Krisendiagnosen zum Zustand der Demokratie sind in der jüngeren Vergangenheit allgegenwärtig. Die Rede ist etwa von einer akuten Repräsentationskrise und dass das Verhältnis von Regierenden und Regierten – verstärkt noch durch die Pandemiekrise – umkippe in Misstrauen und Verdruss. Volksparteien verlieren Mitglieder und Stammwähler, soziale Milieus "ganz oben" und "ganz unten" nehmen nicht mehr an Wahlen teil. Die politische Beteiligung verlegt sich auf die Straße, das politische Klima polarisiert sich, viele haben sich desillusioniert vom politischen Betrieb abgewandt und kommentieren ihn zynisch. Populisten adressieren "das Volk" als ihre Basis und richten es gegen das "Establishment" aus – gegen die Parteien, das Parlament, die Regierung, auch die Medien und selbst gegen Gerichte. Völkisch-autoritäre Nationalisten stellen "das Volk" über das bestehende Recht und zerstören, wo sie an der Macht sind, die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative. Diese Trends summieren sich weltweit zu demokratischen Regressions- und Krisentendenzen.
So weit, so bekannt. Darlegungen zum "Sterben der Demokratie" füllen ganze Bibliotheken. Man weiß, was schiefgelaufen ist und weiterhin schiefläuft, wie Autoritäre und Autokraten gegen die liberale Demokratie als Herrschafts- und Lebensform vorgehen. Indes: Was kann man diesem Trend entgegensetzen? Was kann die Entdemokratisierung bremsen, was die seit kurz nach der Jahrtausendwende zu beobachtende Entwicklung umkehren? Schon immer war Demokratie instabil und gefährdet – immer standen dem jedoch auch gegenläufige Tendenzen einer "Demokratisierung der Demokratie" entgegen. Mehr soziale Gruppen wurden wahlberechtigt, das Wahlalter gesenkt, hierarchische soziale Systeme mussten sich Forderungen nach sozialer Gleichheit und Mitwirkung öffnen. Welche Ideen gibt es heute, um Demokratie zu vertiefen?
Notwendige Innovationen
Die gute Nachricht ist: Dem verbreiteten Verdruss über etablierte politische Prozeduren korrespondiert eine Lust auf Beteiligung – weniger bei den "Verdrossenen" selbst, die nur hier und da auf der Straße Druck ablassen, als bei den politisch ohnehin Interessierten, denen die Abgabe ihrer Wählerstimme alle vier Jahre zu wenig ist, die Mitgliedschaft in einer Partei, einem Verein oder einer Initiative jedoch zu mühsam beziehungsweise zu altmodisch erscheint. Der Zulauf etwa zu sozialen Bewegungen, zu Nichtregierungsorganisationen, zum Freiwilligenengagement oder zum sozial-ökologischen Unternehmertum ist so zu erklären. Aber auch diese Partizipationsformen leiden oft unter einem Mangel an Strukturen für kontinuierliche und nachhaltige Mitwirkung, die der Demokratie neuen Schwung geben könnten. Einen Ersatz scheinen die sozialen Medien zu bieten, die jedoch oft eher zum Eintauchen in Echokammern und zum "Dampfablassen" dienen und sich weniger, wie von manchen erhofft, zu einer Plattform für e-democracy gemausert haben.
Damit kommen wir zum Punkt: Sowohl der parlamentarischen als auch der in sozialen Medien geführten Debatte mangelt es oft an einer gründlichen Erörterung von Entscheidungsalternativen. Die politisch-mediale Debatte ist meist personalisierend und präsentistisch, demoskopiegetrieben und zukunftsblind. Das hat vor allem in ökologischen Fragen zu einem kolossalen Versagen speziell der Berufspolitik geführt, das Protestbewegungen wie Fridays For Future und Extinction Rebellion vor Augen geführt haben.
Dass in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer mehr direkte Bürgerbeteiligung gefordert und gewährt wurde, ist die Folge einer bereits länger währenden "partizipativen Revolution" – und des mit ihr seit dem Wertewandel in den 1960er Jahren weltweit einhergehenden Anspruchs, Berufspolitik nicht als einzig legitimen Ausdruck des Politischen zu begreifen und hinzunehmen, sondern Agenden, die im politischen Alltagsbetrieb unterrepräsentiert sind, mit "unkonventioneller Beteiligung" aufzugreifen: vom Straßenprotest über soziale Bewegungen, die Gründung von Bürgerinitiativen, Petitionen und Volksinitiativen bis hin zu zivilem Ungehorsam.
Komplementär zu diesem maßgeblich "von unten" angetriebenen Spektrum unkonventioneller Beteiligungsformen entstand global aber auch eine heterogene Strömung von Akademiker*innen und anderen professionellen – häufig sogar staatlichen oder administrativen – Akteuren, die versuchten, die partizipative Revolution in konstruktive, stärker formalisierte Experimente zu überführen.
Bürgerräte im Feld demokratischer Innovationen
Die Idee eines demokratischen Experimentalismus ist nicht neu. In gewissem Sinn entstand bereits die athenische Demokratie aus einer Folge unterschiedlicher Experimente.
So verstanden ist das Feld demokratischer Innovationen sehr plural und divers, schon allein deshalb, weil sich einzelne Ansätze durch Adaption und Interpretation beständig verändern. Dennoch lassen sie sich grob in vier Kategorien einteilen: erstens direktdemokratische Ansätze, zweitens kommunale Mitbestimmungsformate, drittens zufallsbasierte "Mikro-Öffentlichkeiten" (mini-publics) und viertens digitale Beteiligungsinstrumente.
Am bekanntesten sind direktdemokratische Vorstellungen, nach denen politische Entscheidungen von den Bürger*innen direkt (das heißt: mit bindender Wirkung) getroffen werden sollen, zum Beispiel per Referendum über eine aus der politischen Arena vorgeschlagene Maßnahme oder gar in Form einer Abstimmung über eine Volksinitiative. Allerdings weisen solche direktdemokratischen Verfahren diverse Schwierigkeiten auf, wie etwa das Beispiel des Brexits zeigt: Sie werden häufig von politischen Eliten für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert und können aufgrund ihrer dichotomen "Ablehnung/Zustimmung"-Struktur die politische Polarisierung befördern. Außerdem müssen Bürger*innen in ihnen komplexe Entscheidungen treffen, deren umfassende und langfristige Folgen für sie schwer zu beurteilen sind. Entsprechend haben sie sich bis auf wenige Ausnahmen (beispielsweise in der Schweiz oder einzelnen Bundesstaaten der USA) nur mit Einschränkungen durchgesetzt (in Deutschland etwa nur auf Länderebene). Insgesamt gibt es Anzeichen dafür, dass direktdemokratische Ansätze eher an Bedeutung verlieren.
So hat die Partei Bündnis 90/Die Grünen vergangenes Jahr die Forderung nach direktdemokratischer Beteiligung nach 40 Jahren aus ihrem Grundsatzprogramm gestrichen und sich stattdessen für Bürgerräte als Partizipationsform ausgesprochen. In den USA gibt es Bestrebungen, in den vergangenen Jahrzehnten eingeführte direktdemokratische Elemente auf Ebene der Bundesstaaten durch Bürgerräte zu ergänzen (siehe hierzu die Ausführungen weiter unten), um den polarisierenden Wirkungen von Referenden entgegenzuwirken. Ein Beispiel hierfür ist der "Oregon Citizens’ Initiative Review", bei dem Volksinitiativen im Bundesstaat Oregon einer Überprüfung durch ein Gremium zufällig ausgewählter Bürger*innen unterzogen werden, um zur Vorbereitung eines Referendums ausgewogene Entscheidungsgrundlagen für die Bevölkerung zu erstellen. Schon immer war die kommunale Ebene ein wesentlicher Ort partizipatorischer demokratischer Experimente. Bereits in ihrer Entstehung in der Antike war die Demokratie bekanntlich als Regierungsform kleiner Stadtstaaten angelegt. Und auch die Wiederkehr von Republikanismus und Demokratie in der Moderne nahm wesentlich von Stadtrepubliken wie Genf oder den town hall meetings im nordamerikanischen New England ihren Ausgang.
Befördert durch starke Bürgermeisterinnen und Bürgermeister ist in jüngerer Vergangenheit wieder ein Trend zur Kommunalisierung von Politik zu beobachten: Veränderungsprozesse bottom-up als Grundlage eines neuen demokratischen Selbstverständnisses. Weltwelt bilden sich lokale Allianzen, um unter Beteiligung von Bürger*innen ihre Zukunft vor Ort zu gestalten – gerade auch in Gemeinden mit schlechter Infrastruktur und fehlenden Arbeitsplätzen. Ein Modell, das sich in den letzten Jahrzehnten global weit verbreitet hat, ist das sogenannte participatory budgeting. Ursprünglich wurde es Ende der 1980er Jahre in Porto Alegre (Brasilien) entwickelt und institutionalisiert. Die Bestimmung über die Ausgaben von wesentlichen Teilen des kommunalen Haushalts wird dabei an offene Bürgerversammlungen übertragen, die in mehreren Runden über förderungswürdige Projekte befinden. Die grundlegende Idee hinter "Mikro-Öffentlichkeiten" (mini-publics) ist, politisch kontroverse Fragen und Probleme in (relativ) kleinen, losbasierten Bürgerräten beziehungsweise -versammlungen zu beraten. Es wird durch das Losverfahren eine nach bestimmten Kategorien (etwa Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen) für die Bevölkerung repräsentative Kleingruppe von 25 bis 500 Bürger*innen ermittelt. Diese verständigt sich dann unter für den kommunikativen Austausch möglichst vorteilhaften Bedingungen (insbesondere einer inklusiven und lösungsorientierten Moderation) stellvertretend für die Gesamtheit der Bürger*innen über ein politisches Problem. Weil sie auf Beratung und Verständigung – das heißt: gelingende Deliberation – zugeschnitten sind, sind Bürgerräte vor allem in der neueren deliberativen Demokratietheorie von zentraler Bedeutung.
Die Funktion solcher Bürgerräte ist maßgeblich konsultatorisch, das heißt, sie sollen die politischen Entscheidungsträger*innen beraten und damit das repräsentativ-demokratische System um partizipative und deliberative Elemente ergänzen, es aber keineswegs ersetzen. Dabei können Bürgerräte auf ganz unterschiedlichen Ebenen stattfinden: Im österreichischen Bundesland Vorarlberg etwa wurden Bürgerräte maßgeblich auf kommunaler und regionaler Ebene eingesetzt, während sie in Irland auf nationaler Ebene zur Beratung über Verfassungsfragen eingerichtet wurden. Im Bereich digitaler Beteiligungsinstrumente hat sich zunächst mit der Entstehung des Internets und den dadurch ermöglichten digitalen Öffentlichkeiten und sozialen Plattformen viel Hoffnung für eine Vitalisierung der demokratischen Öffentlichkeit verknüpft. Diese Hoffnung wurde angesichts der durch das Internet ausgelösten Krise des Journalismus, der Fragmentierung und Polarisierung von Diskursen auf sozialen Plattformen sowie der Verbreitung von Online-Mobbing und hate speech enttäuscht.
In diesem Zuge sind auch die Erwartungen an demokratische Innovationen der Online-Beteiligung wie "Liquid Democracy" (unter anderem im Zusammenhang mit dem temporären Erfolg der Piratenpartei in einzelnen europäischen Ländern) oder auch der Etablierung von elektronischen Beteiligungsplattformen wie "Consul" nüchterner geworden. Bemerkenswert ist, dass solche Instrumente bislang wenig bis gar nicht vom jüngsten Digitalisierungsschub während der Covid-19-Pandemie profitieren konnten, während etwa Bürgerräte und verwandte Beteiligungsformate durch die virtuelle Durchführung als Videokonferenz einen starken Schub erlebt haben. Gleichwohl ist durch die technologische Entwicklung mittelfristig mit stärkeren Veränderungen und Transformationen zu rechnen, in denen sich einzelne Innovationen womöglich zu integrierten Konzepten wie "Open Democracy" verbinden.
Werden diese unterschiedlichen Arten demokratischer Innovationen einen Beitrag dazu leisten können, den eingangs skizzierten Krisen- und Regressionsphänomenen zu begegnen? Demokratische Innovationen können politische Prozesse inklusiver machen, die Einflussmöglichkeiten der Bürger*innen auf deren Ergebnisse stärken und die Qualität beziehungsweise Transparenz politischer Entscheidungen verbessern.
Idee und Umsetzung
Die oben skizzierten deliberativen Grundprinzipien von Bürgerräten beziehungsweise Bürgerversammlungen finden sich in ganz verschiedenen Beteiligungsformaten wieder, die auf unterschiedliche Kontexte und Probleme ausgerichtet sind (siehe Abbildung). Sie unterscheiden sich nach der Zahl und dem Auswahlmodus der Teilnehmer*innen, Dauer und Institutionalisierung des Partizipationsprozesses, nach der zu verhandelnden Thematik sowie in der Frage, ob die Initiierung durch die Verwaltung, Vereine oder unorganisierte Bürger*innen erfolgt. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Grundannahme, dass komplizierte und strittige Agenden am besten in einem offenen und fairen Meinungsaustausch bearbeitet werden können, an dessen Ende ein möglichst von allen oder zumindest der Mehrheit getragener Konsens steht.
Welchen Beitrag können nun speziell Bürgerräte zur Überwindung von Krisen- und Regressionstendenzen der parlamentarischen Demokratie leisten? Zunächst institutionalisieren sie einen kooperativen Politikstil, der auf einen bei Hannah Arendt exemplarisch entfalteten Machtbegriff zurückgeht: "Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln."
Wichtig ist dabei vor allem der Dialog. Kooperation und Dialogfähigkeit setzen wiederum Empathie voraus. Verstanden als Achtsamkeit und Empfänglichkeit für andere Menschen, geht Empathie über eine rein kognitiv-argumentative Ebene hinaus, die in der politischen Theorie lange präferiert wurde. Die an der Harvard-Universität "demokratische Werte" lehrende Jane Mansbridge vertritt hingegen eine alltagsweltliche, pragmatische Perspektive, nach der der demokratische Weg zum Gemeinwohl über Kooperation und Empathie führt: "Empathie kann dazu führen, dass wir das Wohl eines Anderen zu unserem eigenen machen. Individuelle Interessen überlappen nicht nur; getrennte Individuen verschmelzen gewissermaßen zu einem."
In diesem Sinne schaffen Bürgerräte im Betrieb parlamentarischer Demokratien, der wesentlich durch gegensätzliche, kurzfristig orientierte Interessen und fragmentierte Zuständigkeiten geprägt ist, Inseln gemeinwohlorientierter Kooperation und Empathie. In diesem geschützten Raum lassen sich konstruktive und langfristig orientierte Lösungen für gravierende politische Probleme erarbeiten, die schließlich von politischen Entscheidungsträger*innen aufgegriffen werden können. Dementsprechend informieren sie Politik und Verwaltung über reflektierte Einstellungen und Werte der Bürger*innen, die durch übliche Meinungsabfragen nicht zu ermitteln sind. Damit tragen Bürgerräte zur Steigerung der Legitimation politischer Entscheidungen bei und können komplexe politische oder soziale Probleme so aufbereiten, dass sie der Willensbildung in Parteien und der allgemeinen politischen Öffentlichkeit Orientierung geben. Nicht zuletzt sind Bürgerräte somit Orte des gegenseitigen Lernens, an denen Normen und Standards für die politische Auseinandersetzung ausgebildet werden.
Dass Politik und Verwaltung von diesen Vorteilen, die Bürgerräte zu bieten haben, zunehmend Gebrauch machen, zeigt sich an der Zahl praktisch durchgeführter Bürgerräte, die in den vergangenen zehn Jahren sprunghaft gewachsen ist.
Kein Zufall ist dabei insbesondere die seit 2019 zu beobachtende Ausbreitung von Bürgerräten, die sich mit dem Problem der Klimapolitik beschäftigen.
Das französische Beispiel kann dabei die Potenziale des Einsatzes von Bürgerräten für die Bearbeitung von konfliktträchtigen Zukunftsthemen wie auch die Gefahren, die aus einer überhasteten und unverbindlichen Verwendung dieses Instruments erwachsen, illustrieren.
Richtungsentscheidungen
Die benannten Probleme drohen auch in anderen Fällen. Dass die Frage, wie die Entscheidungsträger*innen im politischen System mit den Beratungsergebnissen von Bürgerräten umgehen sollen, nicht hinreichend verbindlich geregelt ist, birgt das eminente Risiko, Bürgerräte zum demokratischen "Feigenblatt" verkommen zu lassen, das die Krise der parlamentarischen Demokratie nur kurzfristig überdeckt. Bestärkt wird dies dadurch, dass die Durchführung eines Bürgerrates häufig als Einzelmaßnahme begriffen und nicht in einen breiteren Rahmen der demokratischen Erneuerung eingebettet wird – und so gewissermaßen als Flicken fungiert, der notdürftig die Löcher eines Systems schließen soll, das eigentlich an allen Nähten auseinandertreibt. Deshalb möchten wir abschließend an dieser Stelle an die bereits vor mehreren Jahren ausgearbeitete Idee der zu einer "Konsultative" verknüpften "Zukunftsräte" erinnern.