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Völkerrechtliche Implikationen des Goldstone-Berichts | Nahost-Konflikt | bpb.de

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Völkerrechtliche Implikationen des Goldstone-Berichts

David Kaye

/ 16 Minuten zu lesen

Der Goldstone-Bericht dürfte der kontroverseste UN-Menschenrechtsbericht sein. Er untersuchte den drei Wochen dauernden Gaza-Krieg 2008/2009 und kritisiert sowohl die Hamas als auch Israel.

Einleitung

Obwohl nur wenige ihn wirklich gelesen haben, dürfte der "Goldstone-Bericht" inzwischen der bekannteste und kontroverseste Menschenrechtsbericht sein, der jemals veröffentlicht wurde. Richard Goldstone legte ihn vor, der sich sowohl als Richter am Obersten Gericht Südafrikas (und das als erklärter Gegner der Apartheid) als auch als Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien einen Namen gemacht hat. Bei dem Bericht handelt es sich um den 575 Seiten starken Abschlussbericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für den Gaza-Konflikt (United Nations Fact Finding Mission on the Gaza Conflict), der am 15. September 2009 dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt wurde.


Der Goldstone-Bericht, der den von Ende Dezember 2008 bis Mitte Januar 2009 dauernden Gaza-Krieg untersuchte, kritisiert sowohl die Hamas als auch Israel. Dass die Hamas, deren Taktik Verletzungen des humanitären Völkerrechts seit langem in Kauf nimmt, sich durch den Bericht würde beeinflussen lassen, war nicht zu erwarten. Jedoch zeigte sich in den auf die Veröffentlichung des Berichts folgenden Monaten, dass er auch in Israel nicht dazu führte, den eigenen Umgang mit bewaffneten Gruppen in größtenteils von Zivilisten bewohnten Gegenden des Gazastreifens selbstkritisch zu hinterfragen. Die Hamas sah ihre Aktionen durch den Bericht nachträglich gerechtfertigt, während Israel in seiner Antwort die im Bericht genannten Fakten ebenso in Zweifel zog, wie die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen - eine Haltung, der sich die USA anschlossen.

In den Monaten nach der Veröffentlichung haben Israel und seine Freunde - selbst solche aus der politischen Mitte und links davon - Goldstones Methode und Schlussfolgerungen immer wieder kritisiert. Diese Kritik ist bis heute nicht schwächer geworden, doch scheinen die israelischen Regierungsvertreter zu erkennen, dass ihre unerschütterliche Haltung ihrem Land vor dem "Gericht" der internationalen öffentlichen Meinung nicht geholfen hat - und trotz anderslautender Bekenntnisse hierzu liegt Israel durchaus etwas am Urteil der internationalen Gemeinschaft.

Dieser Artikel gibt nicht vor, die Befunde des Berichts im Lichte der israelischen Einwände zu bewerten, und auch um die Auflistung der Stärken und Schwächen des Reports kann es nicht gehen. Vielmehr unternimmt er den Versuch eines allgemeinen Überblicks über seine Ergebnisse und bietet einige Bemerkungen dazu, worin zweifellos der Hauptgrund für Israels Kritik am Bericht liegt: zur Ablehnung seines Systems der militärischen Justiz und dem Appell nach einer von anderen Staaten sowie dem Internationalen Strafgerichtshof durchgeführten Untersuchung gegen Israelis, die Verbrechen begangen haben sollen. Schließlich sollen auch einige Anmerkungen zum möglichen weiteren Vorgehen Israels gemacht werden (soweit sich das Ende des Jahres 2009 abzeichnet), was die Umsetzung einer der wichtigsten Empfehlungen des Goldstone-Berichts betrifft: die Schaffung eines innerstaatlichen unabhängigen Kontrollmechanismus zur Untersuchung der Gaza-Operation.

Hintergrund der Mission

Anfang Januar 2009, während des Gaza-Kriegs, verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution zur Einsetzung einer Kommission mit der Aufgabe, "jede Verletzung der internationalen Menschenrechtsnormen und des humanitären Völkerrechts durch die Besatzungsmacht Israel gegen das palästinensische Volk in allen besetzten Palästinensergebieten, besonders im Gazastreifen, im Zuge der laufenden Kampfhandlung zu ermitteln".

Da dieses Mandat von vielen als sehr einseitig angesehen wurde, nahm Richter Goldstone am 3. April die Aufgabe zur Führung der Untersuchung nur unter der Voraussetzung an, dass der UN-Menschenrechtsrat das ursprüngliche Mandat in eine unvoreingenommenere Fassung umformulierte, die vorsieht, "alle Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und des humanitären Völkerrechts zu untersuchen, die zu irgendeiner Zeit im Zusammenhang mit den Kampfhandlungen im Gazastreifen vom 27. Dezember 2008 bis zum 18. Januar 2009 begangen wurden, unabhängig davon, ob vor, während oder nach der militärischen Operation im eigentlichen Sinne". Goldstone ging davon aus, dass dieses neu formulierte Mandat geeignet sei, Israel in die Arbeit der Kommission mit einzubinden. Doch trotz Überzeugungsarbeit gelang es nicht, Israel zur Teilnahme und Kooperation zu bewegen. Schlussendlich gab es keinen israelischen Beamten, der mit dem Untersuchungsteam zusammenarbeitete, wodurch es letzterem erschwert wurde, sich ein vollständiges Bild zu machen.

Obwohl die Hamas ihrerseits eine Kooperation anbot, stieß die Kommission auch in Gaza auf Hindernisse. So schildert der Bericht, dass Palästinenser oft "nur zögerlich über die Präsenz von palästinensischen bewaffneten Gruppen und über deren Verhalten bei Kampfhandlungen sprachen", möglicherweise "aus Angst vor Repressalien". Da die Aussagen von Dutzenden Einwohnern des Gazastreifens sehr überzeugend und glaubwürdig erscheinen, erweckt der Bericht den Eindruck, dass die Verantwortung der Hamas (oder anderer Gruppen) für zivile Opfer in bestimmten Vorfällen schwer nachzuweisen sei und dies unabhängig von der fehlenden Kooperation Israels bei der Faktenfindung.

Rechtliche Schlussfolgerungen

Von den 21 Kapiteln, die im Zentrum des Dokuments stehen, behandeln 16 das Verhalten Israels, vier beschäftigen sich mit Übergriffen von Seiten "bewaffneter Gruppen in Gaza" und eines widmet sich Anschuldigungen gegen die palästinensische Autonomiebehörde. Richter Goldstone erklärte dieses Ungleichgewicht damit, dass die Verantwortung der Hamas für Raketen- und Mörserangriffe auf das südliche Israel kaum in Frage stehe, wohingegen die Verantwortung Israels "etwas sehr viel Komplizierteres sei". Das Untersuchungsteam versuchte nicht, alle in Betracht kommenden Fälle von Verletzungen des humanitären Völkerrechts oder Menschenrechte vor, während und nach der Gaza-Operation zu untersuchen, sondern beschränkte sich darauf, einige "illustrative" Beispiele aufzuführen. Am Ende nennt der Bericht einige an die beiden beteiligten Parteien und Akteure der internationalen Gemeinschaft gerichtete Handlungsempfehlungen.

Der Report weist der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen im Gazastreifen die Verantwortung für folgende Rechtsverletzungen zu: fehlende Vorkehrungen zum Schutz von Zivilpersonen (Kapitel VIII), die anhaltende Internierung des israelischen Soldaten Gilad Shalit (Kapitel XVIII), Übergriffe auf Angehörige der Fatah von Seiten der Hamas (Kapitel XIX) sowie gezielte Angriffe auf Zivilisten im Süden Israels (Kapitel XXIV). Die fehlende Zusammenarbeit Israels bei der Faktenfindung machte es dem Untersuchungsteam schwer, die israelischen Argumente zur Verantwortung der bewaffneten palästinensischen Gruppen einer Prüfung zu unterziehen. Konsequenterweise beschränkt sich der Report deshalb gelegentlich darauf einen Satz zu variieren, der in etwa lautet: "Dem Untersuchungsteam ist es nicht möglich, ein abschließendes Urteil hinsichtlich der Beschuldigungen gegen die Hamas und andere Gruppen zu treffen." Der Bericht empfiehlt deshalb, dass die Hamas und andere Gruppen "fortan die Regeln des humanitären Völkerrechts respektieren sollen, insbesondere durch den Verzicht auf Angriffe auf israelische Zivilpersonen und zivile Objekte, sowie alle machbaren Vorkehrungen zum Schutz palästinensischer Zivilpersonen während militärischer Auseinandersetzungen treffen sollen". Der Bericht fordert auch die Freilassung des entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit aus "humanitären Gründen" oder zumindest seine Anerkennung als Kriegsgefangener. Außerdem mahnt er die palästinensische Autonomiebehörde zur strikten Einhaltung internationaler Menschenrechtsnormen.

Der Report kritisiert Israel für eine Reihe von Handlungen, angefangen mit missbräuchlichen Inhaftierungen (Kapitel XIV, XV und XXI) bis zur Unterdrückung abweichender Meinungen (Kapitel XXV). Im Mittelpunkt stehen jedoch 36 Vorfälle, die zum allergrößten Teil auf Anschuldigungen gegen Israel wegen Angriffen auf Zivilpersonen zurückgehen, sei es durch willkürliche oder unverhältnismäßige Gewaltanwendung oder durch gezielte Angriffe auf nicht-militärische Ziele. Der Bericht enthält auch einige Beschuldigungen bezüglich des Gebrauchs von Palästinensern als "menschliche Schutzschilde" und bemerkt, dass diese Praxis nicht nur der Vierten Genfer Konvention widerspreche, sondern auch vom Obersten Gericht Israels und der israelischen Militärpolizei verboten worden sei. Viele dieser Untersuchungsergebnisse werden vom Bericht schließlich als Verletzungen des humanitären Völkerrechts benannt; auch Tatbestände des Kriegsverbrechens könnten möglicherweise erfüllt sein.

Was aus israelischer Perspektive am Bestürzendsten sein dürfte, ist jedoch nicht die Bewertung einzelner Untersuchungsergebnisse, sondern der allumfassende Vorwurf, dass die Operation "Gegossenes Blei" sich gegen "die Bevölkerung des Gazastreifens als Ganzes" gerichtet habe, als Teil einer "allgemeinen Politik, die auf die Bestrafung der Bevölkerung des Gazastreifens für deren ausdauernden Widerstand und ihre vorgebliche Unterstützung der Hamas abzielt". Die Gaza-Operation, so der Report, bestand also nicht aus einer Reihe von einzelnen Vorfällen strafbaren Verhaltens, sondern war vielmehr das Ergebnis einer Regierungspolitik, die auf eine "massive und vorsätzliche Zerstörung" hinauslief. Beschlossen wird dieser Teil des Berichts von einer Reihe von Empfehlungen zur Neuausrichtung der israelischen Politik.

Verantwortlichkeit

Kapitel XXVII (Proceedings by Palestinian Authorities) erweckt den Eindruck, als werde der fehlende Wille der palästinensischen Behörden, die Schuldigen für strafbare Handlungen zu ermitteln, als gegeben angesehen. Dagegen treffen die Teile des Berichts, die sich mit der Verantwortlichkeit der Beteiligten befassen (Kapitel XXVI-XXIX), Israel angesichts seiner langen Tradition der Militärjustiz am härtesten. Es ist offensichtlich, dass die Forderung zur Übernahme der Verantwortlichkeit für die leitenden Stellen auf Seiten Israels viel politischen Sprengstoff birgt (auch wenn dieser Appell sich an Israel und die palästinensischen Behörden in gleichem Maße richtet). Was aus israelischer Sicht sogar noch unerfreulicher sein muss, ist der fast kategorische Vorwurf, dass Israel aus eigener Kraft nicht imstande sei, Verletzungen des humanitären Völkerrechts nachzugehen, womit sein gesamtes System der Militärjustiz als unzulänglich beurteilt wird. Sodann wendet sich der Bericht Alternativen zur einheimischen Justiz zu, darunter die folgenden:

Kontrolle durch den UN-Sicherheitsrat: Der Bericht empfiehlt, dass der UN-Sicherheitsrat "ein unabhängiges Experten-Gremium einsetzt (...), um jedwede rechtlichen oder sonstigen Handlungen Israels zu beobachten und zu begutachten", damit ermessen werden kann, ob Israel seiner Verantwortlichkeit gerecht wird.

Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH): Sollte der UN-Sicherheitsrat feststellen, dass die geforderten Untersuchungen nicht stattgefunden haben, empfiehlt der Report, dass dies dem Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof vorgetragen wird (wie im Falle Darfurs, Sudan). Des Weiteren weist der Bericht darauf hin, dass "die Regierung Palästinas" am 21. Januar 2009 dem IStGH eine Erklärung vorgelegt habe, in der diese die Gerichtsbarkeit und Zuständigkeit des IStGH für "Vergehen, die auf dem Gebiet Palästinas nach dem 1. Juli 2002 begangen wurden", anerkenne. Nachdem der hierfür relevante Artikel des Rom-Statuts dargelegt wird (Artikel 12), schließt der Report, dass der Chefankläger selbst ohne Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat auf Grundlage des Artikels 12 (3) des Rom-Statuts eine Untersuchung der Vorgänge einleiten könne.

Weltrechtsprinzip (Prinzip, dass das nationale Strafrecht auch auf Sachverhalte anwendbar sein sollte, die keinen spezifischen Bezug zum Inland haben): Der Report nimmt den "wachsenden Widerwillen seitens Israel, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten" zum Anlass, "auf das Weltrechtsprinzip zu vertrauen, um den Staaten einen Weg zu eröffnen", grobe Verstöße gegen die Genfer Konventionen verfolgen zu können.

Die erste Reaktion Israels bestand aus dem Hinweis, dass sein System der Strafermittlung und -verfolgung internationalen Standards genüge und dass der Report die verschiedenen Ebenen unabhängiger Untersuchungen innerhalb des israelischen Systems nicht berücksichtige und deshalb nichts zu den laufenden Untersuchungen sagen könne. Ausführlich werden die bereits abgeschlossenen und noch laufenden Untersuchungen genannt.

Die Empfehlungen des Berichts in Bezug auf die Verantwortlichkeiten werfen für Israel und die internationale Gemeinschaft ernsthafte Probleme auf. Israel sieht sich seit langem dem Risiko ausgesetzt, dass ausländische Staaten die Handlungen seiner höheren Militärs und politischen Beamten gerichtlich untersuchen, doch erscheint diese Drohung aufgrund der zum Report gehörenden Dokumentation und der darin vertretenen Behauptung, dass die Operation jeglicher gesetzlicher Grundlage entbehre, um einiges ernst zu nehmender. Eine nicht zu widerlegende Tatsache ist, dass eine sehr hohe Zahl von Zivilisten ums Leben gekommen ist oder verletzt wurde, sowie dass zivile Infrastruktur beschädigt oder zerstört wurde. Unabhängig davon, ob Israel damit Recht hat, dass der überwiegende Teil dieser Opfer auf vom Gesetz gedeckte Gewaltanwendung zurückzuführen sei und dass die Hamas die Verantwortung dafür trage, dass bewaffnete Gruppen inmitten der Zivilbevölkerung operierten, brachte sich Israel mit seiner Weigerung, mit dem Untersuchungsteam kooperieren, um ein wichtiges Forum, die eigene Sicht der Dinge vorzutragen. Zugleich wird dadurch riskiert, dass nun zahlreiche Strafverfolger, vor allem aus Europa, den Report als Grundlage für die Eröffnung von Strafverfahren nach den jeweiligen eigenen Gesetzen gemäß der Norm der universellen Juridisktion (Weltrechtsprinzip) benutzen. Es war ausgerechnet ein Verbündeter Israels, Großbritannien, das diese Drohung bereits in die Tat umsetzte.

Die Empfehlung an den UN-Sicherheitsrat, ein unabhängiges Experten-Gremium einzuberufen, um die israelischen Bemühungen zu beobachten, Gesetzesbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, ist etwas völlig Neues - und fast mit Gewissheit ein Blindgänger. Vorstellbar wäre zwar, dass der UN-Menschenrechtsrat ein solches Monitoring-System initiiert, doch würde es mit den gleichen Bedenken zu kämpfen haben wie die Goldstone-Mission.

Die Empfehlung an den UN-Sicherheitsrat, das Verfahren an den IStGH zu überweisen, dürfte zum Scheitern verurteilt sein, da es nicht vorstellbar ist, dass die USA zulassen würden, Israel vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen. Ähnlich überraschend (und auch sehr kontrovers) wäre, wenn der IStGH den Status Palästinas als Staat im Sinne der eigenen Rechtsprechung bestätigen würde.

Umdenken in Israel?

Die größte Bedrohung, die für Israel vom Goldstone-Bericht ausgeht, abgesehen vom Rückschlag für die angestrebte Imageaufbesserung als Verfechter des humanitären Völkerrechts, ist die Forderung nach internationaler Rechenschaftspflicht. In den Wochen und Monaten nach der Veröffentlichung des Reports machten die Vertreter der israelischen Regierung keinen Hehl aus ihrer Ablehnung des Goldstone-Berichts und auch viele andere Meinungsführer im Land wiesen die im Bericht gezogenen Schlussfolgerungen zurück. Und doch vermochte dieser Ansatz Israels - also die Herausgabe von Erklärungen und Berichten, mit denen den Anschuldigungen des Berichts entgegengetreten werden sollte - augenscheinlich nicht, der Flut neuer Untersuchungen Einhalt zu gebieten. Im Laufe der Zeit wurde klar, dass eine unabhängige, aber von Israel selbst durchgeführte Untersuchung wohl am besten geeignet wäre, um die Art von Schutz zu bieten, die sich die israelische Regierung erhofft - eine Option, die von der Regierung selbst jedoch bereits zu einem frühen Zeitpunkt ausgeschlossen worden war.

Dennoch mehren sich die Anzeichen dafür, dass sich in dieser Frage etwas bewegt - deuten doch einige von höchster Ebene ausgehende Andeutungen vom Januar 2010 darauf hin, dass Israel eine Art unabhängigen Prozess auf den Weg bringen will. So wird berichtet, dass Aharon Barak, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichts des Landes und einflussreiche Figur innerhalb der Justiz und des politischen Lebens, den Generalstaatsanwalt aufgefordert habe, eine Art regierungsamtliche Untersuchung in die Wege zu leiten, um den im Goldstone-Bericht vorgebrachten Beschuldigungen nachzugehen. Verteidigungsminister Ehud Barak soll seinerseits jede Art einer solchen Untersuchung ablehnen, doch könnte der Einfluss eines altgedienten und angesehenen Mannes, wie dem ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichts, mittelfristig zu einer Neuausrichtung der Staatsräson führen.

Auch innerhalb des Militärs gibt es einige Anzeichen, die auf einen Meinungsumschwung deuten. Kurz nach Neujahr 2010 gab der Stabschef der israelischen Armee eine Verfügung heraus, die eine rechtliche Beratung nicht nur in die Planung militärischer Operationen integriert - was bereits seit einiger Zeit Usus ist -, sondern auch vorsieht, dass diese im Verlauf bewaffneter Konflikte in Anspruch genommen werden soll. Möglicherweise in Kenntnis, dass es auch im Zuge der Operation "Gegossenes Blei" zu Verletzungen des humanitären Völkerrechts gekommen war, planen die israelischen Streitkräfte, in ihren Ausbildungsprogrammen größeren Wert auf die Vermittlung internationalen Rechts zu legen (die aber eigentlich schon seit einiger Zeit Bestandteil des militärischen Trainings in Israel ist). Ob diese Schritte zu einem substanziellen Politikwechsel und zur Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission führen werden, bleibt abzuwarten.

Fazit

Der Goldstone-Bericht hat Israel tief getroffen, wenn auch wohl in erster Linie nicht in der Weise, wie Goldstone oder andere es erwartet hätten. Die erste Reaktion zementierte - vor allem dadurch, dass sie über Parteigrenzen hinweg so einhellig ausfiel - die traditionelle Rückzugsposition israelischer Politik, die von Zurückweisung der und Isolierung von den UN-Institutionen gekennzeichnet ist, wenn es um die Sicherheit Israels geht. So genügt es, sich die Jahre 2004 und 2005 in Erinnerung zu rufen, als der Internationale Strafgerichtshof die israelischen Sperranlagen an der Grenze zum Westjordanland ablehnte, um sich bewusst zu machen, dass die Position Israels innerhalb der UN - insbesondere in der Vollversammlung und im UN-Menschenrechtsrat - alles andere als komfortabel ist.

Das Gefühl der Isolation entsprang dabei nicht zur Gänze einer Paranoia; in der Tat fiel die im Goldstone-Bericht geäußerte Kritik an Israel harsch aus. Der Vorwurf, dass Israel die palästinensische Zivilbevölkerung gezielt ins Visier genommen habe und die Forderungen, Israel dem Weltrechtsprinzip zu unterwerfen und eine Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs einzuleiten, drängte das Land in eine Ecke, aus der heraus es ihm schwer fiel, sich versöhnlich zu zeigen. Viele Israelis, wahrscheinlich sogar eine Mehrheit von ihnen, glauben, dass der Goldstone-Bericht die Raketenangriffe durch die Hamas und deren Strategie, aus der Deckung menschlicher Schutzschilde zu operieren, nicht ausreichend berücksichtigt habe. Die israelische Regierung ihrerseits war nicht in der Lage, über den rauen Ton des Berichts hinwegzusehen, so dass es bis zum Beginn des Jahres 2010 dauerte, bis sich auch in Israel erstmals nennenswerte Stimmen zu Wort meldeten, die sich ernsthaft mit den Schlussfolgerungen des Reports auseinandersetzten; wobei auch jetzt noch lange nicht ausgemacht ist, in welche Richtung sich die Debatte bewegen wird. Zudem sind auch aus den USA keine Stimmen zu vernehmen - zumindest nicht öffentlich - die Israel dazu drängten, die Schlussfolgerungen des Berichts ernster zu nehmen.

Und doch scheinen die israelischen Regierungsvertreter nun, da die Aufregung über den Goldstone-Bericht noch immer nicht abgeklungen ist, zu erkennen, dass ihre reine Oppositionshaltung die Diskussion nicht hat stoppen können. Wohl ist es möglich, dass man in Israel, angesichts der immensen Zerstörungen und der hohen Zahl an zivilen Opfern unter der palästinensischen Bevölkerung im Verlauf der Operation "Gegossenes Blei" früher oder später dazu gekommen wäre, sich ernsthafter mit der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen und möglicherweise sogar eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen - und doch erscheint es unwahrscheinlich. Vor dem Goldstone-Bericht, der erst neun Monate nach dem Ende der Kampfhandlungen veröffentlicht wurde, gab es keine ernsthafte Debatte über die Operation. Es war der Goldstone-Bericht, der eine Änderung dieser Haltung in Gang brachte. Es mag sein, dass dieses öffentlich vorgetragene Umdenken "nur Schau" ist, wie es ein bekannter Analyst ausdrückte. Doch was immer die Motivation für die Forderung Aharon Baraks nach einer Untersuchung sowie neuen Regeln für die Einbindung rechtlicher Berater in militärische Operationen gewesen sein mag, könnte der öffentliche Charakter seiner Äußerungen dafür sorgen, dass eine ganz neue, ernsthafte und nicht zuletzt öffentlich geführte Debatte über die israelische Militärpolitik im Gazastreifen und im Westjordanland in Gang gebracht wird.

Richter Goldstone selbst nannte die Untersuchung der Verantwortlichkeit und Strafmündigkeit beider Konfliktparteien als sein vorrangiges Ziel. Wie wirkt sich vor diesem Hintergrund sein Bericht auf die weltweite Bewegung gegen Straffreiheit aus? Sicher ist, dass es ein riskanter Zug war. Sein Appell zugunsten eines Weltrechtsprinzips führte zu einer Entfremdung Israels und der USA und die Bemühungen eines britischen Strafverfolgers, sich diesen Appell zu eigen zu machen, unterminierten die Anstrengungen zu einer Stärkung des Weltrechtsprinzips innerhalb Großbritanniens. Auch die Forderung nach einer Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs muss als riskant und, bis zum gewissen Grad, auch als juristisch heikel betrachtet werden.

Dies führt uns zur Übernahme der Verantwortlichkeit aus eigenem Impetus, womit wir auch wieder bei unserer Ausgangsfrage wären: ob Israel es gelingt, einen innerstaatlichen, unabhängigen Mechanismus einzurichten, der geeignet ist, nicht nur die Kritik von außen einzudämmen, sondern auch die Möglichkeit bietet, intensive Untersuchungen zur Aufklärung der Gaza-Operation durchzuführen.


Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Daniel Kiecol, Köln. Der Beitrag ist die Neufassung eines Artikels aus ASIL Insight, einer Zeitschrift der American Society of International Law, vom 1. Oktober 2009.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. UN Human Rights Council, Human Rights in Palestine and Other Occupied Arab Territories. Report of the United Nations Fact Finding Mission on the Gaza Conflict, A/HRC/12/48, 15.9. 2009, ("Goldstone-Bericht") online: www2.ohchr.org/english/bod ies/hrcouncil/specialsession/9/docs/UNFFMGC_Rep ort.pdf (26.1. 2010).

  2. So fordert z.B. Human Rights Watch seit langem, dass die Hamas ihre Strategie der Angriffe auf Zivilisten ändern müsse; vgl. Human Rights Watch, Rockets from Gaza: Harm to Civilians from Palestinian Armed Groups' Rocket Attacks, vom 6.8. 2009, online: www.hrw. org/en/reports/2009/08/06/rockets-gaza-0 (26.1. 2010).

  3. Vgl. Israeli Ministry of Foreign Affairs, Initial Response to Report of the Fact Finding Mission on Gaza Established Pursuant to Resolution S-9/1 of the Human Rights Council, 24.9. 2009, online: www.mfa.gov. il/NR/rdonlyres/FC985702 - 61C4 - 41C9 - 8B72-E387 6FEF0ACA/0/GoldstoneReportInitialResponse24090 9.pdf (26.1. 2010); Response to the Report of the United Nations Fact-Finding Mission on the Gaza Conflict, Statement of Michael Posner, Assistant Secretary of State for Democracy, Human Rights and Labor, vom 29.9. 2009, online: http://geneva.usmission.gov/news/ 2009/09/29/gaza-conflict/ (26.1. 2010).

  4. Vgl. The New Republic vom 6.11. 2009.

  5. Human Rights Council, Report of the Human Rights Council on ist ninth special session, A/HRC/S-9/L.1, 12.1. 2009, online: www2.ohchr.org/english/bod ies/hrcouncil/specialsession/9/docs/A-HRC-S-9 - 2.doc (26.1. 2010), S. 3.

  6. Vgl. Goldstone-Bericht (Anm. 1), Paragraph 131, S. 39.

  7. Vgl. ebd., Annex II "Correspondence between the United Nations Fact Finding Mission on the Gaza Conflict and the Government of Israel regarding Access and Cooperation".

  8. Vgl. ebd., Paragraph 438, S. 134. Der Bericht fährt mit der Feststellung fort, dass "die Mission um ein Treffen mit Vertretern bewaffneter Gruppen [ersuchte]. Zu einem solchen fanden sich diese jedoch nicht bereit." Ebd.

  9. Interview mit Richard Goldstone, in: The NewsHour with Jim Lehrer vom 15.9. 2009, online: www.pbs.org/newshour/bb/middle_east/july-dec09/ gaza_09 - 15.html (26.1. 2010).

  10. Goldstone Report (Anm. 1), Paragraph 463, S. 142.

  11. Ebd., Paragraph 1770, S. 551.

  12. Vgl. ebd., Paragraph 1771.

  13. Vgl. ebd., Paragraphen 1094-1097, S. 296-298.

  14. Vgl. ebd., Paragraph 934, S. 260.

  15. Ebd., Paragraphen 1680-1681, S. 523.

  16. Ebd., Paragraph 1190, S. 329, Paragraph 1692, S. 526.

  17. Vgl. ebd., Paragraph 1769, S. 549-551.

  18. Vgl. ebd., Paragraph 1639, S. 509-513, Paragraph 1761, S. 544.

  19. Vgl. ebd., Paragraph 1629, S. 508, Paragraph 1620, S. 506: "dass es Israel auch im Zeitraum von sechs Monaten nicht gelungen ist, schnelle, unabhängige und unparteiliche Strafermittlungen einzuleiten, bedeutet eine Verletzung seiner Pflicht, Hinweisen auf Kriegsverbrechen ernsthaft nachzugehen".

  20. Ebd., Paragraph 1766, S. 546f.

  21. Vgl. ebd.

  22. Vgl. ebd., Paragraph 1630, S. 508 - 509.

  23. Vgl. ebd., Paragraph 1632, S. 509. Artikel 12 (3) des Rom-Statuts sieht vor: "Ist nach Absatz 2 die Anerkennung der Gerichtsbarkeit durch einen Staat erforderlich [damit die Jurisdiktion des Strafgerichtshofs Anwendung finden kann], der nicht Vertragspartei dieses Statuts ist, so kann dieser Staat durch Hinterlegung einer Erklärung beim Kanzler die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den Gerichtshof in Bezug auf das fragliche Verbrechen anerkennen"; siehe Artikel 12 (3), Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, online: www.un.org/Depts/german/interna trecht/roemstat1.html. (26.1. 2010).

  24. Goldstone-Bericht (Anm. 1), Paragraph 1654, S. 515.

  25. Vgl. Israel's Initial Response (Anm. 3), S. 20-22.

  26. Vgl. ebd., S. 21f., Fußnote 23. Siehe auch Ministry of Foreign Affairs, The Operation in Gaza, 27 December 2008 - 18 January 2009: Factual and Legal Aspects, Juli 2009, online: www.mfa.gov.il/NR/rdon lyres/E89E699D-A435 - 491B-B2D0 - 017675DAFEF 7/0/GazaOpera tionwLinks.pdf. (26.1. 2010).

  27. Vgl. Ministry of Foreign Affairs (Anm. 26); B'tselem, B'Tselem's investigation of fatalities in Operation Cast Lead, 9.9. 2009, online: www.btselem.org/ English/Press_Releases/20090909.asp (26.1. 2010).

  28. Vgl. The Economist vom 17.12. 2009, online: www.economist.com/ world/middleeast-africa/ Printe rFriendly.cfm?story_id=15136684&CFID=103271027 &CFTOKEN=10060530 (26.1. 2010). Darin eine Darstellung der "Beinahe-Festnahme" der ehemaligen israelischen Außenministerin Tzipi Livni durch englische Beamte.

  29. Vgl. Kevin Jon Heller, Would Moreno-Ocampo Actually Investigate Only an Israeli Officer?, online: http://opiniojuris.org/2009/09/21/would-moreno-oca mpo-be-dumb-enough-to-investigate-an-israeli-office r/ (26.1. 2010).

  30. Vgl. The New York Times vom 16.9. 2009, online: www.nytimes.com/2009/09/17/world/middleeast/17g aza.html (26.1. 2010).

  31. Vgl. Haaretz vom 19.1. 2010, online: www.haaretz. com/hasen/spages/1143282.html (26.1. 2010).

  32. Ebd.

  33. Vgl. Haaretz vom 6.1. 2010, online: www.haaretz. com/hasen/spages/1140292.html (26.1. 2010).

  34. Ebd.

  35. So Ben Lynfield in: Global Post vom 7.1. 2010, online: www.globalpost.com/print/5513882 (26.1. 2010).

  36. Vgl. The New York Times vom 17.9. 2009, online: www.nytimes.com/2009/09/17/opinion/17goldstone. html (26.1. 2010).

J.D.; geschäftsführender Direktor des International Human Rights Program an der University of California, School of Law (UCLA), Los Angeles/USA.
E-Mail: E-Mail Link: kaye@law.ucla.edu