Wahlkämpfe sind Hochfeste der Demokratie. Zumindest ist das die Annahme, wenn man intensivierte politische Kommunikation als Diskurstreiber einer offenen, liberalen Gesellschaft versteht. Nie sind Bürgerinnen und Bürger politisch so gut informiert und interessiert wie in Superwahljahren. Die Parteien zielen auf die Maximierung von Wählerstimmen, um viele Mandate im Bundestag zu gewinnen, die wiederum für eine Regierungsbildung notwendig sind. Dem sozialpsychologischen Modell des Wählerverhaltens folgend, entwickelt sich das individuelle Wahlverhalten im Zusammenspiel von Parteiidentifikation mit der Kandidaten- und Themenorientierung.
Dies ist von Bundestagswahl zu Bundestagswahl immer wichtiger geworden. Denn wählerische Wähler agieren seltener milieugebunden, sondern häufiger individuell nutzenorientiert. Wählerkalküle erscheinen heterogener, komplexer, überraschender. Die Volatilität der Wählerinnen und Wähler nimmt zu und damit steigt die Herausforderung für die Parteistrategen bei der Planung von Wahlkämpfen.
Das verwandelt Wahlkämpfe für die Parteien in komplexe Herausforderungen, die strategische Planung und flexible Innovationen voraussetzen. Doch was die Parteien 2021 erwartete, potenzierte die Konturen des Nichtwissens.
Virale Bundestagswahl
Wenn Wahlen auch Momentaufnahmen zur Lage der Nation sind, dann prägte das Coronavirus entscheidend das Superwahljahr. Denn das politische Momentum war überlagert von der Coronapolitik. Als wichtigstes wahrgenommenes Problem hielt es sich bei den Umfragen bis zum Wahltag im oberen Bereich. Noch im September 2021 sagten 28 Prozent der Wahlberechtigten, dass Corona und die Folgen der Coronapolitik zu den wichtigsten Problemen gehören. Auf Platz 1 mit 47 Prozent rangierte: Umwelt/Klima/Energie.
Die Pandemie setzte nicht nur direkt und vor allem indirekt die Themen, sondern veränderte auch die Wahlkampfformate. Wirkungsvoll zu mobilisieren war nicht einfach unter Bedingungen von Abstand und Distanz. Betroffen war auch eine generelle Sichtbarkeit der Kandidatinnen und Kandidaten. Wir wissen beispielsweise, dass durchaus auch persönliche Attraktivität im Wahlkampf Prozentwerte bringt.
Wahlen sind ein verlässlicher Gradmesser des Vertrauens. Welcher Partei, welcher Kandidatin, welchem Kandidaten trauen wir persönlich das Lösen wichtiger Probleme zu? Das Vertrauensreservoir war im Jahr 2021 erschöpft. Die Distanz-Demokratie provozierte. Damit war nicht der Widerstand einer stets kleinen Minderheit gegen die Coronamaßnahmen gemeint. Vielmehr provozierte uns täglich die überlebensnotwendige Übersetzung demokratischer Spielregeln und Praktiken in neue Formate der Distanz und des Abstands. Das galt besonders im Superwahljahr 2021, in dem eine strategische politische Kommunikation der Mobilisierung für Parteien und Personen zwingend notwendig war. Wir fühlen uns bei den Kulturtechniken der Demokratie in außergewöhnlicher Weise herausgefordert, oft auch überfordert. Informieren, organisieren, erinnern, kommunizieren, partizipieren, mobilisieren, debattieren – all das gilt in der Frühdigitalisierung unseres Alltags ohnehin schon seit einigen Jahren als neues Betriebssystem unserer Gesellschaft.
Auch Meinungsbildung fiel in der Distanz schwer. Willensbildung geht oft einher mit Group-Thinking. Die Logik des Sozialen, die interpersonale Kommunikation, das Erlebnis der Begegnung formt Meinungen.
Ohne Kanzlerbonus und ohne Wechselstimmung
Eine zweite Besonderheit des Wahlkampfs 2021 liegt in der historischen Konstellation: Niemals zuvor fanden Bundestagswahlen ohne Titelverteidiger statt – sieht man von der ersten Wahl 1949 einmal ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel verzichtete nach einer Serie verheerender Landtagswahlen für die CDU im Mai 2019 auf eine erneute Kandidatur und gab den Parteivorsitz ab.
"Wer wird Merkel?" – so spitzte sich für alle möglichen Nachfolger die Entscheidungsfrage zu. Wer sollte die Coronaprämie am Wahltag ausgezahlt bekommen, wenn die Pandemie weitgehend eingehegt sein würde? Das war zum frühen Zeitpunkt noch unklar. Überträgt sich ein solcher Bonus automatisch auf den Kanzlerkandidaten Laschet, wenn die Union als gefühlte Staatspartei immerwährend in der Wählergunst für Stabilität und Sicherheit steht?
Wer von einem Vertrauenstransfer ausging, unterschätzte gründlich die kulturelle Zäsur, die mit dem politischen Ende der Ära Merkel einherging. Sie prägte für eine politische Generation das Politikverständnis. Wahlen bedeuteten in der Regel die Einlösung der Formel "Merkel plus X" gleich Mehrheit.
Eine dritte Besonderheit des Wahlkampfs 2021 zeigt sich im historischen Vergleich der Wahlen. Am Ende der Adenauerzeit existierte ebenso wie nach 16 Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (CDU) ein starker Wunsch nach Veränderung, nach Überwindung, nach Neuanfang. 2021 war eine vergleichbare eindeutige Wechselstimmung nicht messbar.
So blieb die Stimmung im Wahljahr ambivalent: Die Sehnsucht nach einem neuen Auftritt und andere Veränderungswünsche wurden begleitet von veränderungsmüden Erwartungen. Die coronabedingte Erschöpfung führte zum Wunsch nach Normalität, Stabilität und Ruhe. Diese starke Ambivalenz zwischen Status quo und Veränderung wurde überlagert von einer Medienberichterstattung, die den einseitigen Eindruck vermittelte, dass es um eine Klimawahl gehen würde, bei der die Mehrheit deutlich für die große Transformation votieren könnte. Das Ergebnis der Bundestagswahl dokumentiert präzise eine Sowohl-als-auch-Stimmung. Sie führte zum bekannten Modell des dosierten Machtwechsels in Deutschland, der Koalitionswahl mit Kontinuitätsversprechen: einer aus der alten Regierung ist auch bei der neuen mit dabei. Diese Unentschiedenheit mit unklarem Regierungsauftrag und knappen Siegern (neun Mandate liegen zwischen SPD und Unionsfraktion) war in einem Wahlkampf ohne deutliche Wechselstimmung frühzeitig zu erkennen. Aus Mitte-rechts könnte Mitte-links werden, wenn sich die neuen Gewichte auch in der Regierungsbildung spiegeln.
Phasen und Strategien im Wahlkampf
Die Bundestagswahl war eingebettet in ein Superwahljahr. Drei Landtagswahlen fanden als Testlauf im Vorfeld statt (in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sowie zeitversetzt in Sachsen-Anhalt), zwei Landtagswahlen (in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin) zeitgleich mit der Bundestagswahl.
Gleichwohl hielt das Wahljahr im Umfragekampf viele Überraschungen bereit. Selten kreuzten sich die Hochs und Tiefs sowohl in der Sonntagsfrage als auch bei der Beliebtheit der Kanzlerkandidaten so wie 2021 – Volatilität im Kurvenformat.
Die zweite Phase begann im Mai: Die Grünen überholten kurzzeitig die Union (26 Prozent zu 24 Prozent). Der kontinuierliche Sinkflug der Grünen begann dann, mit den diversen Fehlereingeständnissen der Spitzenkandidatin, Ende Mai.
Die dritte Phase setzte als Hauptwahlkampfzeit nach den Sommerferien Ende August bis Anfang September ein. Die SPD überholte in den Umfragen erstmals seit Jahrzehnten die Union
Die inhaltlichen Auseinandersetzungen und Unterschiede zwischen den Parteien prägten ab Mitte August den Wahlkampf. Ein zentrales überwölbendes Thema fehlte allerdings, wie es etwa bezüglich der Migrations- und Flüchtlingsfrage bei der Bundestagswahl 2017 existiert hatte. In den Monaten zuvor kam der Wahlkampf verstörend inhaltsleer daher. Die Fehler der Kandidaten dominierten die Berichterstattung, nicht die Themen für eine mögliche Mobilisierung der eigenen Anhänger. Inhaltsschwere kam erst in den letzten Wochen vor dem Wahltag auf – getrieben durch die Frage, wie eine Transformation der Gesellschaft besser gelingen kann: mit Verboten, mit Regeln, mit Anreizen?
Wie haben sich die Wahlkampagnen der drei Kanzlerkandidaten-Parteien unterschieden? Die Union hatte ihren Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) verhältnismäßig spät im April 2021 nominiert. Laschet, in der Rolle des relativ neuen Vorsitzenden, war noch nicht so gefestigt im Amt, dass er die Kanzlerkandidatur einfach hätte verkünden können. Der Machtpoker um die Kandidatur zwischen Markus Söder (CSU) und ihm fesselte im Babylon Berlin und hinterließ tiefe Risse in der Unionsfamilie. Söder suchte das Machtvakuum des frischen CDU-Vorsitzenden zu nutzen, um seine eigene Kandidatur zu erzwingen. Mit rebellisch-brachialem Populismus zweifelte er öffentlich an der Repräsentativität der politischen Willensbildung in den Führungsgremien der CDU. Die Belastung durch diese umkämpfte Konstellation war für Laschet eine schwere Bürde im gesamten Wahlkampf. Die Schwesterparteien wirkten auf die Wählerinnen und Wähler zu keinem Zeitpunkt geschlossen und geeint hinter ihrem Kandidaten Laschet. Das späte Wahlprogramm setzte auf einen muskulären, nicht übergriffigen Staat. Es war Ausdruck einer vermeintlich unentbehrlichen Staatspartei, die Kontinuität im Wandel einmal mehr versprechen wollte, ohne dazu allerdings kampagnenfähige Gedanken vorzutragen.
Die Anlage des Wahlkampfs glich den Vorgängermodellen: ein Wohlfühlwahlkampf, der nicht polarisiert.
Als strategischer Fehler stellte sich zudem heraus, dass die Union nicht vorbereitet war, als die SPD in den Umfragen an den Grünen vorbeizog und diese auf Platz drei verdrängte. In der Schlussphase des insgesamt flatterhaft wirkenden Hauptwahlkampfes inszenierte die Union nochmals die Wiederauflage der "Rote-Socken-Kampagne", um vor einem rot-grün-roten Linksbündnis offensiv zu warnen. Immerhin hatte diese Polarisierung aus Sicht der Union Erfolg, denn die Linken blieben unter der Fünfprozenthürde, und es gelang damit, die Koalitionsvarianten einer Regierungsbildung für Olaf Scholz zu minimieren. Der Game-Changer in der Kampagne der Union war Armin Laschets unbeabsichtigtes Lachen im Flutgebiet. An diesem Bild zerbrach sein Wahlkampf.
Als tauglicher Erbe Merkels erwies sich insbesondere der Kandidat der SPD. Diese nominierte ihn bereits im August 2020. Olaf Scholz stand inhaltlich – ebenso wie die Kanzlerin – für die gesellschaftspolitisch progressive Mitte. Er hatte als Bürgermeister von Hamburg bewiesen, wie moderne Urbanität sozialverträglich mehrheitsfähig bleiben kann. Als Typus prägt er ebenso wie Merkel das Ruheregiment mit vornehmer Unangreifbarkeit, Solidität und Risiko-Unlust. Wer sich für die Fortsetzung der Merkel-Politik stark machte, fand mit Scholz einen sehr mächtigen Aspiranten. Die Scholz-Kampagne setzte von Beginn an auf eine Kopie des merkeligen Sicherheitsgefühls. Zudem warb er mit dem Vizekanzler-Bonus, zumal als Finanzminister, der in der Coronakrise Milliarden Euro zusätzlich verteilte. Plakate und Auftritte konzentrierten sich einzig auf seine Person. Andere Stimmen aus der Partei waren nicht zu hören oder wurden unterdrückt. Seine hegemoniale Stellung disziplinierte die SPD.
Die Grünen wiederum lebten zunächst vom Zulauf aus mehreren Richtungen. Sie agierten multikoalitionsfähig – sichtbar in Regierungsverantwortung und in der Opposition zugleich. Sie kratzten an der Dominanz der Union, indem sie das Kompetenzzentrum für Umwelt- und Klimapolitik verkörperten. Ein schonender Umgang mit Ressourcen in der stillgestellten Zeit hatte zudem bürgerliche Wähler mit grünen Ideen versöhnt. Von der Coronaprämie profitierten die Grünen auch deshalb, weil sie mit ihrer professionellen Doppelspitze im Bund einen gewachsenen Bedarf nach normativer Orientierung befriedigten: der Rettung eine Richtung geben. Sie setzten mit ihrer eigenen Moral-Währung voll auf die schonende und gemeinsame Transformation der Gesellschaft.
Der Kommunikations- und Führungsstil begeisterte bürgerliche Kreise, die sich mit Realitäts-Demut geißelten. Hier hatte nicht die neo-dirigistische Entschiedenheitsprosa Aussicht auf Gehör, sondern eher Machtpoesie als Moderation von Ambivalenzen. Doch die Wahlkampagne mit ihrer zentralen Botschaft "Neuanfang" stockte, als die Grünen vom Doppel auf das Einzel umstellten. In dem Moment, in dem sie andere Parteien kopierten und das "Andere", was sie in der Parteiengeschichte groß gemacht hatte, verließen, häuften sich die Fehler. Im Rausch des Umfragehochs nominierten die Grünen erstmals in ihrer Parteigeschichte eine Kanzlerkandidatin. Persönliche Fehler der Kandidatin Baerbock (fehlerhafte Angaben im Lebenslauf bis hin zu Plagiaten in einer Monographie) führten innerhalb von vier Wochen zu einem dramatischen Stimmungsverfall in den Umfragen. Das Vertrauen in die Seriosität der Kandidatin zerbrach. Ihre Unerfahrenheit in der Exekutive brachte die Wahlkampagne in eine schwierige Schieflage. Da half am Ende weder die Hochwasserkatastrophe an der Ahr noch der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts oder die Fridays for Future-Demos, um den Zieleinlauf bei der Bundestagswahl deutlich zu verbessern. Die Kandidatin reduzierte die Chancen der Partei. Gemessen am Bundestagswahlergebnis von 2017 gehören die Grünen mit den deutlichsten Zugewinnen dennoch zu den strategischen Siegern im Parteienwettbewerb der Legislaturperiode. Sie verbesserten sich von der kleinsten Fraktion des Bundestages zur nun drittstärksten von insgesamt sechs Fraktionen.
Grundsätzlich dokumentieren die Umfragedaten mit der ausgeprägten Wechselhaftigkeit auf dem Wählermarkt, dass bei dieser Bundestagswahl offenbar drei prekäre Kanzlerkandidaten zur Wahl standen. In der Wahrnehmung der Wähler hatten Union und Grüne parteiintern auf die falschen Kandidaten gesetzt. Söder und Habeck wurden in der Bevölkerung ungeprüft als aussichtsreicher eingeschätzt. Die gleichen Wähler unterstellten zugleich, dass Olaf Scholz in der falschen Partei sei.
Auch 2021 war der Wahlkampf über weite Strecken ein Umfragekampf. Als strategisches Instrumentarium gehört die Demoskopie mittlerweile zu den wichtigsten Ressourcen des Wahlkampfmanagements. Ihre Stellung hat sich unter den Bedingungen wachsender Volatilität verfestigt. Wähler lieben Favoriten und sind Fans des Erfolgs. Umfragedaten verstärken Aufstiegsbewegungen ebenso wie Abwärtsspiralen.
Richtung des Wählens
Das Superwahljahr folgte einer außeralltäglichen Logik. Es blieb eigenartig einzigartig. Die Grundstimmung changierte zwischen einem Enthusiasmus des Positiven ("solidarisch haben wir Corona besiegt") und der Wehmut des Vorsichtigen ("hier funktioniert nichts"): sorgenvoll zufrieden oder zufrieden im Unbehagen? Diese uneindeutige Grundstimmung mobilisierte immerhin nochmals mehr Wählerinnen und Wähler als 2017, was durchaus überrascht, da eine maximale Themenpolarisierung im Wahlkampf fehlte. Die höhere Wahlbeteiligung spricht für einen insgesamt gelungenen Wahlkampf der Parteien, der hinreichend mobilisieren konnte.
Die gewählten Parteien sortieren sich im Setting des Bundestages in einem multipolaren Vielparteiensystem. Der Bundestag ist weniger polarisiert als in der letzten Legislaturperiode.
Die Coronapolitik stellte im Superwahljahr 2021 naheliegende Mobilisierungsherausforderungen. Zukunftssicherheit spielte bei den Motiven auf dem Wählermarkt eine große Rolle: Wie schaffen wir eine resiliente Demokratie? Das bedeutet viel mehr als nur Pandemievorsorge. Denn die Reparaturbedürftigkeit des Nachsorgestaates fiel besonders in der Pandemie auf. Insofern wuchs die Sehnsucht nach einem klug schützenden, einem lenkenden Vorsorgestaat. Der Wahlkampf kam dennoch maximal zumutungsfrei daher. Doch die Wählerinnen und Wähler ahnen, dass bedingungslose Daseinsvorsorge einen Preis haben wird. Die Schlüsselressourcen zum Aufbau einer resilienten Demokratie spielten im Wahlkampf eine indirekte Rolle, avancieren jedoch zum Politiktreiber in den Koalitionsverhandlungen. Da die Bundestagswahl zum zweiten Mal in Folge ohne klare Koalitionsaussagen im Wahlkampf stattfand, endet der Wahlkampf nicht am Wahlsonntag. Die Rollen bleiben zwischen den drei beziehungsweise vier verhandelnden Parteien offen: Regierung oder Opposition? Die Verlängerung des Wahlkampfes in Sondierungen und Koalitionsverhandlungen ist nicht neu. Doch niemals zuvor hatten zwei Kanzlerkandidaten die Chance, jeweils unterschiedliche Mehrheiten zu bilden – zumindest gefühlt für kurze Zeit. Auch das macht die Bundestagswahl über den Wahlkampf hinaus zum Unikat.