren und den Großen Terror. Während sie die Geschichte der Sowjetunion von hinten aufrollen und sich langsam in die Chruschtschow- (1953-1964) und Breschnew-Zeit (1964-1982) vorarbeiten, bleibt ein gravierendes Problem bestehen: Das Russländische Staatsarchiv für Neuste Geschichte (Rossiiskii Gosudarstvennyi Arkhiv Noveishei Istorii/RGANI), das die zentralen Aktenbestände für die Zeit nach 1950 verwahrt, ist kaum zugänglich: Es hat nur an drei Tagen pro Woche geöffnet, Lesern ist das Verwenden eines Laptops untersagt, und die meisten Bestände sind gesperrt oder nur in Teilen einsehbar.
Krise oder Selbstmord?
Es ist vielleicht nicht erstaunlich, dass sich auch zum Ende der Sowjetunion zwei gegenläufige Meinungen entwickelt haben. Die noch vorherrschende Lehrmeinung scheint auch die "logische" und für den westlichen Beobachter plausiblere Erklärung zu sein: Die Sowjetunion befand sich in der Krise und hatte sich delegitimiert: Der Marxismus-Leninismus war zur Kulisse verkommen und wurde seit den 1960er Jahren zunehmend verlacht und verhöhnt.
Dem widersprechen so prominente Experten wie der Gorbatschow-Spezialist Archie Brown, Politologe in Oxford, und Stephen Kotkin, Geschichtsprofessor in Princeton.
"Alles war für immer, bevor es verschwand", heißt daher auch das vielbeachtete Buch von Aleksei Yurchak, Professor für Anthropologie in Princeton und selbst gebürtiger "Sowjetmensch".
Generationenthese
Yurchak beschreibt dieses Phänomen für die letzte sowjetische Generation, die in den 1970er/1980er Jahren sozialisiert wurde und die Vladislav Zubok, in Moskau ausgebildeter Historiker, heute Professor in den USA, verächtlich nur die "zynischen Konformisten" schimpft.
Nimmt man diese ersten, vorläufigen Ergebnisse zu vier Generationen ernst, dann scheint es nicht erstaunlich, dass von außen keine Krise erkannt wurde, denn die letzten zwei Generationen waren eher Konformisten, die sich in der Sowjetunion eingerichtet hatten und weder den Stalin'schen Terror der 1930er Jahre noch das Grauen des Großen Vaterländischen Krieges erlebt hatten, und auch nicht die bleierne Zeit der Angst des Spätstalinismus. Folgt man dieser These weiter, dann gehörte Michail Gorbatschow, Jahrgang 1931, zur Generation der Dissidenten. Tatsächlich sah er sich selbst als schestidesjatnik und war mit dem tschechoslowakischen Dissidenten Zdenk Mlyná befreundet, mit dem er von 1950 bis 1955 in Moskau Jura studiert hatte.
Gorbatschow, der Radikalreformer
Gorbatschows Memoiren lassen keinen Zweifel daran, dass er Staat, Partei und Wirtschaft schon 1978, als Andropow ihn als Politbüromitglied nach Moskau holte, in einer tiefen Krise sah. Das ganze Land habe den "Rat der Greise" nicht mehr ernst genommen.
Gorbatschow beschreibt sehr eindringlich die Krise und Endzeitstimmung, die er verspürte, gibt aber gleichzeitig zu Protokoll, dass dies der Blick eines Insiders war, während die Bevölkerung nicht wissen konnte, dass sie unter Breschnew und Tschernenko zehn Jahre lang von Männern regiert wurde, die physisch dazu nicht mehr in der Lage waren. Für ihn folgte daraus, dass die Perestroika von oben beginnen musste: "Anders konnte das unter den Bedingungen des Totalitarismus gar nicht sein. (...) Man musste so schnell wie möglich die Gesellschaft aus der Lethargie und Gleichgültigkeit reißen und sie in den Reformprozess einbinden."
Als Gorbatschow am 25. Dezember 1991 von seinem Posten als Präsident der Sowjetunion, die es nicht mehr gab, zurücktrat, sagte er: "Ich wusste, dass es sehr schwierig und sogar riskant sein würde, Reformen in einem solchen Maßstab in einer solchen Gesellschaft anzustoßen. Aber ich bin auch heute noch überzeugt von der historischen Richtigkeit dieser demokratischen Reformen, die im Frühjahr 1985 ihren Anfang nahmen."
Lichtgestalt versus Totengräber
Gorbatschow spielt im heutigen Russland kaum eine Rolle. Stalin wird zum Superstar gekürt, Breschnew wird als Vater des "goldenen Zeitalters" gefeiert, aber Gorbatschow gilt eher als Unperson. In einem Geschichtsbuch für Lehrer aus dem Jahr 2007 werden die "Irrtümer" Gorbatschows herausgestrichen, und er wird als Totengräber der Sowjetunion präsentiert. Er habe unter dem Einfluss des Westens ein großes Land zugrunde gerichtet, ohne Not die Hegemonie in Ostmitteleuropa aufgegeben und den "realen Sozialismus" diskreditiert.
Ganz anders sahen dies Dissidenten, Wegbegleiter und kritische Historiker Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre. Sie teilten mit dem Westen die Begeisterung für diesen Mann, der unerschrocken, ohne Rücksicht auf Verluste, angetrieben nur von seinen Überzeugungen, die Welt ins Wanken brachte. Dmitri Wolkogonow, der große Biograf der "Sieben Führer", beginnt sein Portrait mit den Worten, Gorbatschow sei der einzige "Führer" gewesen, der versucht habe, Russland dauerhaft mit der Freiheit zu vereinen.
Gorbatschow war ein Gesinnungstäter, darin sind sich alle einig. Bezeichnend war, so der Dissident Zhores Medwedjew, dass Gorbatschow mit Amtsantritt nicht wichtige außen- oder innenpolitische Maßnahmen ergriff, sondern zunächst mit der Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms begann.
Auch Archie Brown und William Taubman feiern Gorbatschow als große historische Persönlichkeit und können von Superlativen nicht lassen. Taubman, der schon die Monumentalbiografie zu Chruschtschow schrieb, hat sein Gorbatschow-Werk zum 1. Mai 2013 angekündigt. Archie Brown, der 1996 den "Gorbatschow-Faktor" veröffentlichte, nannte sein 2007 erschienenes Buch "Sieben Jahre, die die Welt veränderten", in Anlehnung an den berühmten Augenzeugenbericht zur Oktoberrevolution des Journalisten John Reed "Ten Days That Shook the World" (1919). Brown zieht nicht nur historische Parallelen zum Jahr 1917, als ein neues Zeitalter begann; er vergleicht Gorbatschow indirekt mit Martin Luther, wenn er sagt, die Perestroika habe eine starke moralische Dimension gehabt, die dem Protestantismus ähnelte, der sich gegen die korrupte katholische Kirche stellte. Weder habe Luther die Kirche spalten, noch Gorbatschow die Sowjetunion zu Grabe tragen wollen.
Patrone und Klienten
Es ist zweifellos richtig, dass die Rolle Gorbatschows nicht überschätzt werden kann, und dennoch macht eine solche Hervorhebung eines Individuums die Historiker nervös. Die Frage lautet, wer ihn unterstützte. Als Gorbatschow an die Macht kam, waren die "klassischen" Dissidenten kaum noch existent: Die meisten waren exiliert, emigriert, in Verbannung oder in Haft. Daher wenden sich Forscher vermehrt den "Reformern im System" oder den "loyalen Dissidenten" zu, die zwar den Einmarsch in Prag 1968, die Entlassung Andrei Sacharows und die Exilierung Alexander Solschenizyns verurteilten, aber ihre Gedanken für sich behielten. Unter Breschnew entwickelten sich eine Reihe von wissenschaftlichen Einrichtungen, Redaktionen und auch ZK-Abteilungen zu Schutzräumen, in denen "loyale Oppositionelle" oder "liberale Konformisten" unter der Protektion eines mächtigen Institutsleiters mit Verbindungen ungestört denken und überwintern konnten - bis Gorbatschow sie rief.
Damit rückt ein weiteres Phänomen in den Mittelpunkt des Interesses von Historikern, das weithin anerkannt, aber doch noch wenig erforscht ist: die Rolle von Patron-Klienten-Beziehungen - nicht nur für den Schutz von Andersdenkenden, sondern für die Funktionsweise von Herrschaft in der Sowjetunion. Die Sowjetunion war, soviel steht außer Frage, kein bürokratischer Staat, sondern ein Personenverbundssystem, in dem nicht klare Strukturen, Hierarchien und Institutionen über Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten entschieden, sondern in dem persönliche Verbindungen das wichtigste Kapital waren. Stalin lebte mit den Politbürofamilien wie ein kaukasischer Clan im Kreml zusammen, Chruschtschow baute seine Macht auf den ZK-Sekretären auf, die seine Klienten waren, Breschnew gilt als Machtvirtuose im Umgang mit den verschiedenen Interessengruppen schlechthin.
Das bedeutet aber, dass der von ihm erzielte Idealzustand der totalen Kaderstabilität in Gorbatschows Augen genau der Kern allen Übels war: die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Macht um jeden Preis. Was Breschnew als Wohltat für alle nach Stalin und Chruschtschow einführte, bekämpfte Gorbatschow als Korruption. Er rüttelte damit an nichts geringerem als den Säulen des Systems, die Stalin aufgebaut, Chruschtschow entwickelt und Breschnew zementiert hatte. Anders ausgedrückt war die Sowjetunion weniger auf Ideologie gegründet als auf ein spezielles Herrschaftssystem der Patron-Klienten-Beziehungen, die Gorbatschow zum Feind Nummer 1 erklärte. Er wollte freie Wahlen statt Akklamation, freien Meinungsaustausch statt vorgestanzter Phrasen, freie Ämtervergabe nach Kompetenz und nicht nach Proporz. All das mochte mit seinen Idealen von Leninismus vereinbar sein, nicht aber mit dem sowjetischen System. Es ist daher zu hoffen, dass die ausstehende Biographie von Taubman nicht nur Gorbatschow als unbestechlichen Denker und unverbesserlichen Idealisten zeigt, sondern auch das Herrschaftssystem analysiert, das an Perestroika und Glasnost zugrunde gehen musste.
Postumer Patriotismus
Interessanterweise zeigen neueste Studien, dass heute keineswegs in allen ehemaligen Unionsrepubliken die Mehrheit der Bevölkerung glücklich darüber ist, dass die Sowjetunion nicht mehr existiert. Nicht nur in Russland wird der Zerfall des Imperiums als Verlust von geostrategischer Größe, Identität, Freizügigkeit, Sprachgemeinschaft und Völkerfamilie empfunden. Es scheint, als ließe sich die stets angezweifelte Existenz des homo sovieticus doch nachweisen, zumindest postum und ex negativo. In Zentralasien, aber auch in Armenien oder im Altai-Gebiet beklagen Menschen, dass sie mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Problemen auf den nationalen oder regionalen Rahmen verwiesen sind, sich marginalisiert und von der Weltgeschichte abgekoppelt fühlen.
Dass das Ende der Sowjetunion im Westen nicht vorausgesehen wurde, war auch ein Problem der sozialwissenschaftlichen Methode, so Dominic Lieven.