Einleitung
Antiziganismus muss gegenwärtig als Spezialbegriff gelten, der nur von einer kleinen Gruppe wissenschaftlich und politisch Interessierter verwendet wird. Für die breite Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung kann davon ausgegangen werden, dass ihr der Begriff noch gänzlich unbekannt ist.
Damit einher geht ein weitgehendes Desinteresse an dem Phänomen, das mit dem Begriff bezeichnet wird: Die Stigmatisierung, Diskriminierung und Verfolgung von Menschen als "Zigeuner" ist kein Thema, das für Schlagzeilen sorgt; eine Beschäftigung in den Bereichen Bildung, Politik und Wissenschaft muss immer noch als randständig gelten. Dabei ist der Hass auf Menschen, die als "Zigeuner" stigmatisiert werden, sehr weit verbreitet und tief ins kulturelle Gedächtnis
Begriff und Forschungsansatz
Der Begriff des "Antiziganismus" ist in der wissenschaftlichen Forschung umstritten;
Das Wort "Zigeuner" stellt eine diskriminierende Fremdbezeichnung dar, die von den meisten Angehörigen der betroffenen Gruppen als verletzend und beleidigend empfunden wird. Die Mehrzahl der Menschen, die damit gemeint ist, zählt sich selbst zur Gruppe der Roma oder der Sinti. Jedoch werden auch andere Gruppen, wie die Irish Travellers, die niederländischen woonwagenbewoners oder die Jenischen, die vorwiegend in Süddeutschland und der Schweiz leben, als "Zigeuner" stigmatisiert. Antiziganistinnen und Antiziganisten sind solche Unterschiede zumeist egal. Sie halten alle diese Gruppen pauschal für "Zigeuner"
Es ist für die Vorurteilsforschung hilfreich, verschiedene Ebenen auseinanderzuhalten.
Der Grund, weshalb Vorurteile so gefährlich sind, liegt darin, dass sie häufig in soziale Interaktionen und Praktiken münden, die vor dem Hintergrund eines Vorurteils ausgeübt werden und für die Betroffenen massive Einschränkungen ihrer Lebenschancen und häufig schwerste Schäden an Hab und Gut, an Leib und Leben bedeuten. Dazu würden beispielsweise der antiziganistisch motivierte Brandanschlag auf das Haus einer Familie deutscher Sinti im sächsischen Klingenhain am 26. Dezember 2009
oder die regelmäßige Verweisung von Kindern deutscher Sinti an Förderschulen zählen. Insbesondere in Deutschland muss eine Beschäftigung mit Antiziganismus immer vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Genozids an Roma, Sinti und anderen als "Zigeuner" Stigmatisierten geschehen. Diese sozialen Praktiken sind eingebettet in historische und politische Rahmenbedingungen, die nicht identisch sind mit Antiziganismus, sondern dessen Manifestation fördern oder hemmen. Dazu können Konflikte zwischen der betroffenen Minderheit und der Mehrheitsbevölkerung zählen (dabei muss streng zwischen Anlass und Ursache unterschieden werden: Ein solcher Konflikt kann Anlass zu antiziganistischen Äußerungen oder Handlungen sein, niemals jedoch Ursache für Antiziganismus) oder der Vernichtungskrieg des "Dritten Reichs" gegen die Sowjetunion, der die politischen Rahmenbedingungen für die Vernichtungsaktionen der Einsatzgruppen in den besetzten Gebieten darstellte.
Eine zentrale Motivation, diskriminierende oder ausgrenzende Handlungen zu vollziehen, kommt aus den Vorurteilen und Stereotypen, die in der Kultur der Mehrheitsbevölkerung weit verbreitet sind. Die meisten deutschen Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung wachsen mit solchen Vorurteilen über "Zigeuner" auf, ohne, dass sie jemals bewusst eine/n Angehörige/n der Minderheit der Roma und Sinti kennengelernt haben. Viele dieser Vorurteile sind negativer Art, beispielsweise das Gerücht, "Zigeuner" würden Kinder stehlen. Doch es gibt auch positiv anmutende Vorurteile, wie beispielsweise das romantische Bild vom "lustigen Zigeunerleben".
Auf der Ebene der Sinnstruktur jedoch unterscheiden sich positive und negative Stereotype nicht. Die Sinnstruktur eines Vorurteils bezeichnet eine abstraktere Bedeutungsebene, die den Vorurteilen zu Grunde liegt. Sie bezeichnet das, was das Gemeinsame der vielen einzelnen antiziganistischen Äußerungen in Wort, Schrift, Bild und Film ausmacht, wenn vom jeweiligen historischen Kontext abstrahiert wird. Es ist diese Sinnstruktur, die es uns ermöglicht, Äußerungen, die aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen stammen, relativ kontextunabhängig als antiziganistisch zu bezeichnen. Dadurch wird es auch möglich, dem Begriff eine Bedeutung zu geben, die über die der "Feindschaft gegenüber 'Zigeunern'" hinausgeht. Ob es in antiziganistischen Darstellungen also heißt, "Zigeuner" seien faul und arbeitsscheu, oder ob es in vermeintlich wohlmeinenden Beschreibungen heißt, "Zigeuner" lebten fröhlich in den Tag hinein, ohne sich Sorgen um ihr Auskommen zu machen, ergibt auf der Ebene der Sinnstruktur keinen Unterschied. In beiden Fällen ist der Sinn der Aussage, zu verdeutlichen, dass "Zigeuner" nicht, wie es nach den gängigen sozialen Normen gewünscht wäre, fleißig und diszipliniert arbeiteten.
Die tiefer liegende Ursache des Antiziganismus kann also in sozialen Normen und Strukturen der Mehrheitsgesellschaft gesehen werden. Als "Zigeuner" Stigmatisierten wird von der Mehrheitsgesellschaft unterstellt, sie würden gegen die vorherrschenden Normen und Moralvorstellungen verstoßen.
Eine umfassende Darstellung des Antiziganismus müsste alle diese Ebenen berücksichtigen und würde unzählige Bände füllen. Ich möchte im Folgenden die ersten beiden Ebenen eher ausklammern und mich auf die Darstellung der Vorurteile, der Sinnstruktur und der dafür mitverantwortlichen sozialen Normen beschränken, um somit diejenigen Aspekte des Antiziganismus zu beschreiben, die über lange Zeiträume hinweg große Konstanten aufweisen.
Bilder und Stereotype
Der erste wichtige Beschluss zur Verfolgung von Menschen als "Zigeuner" erging 1498. Der Freiburger Reichstag beschloss damals, die "Zeigeiner" des Reiches zu verweisen und Angriffe auf sie straffrei zu stellen, weil sie angeblich für das Osmanische Reich spioniert hätten. In den nächsten Jahrzehnten folgten ähnliche Beschlüsse in anderen Regionen und Königreichen. Fünfzig Jahre später, in Sebastian Münsters "Cosmographei" von 1550, findet sich ein ganzer Abschnitt "Von den Züginern oder Heiden", in dem bereits ein Großteil der zentralen Stereotype und Vorurteile versammelt ist: "(D)ie Züginer/ein ongeschaffen/schwartz/wüst und onfletig volck/das sunderlich gern stilt/doch allermeist die weiber/die also iren mannen zu tragen. (...) Sie geben auch für daß inen zu buß auffgelegt sey also umbhär zuziehe in bilgerweiß/und das sie zum ersten auß klein Egypten kommen seien. Aber es sein fabeln. Man hatt es wol erfaren/das diß elend volck erboren ist in seinem umbschweiffenden ziehen/es hat kein vaterland/zeücht also müssig im lande umbhär/erneret sich mit stelen/lebt wie die hund/ist kein religion bey ine/ob sie schon ire kinder under den Christen lassen tauffen/leben on sorg/ziehen von eim land in das ander (...). Sie nemen auch an man und weib in allen länderen/die sich zu inen begeren zuschlagen. Es ist ein seltsam und wüst volck/kan vil sprachen und ist dem bauwers volck gar beschwerlich. Dan so die armen dorffleüt im feld sein/durch suchen sie ire heüser und nemen was inen gefalt. Ire alte weiber beghan sie mit warsagen/und die weil sie den fragende antwurt geben/wie vil kinder/männer oder weiber sie werden haben/greiffen sie mit wunderbarlicher behendikeit inen zum seckel oder zu der deschen und leeren sie (...)."
Es ist erstaunlich, wie bereits dieser Gelehrte des 16. Jahrhunderts bis ins Detail zahlreiche Bilder und Stereotype aufzählt, die bis in die Gegenwart Bestand haben. Mit anderen Worten: Bereits vor 450 Jahren fand eine antiziganistisch motivierte Verfolgung von Menschen als "Zigeuner" statt, die sich aus sehr ähnlichen oder den gleichen Vorurteilen speiste, die bis in die heutige Zeit weit verbreitet sind. Der Vorurteilskomplex des Antiziganismus umfasst also einen relativ festgefügten Korpus an Stereotypen.
Es finden sich selbstverständlich auch zentrale Unterschiede zwischen der eher vormodernen Darstellung Münsters und dem heute verbreiteten "Zigeuner"-Bild. Bei Münster spielten religiös motivierte Vorurteile noch eine große Rolle: dass "Zigeuner" keine Religion hätten, jedoch ihre Kinder taufen ließen, und dass sie auf einer Pilgerfahrt seien. Auch andere religiös motivierte Stereotype, die sich nicht bei Münster finden, waren weit verbreitet: beispielsweise, dass "Zigeuner" die Nägel für die Kreuzigung Jesu geschmiedet hätten oder vom biblischen Brudermörder Kain abstammten. Solche Darstellungen finden sich heute nur noch selten.
Sinnstruktur
Ich werde meine Thesen zur Sinnstruktur des Antiziganismus an dem bisher wenig beachteten Text "Die Zigeunerfrage" des NS-Politikers Tobias Portschy
Zunächst gelten für den Antiziganismus Sinngehalte, die auch für andere Vorurteilskomplexe grundlegend sind: Ein zentrales Merkmal antiziganistischer Texte ist, dass "Zigeuner" immer in Abgrenzung und meist sogar als direkter Gegensatz zur Wir-Gruppe, der der/die Autor/in sich zugehörig fühlt, beschrieben werden: "Gutes und Böses (...), Deutschtum und Zigeunertum sind einmal miteinander nicht zu versöhnen, sondern dauernd in Widerstreit", schreibt Portschy.
Eine Besonderheit des Antiziganismus scheint dabei zu sein, dass sich die abstrakte Wesenheit der Wir-Gruppe durch den Einschluss von "Zigeunern" verändern oder auflösen würde, während das für das "Zigeunertum" nicht zu gelten scheint: "Oft werden verbrecherische und verkommene Personen aus der deutschen Dorfgemeinschaft noch heute geradezu ausgestoßen. (...) Wenn diese infolge der hartnäckigsten Ablehnung durch das Bauerntum Anschluss bei den Zigeunern heute noch sucht [sic!] und bisher auch fand [sic!], dann vereinen sich eben Verbrecher mit Verbrecher [sic!] und die Rassenschande feiert Triumpfe [sic!]. So und nur so sind die vielen Blondköpfe in der Zigeunerkolonie zu erklären."
Eine weitere Parallele zwischen Münster und Portschy stellt der angenommene Gegensatz zwischen "Zigeuner" und "Bauer" dar: "ist dem bauwers volck gar beschwerlich"
Der Gegensatz zum "Bauern" enthält noch einen zweiten zentralen Sinngehalt des Antiziganismus, den des archaischen Parasiten: "Der Zigeuner ist ein reiner Schmarotzer; er sehnt sich nicht nach dem Besitz von Grund und Boden, um ihn dauernd durch seine Arbeit zu kultivieren, wie überhaupt sich durch seiner Hände Arbeit sein Brot zu verdienen (...). Er wandert bettelnd und spielend von Dorf zu Dorf, stiehlt dabei für das [sic!] ihn Nötige auf den Feldern."
Ein häufig damit einhergehender Sinngehalt ist jener des fehlenden Planens und der fehlenden Selbstdisziplin. Dem Ackerbau als Symbol einer Tätigkeit, für die das ganze Jahr diszipliniert gearbeitet und geplant werden muss, wird die Sorg- und Disziplinlosigkeit, mit der "Zigeuner" vermeintlich ihren Trieben und Lüsten freien Lauf lassen, gegenübergestellt. Schon Münster schrieb, sie "leben on sorg",
Eng damit verwoben und teils identisch verwendet ist der Sinngehalt der sexuellen und geschlechtlichen Amoralität, der sich in vielen Formen zeigt. Auch hier besteht der Vorwurf darin, die eigene Sexualität nicht unter Kontrolle zu haben und zentrale Wertmaßstäbe vermissen zu lassen. So sind für "Zigeuner" laut Portschy "wilde Ehen", "Inzuchtehen", "geschlechtliche Frühreife" und "Prostitution" bezeichnend.
Diese vermeintliche Bedrohung der "männlichen" Position geht so weit, dass antiziganistische Texte häufig einen Wechsel der Geschlechterrollen konstatieren. So wird "der Zigeunerin" die Rolle der Ernährerin zugeschrieben. Schon Münster schreibt, "Züginer" seien ein "volck/das sunderlich gern stilt/doch allermeist die weiber/die also iren mannen zu tragen".
Diese Bedrohung männlicher Hegemonie geht damit einher, dass "Arbeit" als zentrale "männliche" Tätigkeit "Zigeunern" pauschal abgesprochen wird. Als eine hier anschließende Meta-Regel kann gelten, dass alle aufgezählten Sinngehalte in antiziganistischen Äußerungen und Texten primär Frauen oder Kindern zugeschrieben werden, dass diese also als Essenz des "Zigeunerischen" fungieren.
Soziale Hintergründe
Wie bereits dargelegt kann der Beginn des Antiziganismus in Westeuropa im 15./16. Jahrhundert verortet werden, in einer Zeit also, in der "die Grundlagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft gelegt wurden".
Auch Franz Maciejewski, ehemaliger Mitarbeiter des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma, verwendet dieses Konzept, um Antiziganismus zu erklären: "Demgegenüber gilt der Haß, der Sinti und Roma trifft, denjenigen, die (immer auf der Ebene der Phantasie) den Prozeß der Zivilisation angeblich unterlaufen. Die Zigeuner verkörpern gegen das herrschende Realitätsprinzip das Lustprinzip, gegen die repressive Kultur insgesamt die Natur, gegen die Zwänge des Patriarchats das Matriarchat, gegen den industriellen Komplex das einfache Leben".
Damit deutet Maciejewski die tief greifenden Veränderungen sozialer Normen und Wertvorstellungen an: Fleiß und Arbeitsdisziplin gelten als neue Normen im ökonomischen Bereich, feste nationale Identitäten werden zu zentralen Merkmalen der aufstrebenden bürgerlichen Schichten, die Vorherrschaft des Mannes in den Geschlechterbeziehungen verstärkt sich, das Leben muss rational und effizient geplant werden.
Obwohl Adorno und Horkheimer keine explizite Kritik des Antiziganismus formuliert haben, bringen auch sie diesen Vorgang mit der "sozialen Ächtung" von "Zigeunern" in Verbindung: "Die Strenge, mit welcher im Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den beherrschten Massen den Rückfall in mimetische Daseinsweisen abschnitten, angefangen vom religiösen Bildverbot über die soziale Ächtung von Schauspielern und Zigeunern bis zur Pädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu sein, ist die Bedingung der Zivilisation."