Einleitung
Obwohl nur wenige ihn wirklich gelesen haben, dürfte der "Goldstone-Bericht" inzwischen der bekannteste und kontroverseste Menschenrechtsbericht sein, der jemals veröffentlicht wurde. Richard Goldstone legte ihn vor, der sich sowohl als Richter am Obersten Gericht Südafrikas (und das als erklärter Gegner der Apartheid) als auch als Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien einen Namen gemacht hat. Bei dem Bericht handelt es sich um den 575 Seiten starken Abschlussbericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für den Gaza-Konflikt (United Nations Fact Finding Mission on the Gaza Conflict), der am 15. September 2009 dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt wurde.
Der Goldstone-Bericht, der den von Ende Dezember 2008 bis Mitte Januar 2009 dauernden Gaza-Krieg untersuchte, kritisiert sowohl die Hamas als auch Israel. Dass die Hamas, deren Taktik Verletzungen des humanitären Völkerrechts seit langem in Kauf nimmt, sich durch den Bericht würde beeinflussen lassen, war nicht zu erwarten.
In den Monaten nach der Veröffentlichung haben Israel und seine Freunde - selbst solche aus der politischen Mitte und links davon - Goldstones Methode und Schlussfolgerungen immer wieder kritisiert.
Dieser Artikel gibt nicht vor, die Befunde des Berichts im Lichte der israelischen Einwände zu bewerten, und auch um die Auflistung der Stärken und Schwächen des Reports kann es nicht gehen. Vielmehr unternimmt er den Versuch eines allgemeinen Überblicks über seine Ergebnisse und bietet einige Bemerkungen dazu, worin zweifellos der Hauptgrund für Israels Kritik am Bericht liegt: zur Ablehnung seines Systems der militärischen Justiz und dem Appell nach einer von anderen Staaten sowie dem Internationalen Strafgerichtshof durchgeführten Untersuchung gegen Israelis, die Verbrechen begangen haben sollen. Schließlich sollen auch einige Anmerkungen zum möglichen weiteren Vorgehen Israels gemacht werden (soweit sich das Ende des Jahres 2009 abzeichnet), was die Umsetzung einer der wichtigsten Empfehlungen des Goldstone-Berichts betrifft: die Schaffung eines innerstaatlichen unabhängigen Kontrollmechanismus zur Untersuchung der Gaza-Operation.
Hintergrund der Mission
Anfang Januar 2009, während des Gaza-Kriegs, verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution zur Einsetzung einer Kommission mit der Aufgabe, "jede Verletzung der internationalen Menschenrechtsnormen und des humanitären Völkerrechts durch die Besatzungsmacht Israel gegen das palästinensische Volk in allen besetzten Palästinensergebieten, besonders im Gazastreifen, im Zuge der laufenden Kampfhandlung zu ermitteln"
Da dieses Mandat von vielen als sehr einseitig angesehen wurde, nahm Richter Goldstone am 3. April die Aufgabe zur Führung der Untersuchung nur unter der Voraussetzung an, dass der UN-Menschenrechtsrat das ursprüngliche Mandat in eine unvoreingenommenere Fassung umformulierte, die vorsieht, "alle Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und des humanitären Völkerrechts zu untersuchen, die zu irgendeiner Zeit im Zusammenhang mit den Kampfhandlungen im Gazastreifen vom 27. Dezember 2008 bis zum 18. Januar 2009 begangen wurden, unabhängig davon, ob vor, während oder nach der militärischen Operation im eigentlichen Sinne".
Obwohl die Hamas ihrerseits eine Kooperation anbot, stieß die Kommission auch in Gaza auf Hindernisse. So schildert der Bericht, dass Palästinenser oft "nur zögerlich über die Präsenz von palästinensischen bewaffneten Gruppen und über deren Verhalten bei Kampfhandlungen sprachen", möglicherweise "aus Angst vor Repressalien".
Rechtliche Schlussfolgerungen
Von den 21 Kapiteln, die im Zentrum des Dokuments stehen, behandeln 16 das Verhalten Israels, vier beschäftigen sich mit Übergriffen von Seiten "bewaffneter Gruppen in Gaza" und eines widmet sich Anschuldigungen gegen die palästinensische Autonomiebehörde. Richter Goldstone erklärte dieses Ungleichgewicht damit, dass die Verantwortung der Hamas für Raketen- und Mörserangriffe auf das südliche Israel kaum in Frage stehe, wohingegen die Verantwortung Israels "etwas sehr viel Komplizierteres sei".
Der Report weist der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen im Gazastreifen die Verantwortung für folgende Rechtsverletzungen zu: fehlende Vorkehrungen zum Schutz von Zivilpersonen (Kapitel VIII), die anhaltende Internierung des israelischen Soldaten Gilad Shalit (Kapitel XVIII), Übergriffe auf Angehörige der Fatah von Seiten der Hamas (Kapitel XIX) sowie gezielte Angriffe auf Zivilisten im Süden Israels (Kapitel XXIV). Die fehlende Zusammenarbeit Israels bei der Faktenfindung machte es dem Untersuchungsteam schwer, die israelischen Argumente zur Verantwortung der bewaffneten palästinensischen Gruppen einer Prüfung zu unterziehen. Konsequenterweise beschränkt sich der Report deshalb gelegentlich darauf einen Satz zu variieren, der in etwa lautet: "Dem Untersuchungsteam ist es nicht möglich, ein abschließendes Urteil hinsichtlich der Beschuldigungen gegen die Hamas und andere Gruppen zu treffen."
Der Report kritisiert Israel für eine Reihe von Handlungen, angefangen mit missbräuchlichen Inhaftierungen (Kapitel XIV, XV und XXI) bis zur Unterdrückung abweichender Meinungen (Kapitel XXV). Im Mittelpunkt stehen jedoch 36 Vorfälle, die zum allergrößten Teil auf Anschuldigungen gegen Israel wegen Angriffen auf Zivilpersonen zurückgehen, sei es durch willkürliche oder unverhältnismäßige Gewaltanwendung oder durch gezielte Angriffe auf nicht-militärische Ziele. Der Bericht enthält auch einige Beschuldigungen bezüglich des Gebrauchs von Palästinensern als "menschliche Schutzschilde" und bemerkt, dass diese Praxis nicht nur der Vierten Genfer Konvention widerspreche, sondern auch vom Obersten Gericht Israels und der israelischen Militärpolizei verboten worden sei.
Was aus israelischer Perspektive am Bestürzendsten sein dürfte, ist jedoch nicht die Bewertung einzelner Untersuchungsergebnisse, sondern der allumfassende Vorwurf, dass die Operation "Gegossenes Blei" sich gegen "die Bevölkerung des Gazastreifens als Ganzes" gerichtet habe, als Teil einer "allgemeinen Politik, die auf die Bestrafung der Bevölkerung des Gazastreifens für deren ausdauernden Widerstand und ihre vorgebliche Unterstützung der Hamas abzielt".
Verantwortlichkeit
Kapitel XXVII (Proceedings by Palestinian Authorities) erweckt den Eindruck, als werde der fehlende Wille der palästinensischen Behörden, die Schuldigen für strafbare Handlungen zu ermitteln, als gegeben angesehen.
Kontrolle durch den UN-Sicherheitsrat: Der Bericht empfiehlt, dass der UN-Sicherheitsrat "ein unabhängiges Experten-Gremium einsetzt (...), um jedwede rechtlichen oder sonstigen Handlungen Israels zu beobachten und zu begutachten",
Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH): Sollte der UN-Sicherheitsrat feststellen, dass die geforderten Untersuchungen nicht stattgefunden haben, empfiehlt der Report, dass dies dem Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof vorgetragen wird (wie im Falle Darfurs, Sudan).
Weltrechtsprinzip (Prinzip, dass das nationale Strafrecht auch auf Sachverhalte anwendbar sein sollte, die keinen spezifischen Bezug zum Inland haben): Der Report nimmt den "wachsenden Widerwillen seitens Israel, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten" zum Anlass, "auf das Weltrechtsprinzip zu vertrauen, um den Staaten einen Weg zu eröffnen", grobe Verstöße gegen die Genfer Konventionen verfolgen zu können.
Die erste Reaktion Israels bestand aus dem Hinweis, dass sein System der Strafermittlung und -verfolgung internationalen Standards genüge und dass der Report die verschiedenen Ebenen unabhängiger Untersuchungen innerhalb des israelischen Systems nicht berücksichtige und deshalb nichts zu den laufenden Untersuchungen sagen könne.
Die Empfehlungen des Berichts in Bezug auf die Verantwortlichkeiten werfen für Israel und die internationale Gemeinschaft ernsthafte Probleme auf. Israel sieht sich seit langem dem Risiko ausgesetzt, dass ausländische Staaten die Handlungen seiner höheren Militärs und politischen Beamten gerichtlich untersuchen, doch erscheint diese Drohung aufgrund der zum Report gehörenden Dokumentation und der darin vertretenen Behauptung, dass die Operation jeglicher gesetzlicher Grundlage entbehre, um einiges ernst zu nehmender. Eine nicht zu widerlegende Tatsache ist, dass eine sehr hohe Zahl von Zivilisten ums Leben gekommen ist oder verletzt wurde, sowie dass zivile Infrastruktur beschädigt oder zerstört wurde.
Die Empfehlung an den UN-Sicherheitsrat, ein unabhängiges Experten-Gremium einzuberufen, um die israelischen Bemühungen zu beobachten, Gesetzesbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, ist etwas völlig Neues - und fast mit Gewissheit ein Blindgänger. Vorstellbar wäre zwar, dass der UN-Menschenrechtsrat ein solches Monitoring-System initiiert, doch würde es mit den gleichen Bedenken zu kämpfen haben wie die Goldstone-Mission.
Die Empfehlung an den UN-Sicherheitsrat, das Verfahren an den IStGH zu überweisen, dürfte zum Scheitern verurteilt sein, da es nicht vorstellbar ist, dass die USA zulassen würden, Israel vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen. Ähnlich überraschend (und auch sehr kontrovers) wäre, wenn der IStGH den Status Palästinas als Staat im Sinne der eigenen Rechtsprechung bestätigen würde.
Umdenken in Israel?
Die größte Bedrohung, die für Israel vom Goldstone-Bericht ausgeht, abgesehen vom Rückschlag für die angestrebte Imageaufbesserung als Verfechter des humanitären Völkerrechts, ist die Forderung nach internationaler Rechenschaftspflicht. In den Wochen und Monaten nach der Veröffentlichung des Reports machten die Vertreter der israelischen Regierung keinen Hehl aus ihrer Ablehnung des Goldstone-Berichts und auch viele andere Meinungsführer im Land wiesen die im Bericht gezogenen Schlussfolgerungen zurück. Und doch vermochte dieser Ansatz Israels - also die Herausgabe von Erklärungen und Berichten, mit denen den Anschuldigungen des Berichts entgegengetreten werden sollte - augenscheinlich nicht, der Flut neuer Untersuchungen Einhalt zu gebieten. Im Laufe der Zeit wurde klar, dass eine unabhängige, aber von Israel selbst durchgeführte Untersuchung wohl am besten geeignet wäre, um die Art von Schutz zu bieten, die sich die israelische Regierung erhofft - eine Option, die von der Regierung selbst jedoch bereits zu einem frühen Zeitpunkt ausgeschlossen worden war.
Dennoch mehren sich die Anzeichen dafür, dass sich in dieser Frage etwas bewegt - deuten doch einige von höchster Ebene ausgehende Andeutungen vom Januar 2010 darauf hin, dass Israel eine Art unabhängigen Prozess auf den Weg bringen will. So wird berichtet, dass Aharon Barak, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichts des Landes und einflussreiche Figur innerhalb der Justiz und des politischen Lebens, den Generalstaatsanwalt aufgefordert habe, eine Art regierungsamtliche Untersuchung in die Wege zu leiten, um den im Goldstone-Bericht vorgebrachten Beschuldigungen nachzugehen.
Auch innerhalb des Militärs gibt es einige Anzeichen, die auf einen Meinungsumschwung deuten. Kurz nach Neujahr 2010 gab der Stabschef der israelischen Armee eine Verfügung heraus, die eine rechtliche Beratung nicht nur in die Planung militärischer Operationen integriert - was bereits seit einiger Zeit Usus ist -, sondern auch vorsieht, dass diese im Verlauf bewaffneter Konflikte in Anspruch genommen werden soll.
Fazit
Der Goldstone-Bericht hat Israel tief getroffen, wenn auch wohl in erster Linie nicht in der Weise, wie Goldstone oder andere es erwartet hätten. Die erste Reaktion zementierte - vor allem dadurch, dass sie über Parteigrenzen hinweg so einhellig ausfiel - die traditionelle Rückzugsposition israelischer Politik, die von Zurückweisung der und Isolierung von den UN-Institutionen gekennzeichnet ist, wenn es um die Sicherheit Israels geht. So genügt es, sich die Jahre 2004 und 2005 in Erinnerung zu rufen, als der Internationale Strafgerichtshof die israelischen Sperranlagen an der Grenze zum Westjordanland ablehnte, um sich bewusst zu machen, dass die Position Israels innerhalb der UN - insbesondere in der Vollversammlung und im UN-Menschenrechtsrat - alles andere als komfortabel ist.
Das Gefühl der Isolation entsprang dabei nicht zur Gänze einer Paranoia; in der Tat fiel die im Goldstone-Bericht geäußerte Kritik an Israel harsch aus. Der Vorwurf, dass Israel die palästinensische Zivilbevölkerung gezielt ins Visier genommen habe und die Forderungen, Israel dem Weltrechtsprinzip zu unterwerfen und eine Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs einzuleiten, drängte das Land in eine Ecke, aus der heraus es ihm schwer fiel, sich versöhnlich zu zeigen. Viele Israelis, wahrscheinlich sogar eine Mehrheit von ihnen, glauben, dass der Goldstone-Bericht die Raketenangriffe durch die Hamas und deren Strategie, aus der Deckung menschlicher Schutzschilde zu operieren, nicht ausreichend berücksichtigt habe. Die israelische Regierung ihrerseits war nicht in der Lage, über den rauen Ton des Berichts hinwegzusehen, so dass es bis zum Beginn des Jahres 2010 dauerte, bis sich auch in Israel erstmals nennenswerte Stimmen zu Wort meldeten, die sich ernsthaft mit den Schlussfolgerungen des Reports auseinandersetzten; wobei auch jetzt noch lange nicht ausgemacht ist, in welche Richtung sich die Debatte bewegen wird. Zudem sind auch aus den USA keine Stimmen zu vernehmen - zumindest nicht öffentlich - die Israel dazu drängten, die Schlussfolgerungen des Berichts ernster zu nehmen.
Und doch scheinen die israelischen Regierungsvertreter nun, da die Aufregung über den Goldstone-Bericht noch immer nicht abgeklungen ist, zu erkennen, dass ihre reine Oppositionshaltung die Diskussion nicht hat stoppen können. Wohl ist es möglich, dass man in Israel, angesichts der immensen Zerstörungen und der hohen Zahl an zivilen Opfern unter der palästinensischen Bevölkerung im Verlauf der Operation "Gegossenes Blei" früher oder später dazu gekommen wäre, sich ernsthafter mit der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen und möglicherweise sogar eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen - und doch erscheint es unwahrscheinlich. Vor dem Goldstone-Bericht, der erst neun Monate nach dem Ende der Kampfhandlungen veröffentlicht wurde, gab es keine ernsthafte Debatte über die Operation. Es war der Goldstone-Bericht, der eine Änderung dieser Haltung in Gang brachte. Es mag sein, dass dieses öffentlich vorgetragene Umdenken "nur Schau" ist, wie es ein bekannter Analyst ausdrückte.
Richter Goldstone selbst nannte die Untersuchung der Verantwortlichkeit und Strafmündigkeit beider Konfliktparteien als sein vorrangiges Ziel.
Dies führt uns zur Übernahme der Verantwortlichkeit aus eigenem Impetus, womit wir auch wieder bei unserer Ausgangsfrage wären: ob Israel es gelingt, einen innerstaatlichen, unabhängigen Mechanismus einzurichten, der geeignet ist, nicht nur die Kritik von außen einzudämmen, sondern auch die Möglichkeit bietet, intensive Untersuchungen zur Aufklärung der Gaza-Operation durchzuführen.
Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Daniel Kiecol, Köln. Der Beitrag ist die Neufassung eines Artikels aus ASIL Insight, einer Zeitschrift der American Society of International Law, vom 1. Oktober 2009.