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Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus | Sinti und Roma | bpb.de

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Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus

Markus End

/ 15 Minuten zu lesen

Antiziganismus ist ein weit verbreitetes und tief verwurzeltes Ressentiment. Es werden verschiedene Ebenen dieser Vorurteilsstruktur, die Stereotype, die Sinnstruktur und die sozialen Hintergründe dargestellt und analysiert.

Einleitung

Antiziganismus muss gegenwärtig als Spezialbegriff gelten, der nur von einer kleinen Gruppe wissenschaftlich und politisch Interessierter verwendet wird. Für die breite Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung kann davon ausgegangen werden, dass ihr der Begriff noch gänzlich unbekannt ist.

Damit einher geht ein weitgehendes Desinteresse an dem Phänomen, das mit dem Begriff bezeichnet wird: Die Stigmatisierung, Diskriminierung und Verfolgung von Menschen als "Zigeuner" ist kein Thema, das für Schlagzeilen sorgt; eine Beschäftigung in den Bereichen Bildung, Politik und Wissenschaft muss immer noch als randständig gelten. Dabei ist der Hass auf Menschen, die als "Zigeuner" stigmatisiert werden, sehr weit verbreitet und tief ins kulturelle Gedächtnis der europäischen Gesellschaften eingeschrieben.

Begriff und Forschungsansatz

Der Begriff des "Antiziganismus" ist in der wissenschaftlichen Forschung umstritten; außerhalb Deutschlands findet er wenig Verwendung. Er entstand Anfang der 1980er Jahre, und seine Verbreitung hat seitdem in Wissenschaft und politischen Debatten langsam, aber stetig zugenommen. Bis heute ist allerdings die Diskussion um den Begriff nicht abgeschlossen, seine wissenschaftliche Verteidigung steht noch aus. Ich halte die Verwendung des Begriffs "Antiziganismus" für sinnvoll, weil dadurch zentrale Elemente meines Forschungsansatzes zusammengefasst werden. Unter Antiziganismus verstehe ich sowohl die Bilder und Vorurteile, die sich Menschen von vermeintlichen "Zigeunern" machen, als auch die Stigmatisierung von Menschen zu "Zigeunern" und die daraufhin folgende Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung.

Das Wort "Zigeuner" stellt eine diskriminierende Fremdbezeichnung dar, die von den meisten Angehörigen der betroffenen Gruppen als verletzend und beleidigend empfunden wird. Die Mehrzahl der Menschen, die damit gemeint ist, zählt sich selbst zur Gruppe der Roma oder der Sinti. Jedoch werden auch andere Gruppen, wie die Irish Travellers, die niederländischen woonwagenbewoners oder die Jenischen, die vorwiegend in Süddeutschland und der Schweiz leben, als "Zigeuner" stigmatisiert. Antiziganistinnen und Antiziganisten sind solche Unterschiede zumeist egal. Sie halten alle diese Gruppen pauschal für "Zigeuner", denn für sie sind alle "Zigeuner" gleich und unveränderlich. Für die Vorurteilsforschung ist es wichtig, diesen Wechsel der Blickrichtung, den Antiziganistinnen und Antiziganisten begehen, nachzuvollziehen: Der Antiziganismus speist sich aus kulturell vermittelten Bildern, Stereotypen und Sinngehalten, aus "Wissen" also, das Jahrhunderte alt ist und in immer neuen Variationen tradiert wird. Mit den realen Menschen, die von Antiziganismus betroffen sind, hat diese Vorurteilsstruktur kaum etwas gemein. Sie führt gewissermaßen ein Eigenleben. Weil aber die Stereotype und Sinngehalte des Antiziganismus nur sehr indirekt etwas mit Roma und Sinti zu tun haben, vielmehr aber mit der Vorstellungswelt der Mehrheitsbevölkerung, ist es notwendig, von Antiziganismus zu sprechen, nicht von "Rassismus gegen Sinti und Roma".

Es ist für die Vorurteilsforschung hilfreich, verschiedene Ebenen auseinanderzuhalten.

  1. Der Grund, weshalb Vorurteile so gefährlich sind, liegt darin, dass sie häufig in soziale Interaktionen und Praktiken münden, die vor dem Hintergrund eines Vorurteils ausgeübt werden und für die Betroffenen massive Einschränkungen ihrer Lebenschancen und häufig schwerste Schäden an Hab und Gut, an Leib und Leben bedeuten. Dazu würden beispielsweise der antiziganistisch motivierte Brandanschlag auf das Haus einer Familie deutscher Sinti im sächsischen Klingenhain am 26. Dezember 2009 oder die regelmäßige Verweisung von Kindern deutscher Sinti an Förderschulen zählen. Insbesondere in Deutschland muss eine Beschäftigung mit Antiziganismus immer vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Genozids an Roma, Sinti und anderen als "Zigeuner" Stigmatisierten geschehen.



  2. Diese sozialen Praktiken sind eingebettet in historische und politische Rahmenbedingungen, die nicht identisch sind mit Antiziganismus, sondern dessen Manifestation fördern oder hemmen. Dazu können Konflikte zwischen der betroffenen Minderheit und der Mehrheitsbevölkerung zählen (dabei muss streng zwischen Anlass und Ursache unterschieden werden: Ein solcher Konflikt kann Anlass zu antiziganistischen Äußerungen oder Handlungen sein, niemals jedoch Ursache für Antiziganismus) oder der Vernichtungskrieg des "Dritten Reichs" gegen die Sowjetunion, der die politischen Rahmenbedingungen für die Vernichtungsaktionen der Einsatzgruppen in den besetzten Gebieten darstellte.



  3. Eine zentrale Motivation, diskriminierende oder ausgrenzende Handlungen zu vollziehen, kommt aus den Vorurteilen und Stereotypen, die in der Kultur der Mehrheitsbevölkerung weit verbreitet sind. Die meisten deutschen Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung wachsen mit solchen Vorurteilen über "Zigeuner" auf, ohne, dass sie jemals bewusst eine/n Angehörige/n der Minderheit der Roma und Sinti kennengelernt haben. Viele dieser Vorurteile sind negativer Art, beispielsweise das Gerücht, "Zigeuner" würden Kinder stehlen. Doch es gibt auch positiv anmutende Vorurteile, wie beispielsweise das romantische Bild vom "lustigen Zigeunerleben".



  4. Auf der Ebene der Sinnstruktur jedoch unterscheiden sich positive und negative Stereotype nicht. Die Sinnstruktur eines Vorurteils bezeichnet eine abstraktere Bedeutungsebene, die den Vorurteilen zu Grunde liegt. Sie bezeichnet das, was das Gemeinsame der vielen einzelnen antiziganistischen Äußerungen in Wort, Schrift, Bild und Film ausmacht, wenn vom jeweiligen historischen Kontext abstrahiert wird. Es ist diese Sinnstruktur, die es uns ermöglicht, Äußerungen, die aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen stammen, relativ kontextunabhängig als antiziganistisch zu bezeichnen. Dadurch wird es auch möglich, dem Begriff eine Bedeutung zu geben, die über die der "Feindschaft gegenüber 'Zigeunern'" hinausgeht. Ob es in antiziganistischen Darstellungen also heißt, "Zigeuner" seien faul und arbeitsscheu, oder ob es in vermeintlich wohlmeinenden Beschreibungen heißt, "Zigeuner" lebten fröhlich in den Tag hinein, ohne sich Sorgen um ihr Auskommen zu machen, ergibt auf der Ebene der Sinnstruktur keinen Unterschied. In beiden Fällen ist der Sinn der Aussage, zu verdeutlichen, dass "Zigeuner" nicht, wie es nach den gängigen sozialen Normen gewünscht wäre, fleißig und diszipliniert arbeiteten.



  5. Die tiefer liegende Ursache des Antiziganismus kann also in sozialen Normen und Strukturen der Mehrheitsgesellschaft gesehen werden. Als "Zigeuner" Stigmatisierten wird von der Mehrheitsgesellschaft unterstellt, sie würden gegen die vorherrschenden Normen und Moralvorstellungen verstoßen.

Eine umfassende Darstellung des Antiziganismus müsste alle diese Ebenen berücksichtigen und würde unzählige Bände füllen. Ich möchte im Folgenden die ersten beiden Ebenen eher ausklammern und mich auf die Darstellung der Vorurteile, der Sinnstruktur und der dafür mitverantwortlichen sozialen Normen beschränken, um somit diejenigen Aspekte des Antiziganismus zu beschreiben, die über lange Zeiträume hinweg große Konstanten aufweisen.

Bilder und Stereotype

Der erste wichtige Beschluss zur Verfolgung von Menschen als "Zigeuner" erging 1498. Der Freiburger Reichstag beschloss damals, die "Zeigeiner" des Reiches zu verweisen und Angriffe auf sie straffrei zu stellen, weil sie angeblich für das Osmanische Reich spioniert hätten. In den nächsten Jahrzehnten folgten ähnliche Beschlüsse in anderen Regionen und Königreichen. Fünfzig Jahre später, in Sebastian Münsters "Cosmographei" von 1550, findet sich ein ganzer Abschnitt "Von den Züginern oder Heiden", in dem bereits ein Großteil der zentralen Stereotype und Vorurteile versammelt ist: "(D)ie Züginer/ein ongeschaffen/schwartz/wüst und onfletig volck/das sunderlich gern stilt/doch allermeist die weiber/die also iren mannen zu tragen. (...) Sie geben auch für daß inen zu buß auffgelegt sey also umbhär zuziehe in bilgerweiß/und das sie zum ersten auß klein Egypten kommen seien. Aber es sein fabeln. Man hatt es wol erfaren/das diß elend volck erboren ist in seinem umbschweiffenden ziehen/es hat kein vaterland/zeücht also müssig im lande umbhär/erneret sich mit stelen/lebt wie die hund/ist kein religion bey ine/ob sie schon ire kinder under den Christen lassen tauffen/leben on sorg/ziehen von eim land in das ander (...). Sie nemen auch an man und weib in allen länderen/die sich zu inen begeren zuschlagen. Es ist ein seltsam und wüst volck/kan vil sprachen und ist dem bauwers volck gar beschwerlich. Dan so die armen dorffleüt im feld sein/durch suchen sie ire heüser und nemen was inen gefalt. Ire alte weiber beghan sie mit warsagen/und die weil sie den fragende antwurt geben/wie vil kinder/männer oder weiber sie werden haben/greiffen sie mit wunderbarlicher behendikeit inen zum seckel oder zu der deschen und leeren sie (...)."

Es ist erstaunlich, wie bereits dieser Gelehrte des 16. Jahrhunderts bis ins Detail zahlreiche Bilder und Stereotype aufzählt, die bis in die Gegenwart Bestand haben. Mit anderen Worten: Bereits vor 450 Jahren fand eine antiziganistisch motivierte Verfolgung von Menschen als "Zigeuner" statt, die sich aus sehr ähnlichen oder den gleichen Vorurteilen speiste, die bis in die heutige Zeit weit verbreitet sind. Der Vorurteilskomplex des Antiziganismus umfasst also einen relativ festgefügten Korpus an Stereotypen.

Es finden sich selbstverständlich auch zentrale Unterschiede zwischen der eher vormodernen Darstellung Münsters und dem heute verbreiteten "Zigeuner"-Bild. Bei Münster spielten religiös motivierte Vorurteile noch eine große Rolle: dass "Zigeuner" keine Religion hätten, jedoch ihre Kinder taufen ließen, und dass sie auf einer Pilgerfahrt seien. Auch andere religiös motivierte Stereotype, die sich nicht bei Münster finden, waren weit verbreitet: beispielsweise, dass "Zigeuner" die Nägel für die Kreuzigung Jesu geschmiedet hätten oder vom biblischen Brudermörder Kain abstammten. Solche Darstellungen finden sich heute nur noch selten.

Sinnstruktur

Ich werde meine Thesen zur Sinnstruktur des Antiziganismus an dem bisher wenig beachteten Text "Die Zigeunerfrage" des NS-Politikers Tobias Portschy erläutern und dabei die zentralen Vorurteile und Stereotype des modernen Antiziganismus benennen.

Zunächst gelten für den Antiziganismus Sinngehalte, die auch für andere Vorurteilskomplexe grundlegend sind: Ein zentrales Merkmal antiziganistischer Texte ist, dass "Zigeuner" immer in Abgrenzung und meist sogar als direkter Gegensatz zur Wir-Gruppe, der der/die Autor/in sich zugehörig fühlt, beschrieben werden: "Gutes und Böses (...), Deutschtum und Zigeunertum sind einmal miteinander nicht zu versöhnen, sondern dauernd in Widerstreit", schreibt Portschy. Dabei werden sowohl "Deutschtum" als auch "Zigeunertum" als abstrakte Wesenheiten angenommen, die unabhängig von den Individuen und doch in ihnen existieren und durch Abstammung weitergegeben werden.

Eine Besonderheit des Antiziganismus scheint dabei zu sein, dass sich die abstrakte Wesenheit der Wir-Gruppe durch den Einschluss von "Zigeunern" verändern oder auflösen würde, während das für das "Zigeunertum" nicht zu gelten scheint: "Oft werden verbrecherische und verkommene Personen aus der deutschen Dorfgemeinschaft noch heute geradezu ausgestoßen. (...) Wenn diese infolge der hartnäckigsten Ablehnung durch das Bauerntum Anschluss bei den Zigeunern heute noch sucht [sic!] und bisher auch fand [sic!], dann vereinen sich eben Verbrecher mit Verbrecher [sic!] und die Rassenschande feiert Triumpfe [sic!]. So und nur so sind die vielen Blondköpfe in der Zigeunerkolonie zu erklären." Diese "Blondköpfe" zählt Portschy aber zu den "Zigeunern", weil sich "Verbrecher und Verbrecher" vereinten und sie sich somit in die "Zigeunerkolonie" einfügen könnten. Diese Offenheit des "Zigeunertums" deutete sich bereits im Text von Münster an, wenn er schreibt "Sie nemen auch an man und weib in allen länderen/die sich zu inen begeren zuschlagen."

Eine weitere Parallele zwischen Münster und Portschy stellt der angenommene Gegensatz zwischen "Zigeuner" und "Bauer" dar: "ist dem bauwers volck gar beschwerlich" schreibt Münster, bei Portschy heißt es "Wer die Zigeuner kennt, weiß, daß sie ein Nomaden- und kein Bauernvolk sind." Dieser Gegensatz findet sich immer wieder bis in die Gegenwart und kann gewissermaßen als Konzentrat mehrerer Sinngehalte gelten. Er enthält die These von der Ortlosigkeit der "Zigeuner", die sich sowohl in Portschys "Nomadenvolk" als auch in Münsters "es hat kein vaterland" ausdrückt. Noch allgemeiner bedeutet dies, dass "Zigeunern" abgesprochen wird, eine Identität zu besitzen, wie das andere Menschen haben sollten, die sich über ihr Vaterland oder ihre Religion definieren: "ist kein religion bey ine" schreibt Münster, und Portschy schließt sich an: "Von einer echten Religiosität findet sich bei ihnen keine Spur." "Zigeunern" werden also zwei der großen identitätsstiftenden Kategorien der europäischen Gesellschaften - Religion und Nationalität - abgesprochen.

Der Gegensatz zum "Bauern" enthält noch einen zweiten zentralen Sinngehalt des Antiziganismus, den des archaischen Parasiten: "Der Zigeuner ist ein reiner Schmarotzer; er sehnt sich nicht nach dem Besitz von Grund und Boden, um ihn dauernd durch seine Arbeit zu kultivieren, wie überhaupt sich durch seiner Hände Arbeit sein Brot zu verdienen (...). Er wandert bettelnd und spielend von Dorf zu Dorf, stiehlt dabei für das [sic!] ihn Nötige auf den Feldern." Das heißt, in der antiziganistischen Vorstellung lebt "der Zigeuner" von dem, was andere Menschen sich erarbeiten und was er sich aneignet, weil er Arbeit und Eigentumsverhältnisse nicht anerkennt. Alle Stereotype von "Diebstahl", "Betteln" und "Betrügen", wie sie sich auch schon bei Münster finden, drücken diesen Sinngehalt aus.

Ein häufig damit einhergehender Sinngehalt ist jener des fehlenden Planens und der fehlenden Selbstdisziplin. Dem Ackerbau als Symbol einer Tätigkeit, für die das ganze Jahr diszipliniert gearbeitet und geplant werden muss, wird die Sorg- und Disziplinlosigkeit, mit der "Zigeuner" vermeintlich ihren Trieben und Lüsten freien Lauf lassen, gegenübergestellt. Schon Münster schrieb, sie "leben on sorg", und auch bei Portschy findet sich dieser Sinngehalt in verschiedenen Variationen wieder. "Zigeunern" werden "Maßlosigkeit beim Genusse von Alkoholien und narkotische(n) Verkommenheit" unterstellt und "Raufereien" und eine "ständige Lust zum Bruderkriege" nachgesagt, die durch "Alkoholgenuss" genährt werde.

Eng damit verwoben und teils identisch verwendet ist der Sinngehalt der sexuellen und geschlechtlichen Amoralität, der sich in vielen Formen zeigt. Auch hier besteht der Vorwurf darin, die eigene Sexualität nicht unter Kontrolle zu haben und zentrale Wertmaßstäbe vermissen zu lassen. So sind für "Zigeuner" laut Portschy "wilde Ehen", "Inzuchtehen", "geschlechtliche Frühreife" und "Prostitution" bezeichnend. Überdies werden insbesondere "Zigeunerinnen" stellvertretend für den ganzen Vorstellungskomplex von Freiheit und Lust als besonders erotisch und verführerisch beschrieben. Diese Darstellung steht immer im Kontext einer Versuchung der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, sich verführerischen Personen und damit ihrem Lebensstil hinzugeben. Bei Portschy findet sich hierzu nur eine Andeutung, wenn er explizit die Kleidung der "jungen Lagerschönen" erwähnt, die sich nicht wie üblich "notdürftig in Lumpen" kleide. Deutlicher ausgearbeitet findet sich dieser Sinngehalt im Stoff der "Carmen"-Novelle, der vielfach adaptiert und neu aufgelegt wurde. Darin geht es um die "Zigeunerin" Carmen, die den "Nicht-Zigeuner" Don José verführt, woraufhin sein bürgerliches Leben zerstört wird.

Diese vermeintliche Bedrohung der "männlichen" Position geht so weit, dass antiziganistische Texte häufig einen Wechsel der Geschlechterrollen konstatieren. So wird "der Zigeunerin" die Rolle der Ernährerin zugeschrieben. Schon Münster schreibt, "Züginer" seien ein "volck/das sunderlich gern stilt/doch allermeist die weiber/die also iren mannen zu tragen". Auch bei Portschy finden sich Belege für diese Regel: "Die Weiber rücken dann zu zweien oder dreien gruppiert mit ihren Milchkannen, Taschen und Körben in der Hand in das Dorf und ziehen bettelnd von Haus zu Haus. (...) Beladen mit ihrer Beute kehren sie zu den Ihren zurück." Auch andere bis ins 20. Jahrhundert hinein streng "männlich" konnotierte Tätigkeiten wie das Tragen von Hosen, der Konsum von Tabak und Alkohol oder gar die Führung der "Sippe" wurden "Zigeunerinnen" unterstellt.

Diese Bedrohung männlicher Hegemonie geht damit einher, dass "Arbeit" als zentrale "männliche" Tätigkeit "Zigeunern" pauschal abgesprochen wird. Als eine hier anschließende Meta-Regel kann gelten, dass alle aufgezählten Sinngehalte in antiziganistischen Äußerungen und Texten primär Frauen oder Kindern zugeschrieben werden, dass diese also als Essenz des "Zigeunerischen" fungieren.

Soziale Hintergründe

Wie bereits dargelegt kann der Beginn des Antiziganismus in Westeuropa im 15./16. Jahrhundert verortet werden, in einer Zeit also, in der "die Grundlagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft gelegt wurden". Veränderte Normen, die zu Beginn der Entwicklung noch schwach und instabil waren, konnten dadurch gestärkt und durchgesetzt werden, dass vermeintlich Fremden vorgeworfen wurde, sie zu verletzen. Hier läuft ein komplizierter Prozess ab, der von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihren Analysen des Antisemitismus als "pathische Projektion" bezeichnet wurde, als "Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt". Die These besagt, dass Individuen von den gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen abweichende und somit verbotene Regungen oder Wünsche auf andere Menschen oder Gruppen projizieren, also auf sie übertragen.

Auch Franz Maciejewski, ehemaliger Mitarbeiter des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma, verwendet dieses Konzept, um Antiziganismus zu erklären: "Demgegenüber gilt der Haß, der Sinti und Roma trifft, denjenigen, die (immer auf der Ebene der Phantasie) den Prozeß der Zivilisation angeblich unterlaufen. Die Zigeuner verkörpern gegen das herrschende Realitätsprinzip das Lustprinzip, gegen die repressive Kultur insgesamt die Natur, gegen die Zwänge des Patriarchats das Matriarchat, gegen den industriellen Komplex das einfache Leben". "Zigeuner" gelten den modernen Erscheinungsformen des Antiziganismus also immer als archaisches Gegenbild zur Norm der Mehrheitsgesellschaft. Die Durchsetzung der modernen Gesellschaft wird dabei von Maciejewski als ein Prozess interpretiert, "der ökonomisch den Übergang von der Agrar- zur Kapitalwirtschaft, also eine sich im Geiste des Kapitalismus formierende Arbeits- und Disziplinargesellschaft umfaßt; der politisch in Richtung Territorialstaat- und Nationenbildung geht und die Etablierung einer neuen, institutionell abgesicherten Form von Herrschaft bedeutet; der sozialpsychologisch das Aufbrechen des alten Verhaltenscodes Geschlechterbeziehung im Sinne einer Stärkung patriarchaler Strukturen markiert; der schließlich kulturell die Dominanz eines wissenschaftlichen Weltbildes und die Umstellung auf ein rationales Lebensethos erzwingt".

Damit deutet Maciejewski die tief greifenden Veränderungen sozialer Normen und Wertvorstellungen an: Fleiß und Arbeitsdisziplin gelten als neue Normen im ökonomischen Bereich, feste nationale Identitäten werden zu zentralen Merkmalen der aufstrebenden bürgerlichen Schichten, die Vorherrschaft des Mannes in den Geschlechterbeziehungen verstärkt sich, das Leben muss rational und effizient geplant werden.

Obwohl Adorno und Horkheimer keine explizite Kritik des Antiziganismus formuliert haben, bringen auch sie diesen Vorgang mit der "sozialen Ächtung" von "Zigeunern" in Verbindung: "Die Strenge, mit welcher im Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den beherrschten Massen den Rückfall in mimetische Daseinsweisen abschnitten, angefangen vom religiösen Bildverbot über die soziale Ächtung von Schauspielern und Zigeunern bis zur Pädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu sein, ist die Bedingung der Zivilisation." Diese sozialen Normen der Mehrheitsgesellschaft geben also den Hintergrund ab, vor dem Antiziganismus analysiert und kritisiert werden muss.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

  2. Vgl. Michael Zimmermann, Antiziganismus - ein Pendant zum Antisemitismus? Überlegungen zu einem bundesdeutschen Neologismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 55 (2007) 4, S. 304-314, sowie Berthold P. Bartel, Vom Antitsiganismus zum antiziganism. Zur Genese eines unbestimmten Begriffs, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 60 (2008) 3.

  3. Vgl. Wolfgang Wippermann, "Wie die Zigeuner". Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997, S. 17, Fn. 22.

  4. "Vorurteil" wird hier nicht als ein zu schnelles Urteil verstanden oder als eines, das sich an einer einzelnen Erfahrung gebildet hat und dann ungerechtfertigter Weise auf eine Gruppe übertragen wurde. Vielmehr wird der Begriff in der Tradition der 1949 erschienenen "Studies in Prejudice" als Teil einer Wahrnehmungsstruktur verwendet, die nicht viel oder gar nichts mit den Beurteilten zu tun hat, aber sehr viel mit den Vorurteilenden. Vgl. Max Horkheimer/Samuel H. Flowerman (eds.), Studies in Prejudice, New York 1949f.

  5. Diese zentrale Einsicht wurde bezüglich Antisemitismus Mitte der 1940er Jahre ungefähr zeitgleich von den Autoren der Kritischen Theorie (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1989, S. 180) und vom französischen Philosophen Jean-Paul Sartre formuliert: "(E)xistierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden." Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Politische Schriften Bd. 2, Reinbek 1994, S. 9-91, hier: S. 12.

  6. Vgl. beispielsweise Michael Schenk, Rassismus gegen Sinti und Roma: zur Kontinuität der Zigeunerverfolgung innerhalb der deutschen Gesellschaft von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart, Frankfurt/M. u.a. 1994, oder den Untertitel von Änneke Winckel, Antiziganismus: Rassismus gegen Roma und Sinti im vereinigten Deutschland, Münster 2002.

  7. Vgl. Markus End, Brandanschlag mit antiziganistischem Hintergrund in Sachsen - und der Umgang damit, online: www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/meldungen/brandanschlag-sachsen (26.4.2011).

  8. Vgl. Brigitte Mihok/Peter Widmann, Sinti und Roma als Feindbilder, in: Vorurteile. Informationen zur politischen Bildung, (2005) 271, S. 56-61, hier: S. 60.

  9. Vgl. dazu den Beitrag von Frank Sparing in diesem Heft.

  10. Sebastian Münster, Cosmographei, Basel 1550, S. 300f. Zitiert nach dem Digitalisat der Universität Köln, online: www.digitalis.uni-koeln.de/Muenster/muenster_index.html (25.4.2011).

  11. Tobias Portschy, Die Zigeunerfrage, Eisenstadt 1938. Portschy war nationalsozialistischer Landeshauptmann des Burgenlandes in Österreich und nach dem "Anschluss" stellvertretender Gauleiter der Steiermark. In dieser Position war er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch an der sehr frühen Deportation von 5007 Burgenlandroma in das Ghetto in Lod im November 1941 beteiligt. Von dieser Gruppe hat niemand überlebt.

  12. Die Analyse der Sinnstrukturelemente des Antiziganismus ist Ziel meines Dissertationsprojekts. Da diese Arbeit bisher nicht abgeschlossen ist, müssen die hier dargestellten Hypothesen als Werkstattbericht verstanden werden.

  13. T. Portschy (Anm. 11), S. 37.

  14. Ebd., S. 31.

  15. S. Münster (Anm. 10), S. 300.

  16. Ebd. S. 300f.

  17. T. Portschy (Anm. 11), S. 31f.; Hervorhebung im Original.

  18. S. Münster (Anm. 10), S. 300.

  19. Ebd.

  20. T. Portschy (Anm. 11), S. 13.

  21. Ebd., S. 14.

  22. S. Münster (Anm. 10), S. 300.

  23. T. Portschy (Anm. 11), S. 23.

  24. Zitate ebd., S. 19.

  25. Zitate ebd., S. 18f.

  26. Zitate ebd., S. 14.

  27. Prosper Mérimée, Carmen, Köln 2006.

  28. S. Münster (Anm. 10), S. 300. Diesen Satz hat Wolfgang Wippermann als Titel für einen Aufsatz verwendet: "Doch allermeist die Weiber". Antiziganismus in geschlechtergeschichtlicher Sicht, in: Helgard Kramer (Hrsg.), Die Gegenwart der NS-Vergangenheit, Berlin 2000, S. 278-294.

  29. T. Portschy (Anm. 11), S. 15f.

  30. Vgl. dazu Rafaela Eulberg, Doing Gender and Doing Gypsy. Zum Verhältnis der Konstruktion von Geschlecht und Ethnie, in: Markus End/Kathrin Herold/Yvonne Robel (Hrsg.), Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Münster 2009, S. 41-66.

  31. Franz Maciejewski, Elemente des Antiziganismus, in: Jacqueline Giere (Hrsg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des "Zigeuners". Zur Genese eines Vorurteils, Frankfurt/M. 1996, S. 9-28, hier: S. 12.

  32. T. Adorno/M. Horkheimer (Anm. 5), S. 201.

  33. Franz Maciejewski, Das geschichtlich Unheimliche am Beispiel der Sinti und Roma, in: Psyche, 48 (1994) 1, S. 30-49, hier: S. 47.

  34. F. Maciejewski (Anm. 31), S. 12.

  35. T. Adorno/M. Horkheimer (Anm. 5), S. 189f. Zu den gesellschaftstheoretischen Grundlagen für eine Kritik des Antiziganismus in den Schriften Adornos siehe Markus End, Adorno und "die Zigeuner", in: ders. et al. (Anm. 32), S. 95-108.

Dipl.-Pol., geb. 1979; Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, TEL 9-1, Ernst-Reuter-Platz 7,10587 Berlin. E-Mail Link: markus.end@zfa.kgw.tu-berlin.de