Das internationale humanitäre System umfasst Hilfen für Menschen, die aufgrund von Katastrophen oder Krisen in eine humanitäre Notlage geraten sind. Tausende internationale und lokale Hilfsorganisationen versorgen diese Menschen mit Notunterkünften, Nahrungsmitteln und Medizin oder bieten ihnen Schutz vor Verfolgung. Teilweise sind humanitäre Notlagen nur von kurzer Dauer, etwa wenn nach einer Naturkatastrophe der Wiederaufbau anfängt. Manche humanitäre Notlage dauert aber über Jahrzehnte an, wenn die politischen Ursachen und kriegerischen Auseinandersetzungen immer wieder zu Flucht oder Vertreibung führen und damit Existenzen und Lebensgrundlagen zerstören.
Heute muss das humanitäre System drei Mal mehr Menschen mit Hilfe versorgen als noch vor zehn Jahren.
Zu diesen Herausforderungen gehört beispielsweise eine Politisierung humanitärer Hilfe durch migrations- und sicherheitspolitische Interessen von Geberstaaten. In Konfliktgebieten ist humanitäre Hilfe oft ethischen Zielkonflikten ausgesetzt, wenn sie durch bewaffnete Gruppen instrumentalisiert und als Druckmittel genutzt wird. Doch auch eine angemessene Darstellung der Hilfe wird kontrovers diskutiert: In Anbetracht des Verhältnisses, dass geschätzt 90 Prozent der Hilfe von lokalen Akteuren aus dem globalen Süden geleistet wird, ist eine Auseinandersetzung mit der angemessenen Repräsentanz, Anerkennung und Ermächtigung dieser längst überfällig.
Eine breitere Diskussion dieser und anderer Herausforderungen der humanitären Hilfe in Öffentlichkeit und Medien wäre wünschenswert. Daher soll diese Einführung zu einer kritischen Reflexion des humanitären Systems und zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, vor denen es steht, und Deutschlands Rolle darin beitragen.
Der in diesem Heft vorrangig betrachtete Bevölkerungsschutz und die humanitäre Hilfe sind verwandte Bereiche. Der Schutz der Zivilbevölkerung und Katastrophenhilfe sind zentrale Elemente in beiden Bereichen. Teilweise übernehmen die gleichen Institutionen wie das Technische Hilfswerk (THW) oder Blaulichtorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz ähnliche Tätigkeiten im In- und Ausland. Dabei wird jedoch die Auslandshilfe zumeist von einer eigenen Abteilung organisiert. Die humanitäre Hilfe folgt eigenen Regeln. Neben technischen Standards sind es vor allem die Tradition und Grundsätze des Sektors, die ihn zu einem eigenen Handlungsfeld machen. Diese wurden unter anderem auf zahlreiche Problemstellungen hin formuliert, mit denen der Sektor konfrontiert war und ist. Dazu zählen Fragen wie: Wie kommt Hilfe dorthin, wo sie auch wirklich gebraucht wird? Wie kann der Zugang trotz bewaffneter Auseinandersetzung gewährleistet werden? Wie wird sichergestellt, dass Hilfe nicht in die falschen Hände gerät? Wie begegnen Hilfsakteure der zunehmenden Politisierung und Instrumentalisierung ihrer Arbeit? Im Umgang mit diesen Herausforderungen haben sich Hilfsakteure auf die humanitären Prinzipien verständigt. Diese haben unter anderem den Anspruch, dass Hilfe unparteilich, unabhängig und neutral sein soll. Damit unterscheidet sich die humanitäre Hilfe von anderen Formen der internationalen Zusammenarbeit oder des inländischen Bevölkerungsschutzes, die stärker politisch ausgerichtet sind, enger mit staatlichen Institutionen zusammenarbeiten oder von diesen durchgeführt werden.
Prinzipien, Rahmenbedingungen und Akteure
Zu den zentralen Werten und Normen humanitärer Hilfe gehören die vier Prinzipien, die 1991 mit der UN-Resolution 46/182 als Basis der weltweiten humanitären Hilfe anerkannt wurden. Im Kern steht das Prinzip der Menschlichkeit, das besagt, dass Unterstützung ohne Diskriminierung von Mensch zu Mensch geleistet wird, um Leid zu mindern. In einer Welt von begrenzten Ressourcen soll die Hilfe nach dem Prinzip der Unparteilichkeit, also prioritär bedarfsorientiert, allein nach dem Maß der Not und ohne Diskriminierung nach Ethnie, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder Nationalität geleistet werden. Um bedarfsorientiert zu helfen, müssen humanitäre Helfer*innen Zugang zu den Menschen in Not erhalten. Insbesondere in Konfliktgebieten ist dies mit dem Aufbau von Vertrauen darin verbunden, dass keine politischen Agenden verfolgt werden. Dafür essenziell ist das Prinzip der Neutralität. Um sich neutral zu verhalten und bedarfsorientiert zu helfen, ist das vierte Prinzip – die Unabhängigkeit – unabdingbar, um frei von Zwängen Entscheidungen zu treffen.
In der Praxis bringen die humanitären Prinzipien eine Reihe von Dilemmata mit sich. Beispielsweise ist die Neutralität schwer vereinbar mit dem Anspruch mancher Hilfsorganisationen, an Konfliktursachen zu arbeiten, da diese immer politisch sind. Auch lassen es manche Regime nicht zu, bedarfsorientiert zu helfen, sondern knüpfen Arbeitserlaubnis und Zugang an bestimmte Bedingungen. Entscheidungen, unter diesen Umständen trotzdem zu helfen oder nicht, sind schwierig und erfordern teilweise diplomatisches Geschick. Das Beispiel des Konflikts im Jemen verdeutlicht dieses Dilemma besonders prägnant: Unabhängige Bedarfsermittlung und die Ausführung der Hilfe werden von den Konfliktparteien immer wieder politisch instrumentalisiert oder durch administrative Hürden, Checkpoints oder Forderungen erschwert, sodass die Hilfsakteure mehrfach kollektiv ihre Unterstützung aussetzen oder beenden wollten. Gleichzeitig sind rund zwei Drittel der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe in Form von sauberem Trinkwasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung angewiesen, sodass, global gesehen, ein Rückzug gegen die Prinzipien Menschlichkeit und Unparteilichkeit verstoßen würde.
Neben der Soforthilfe schließt humanitäre Hilfe ausdrücklich auch Präventions- und Vorsorgemaßnahmen ein, zunehmend auch Rehabilitation und Wiederaufbau. Gewaltkonflikte führen häufig zu lang anhaltenden Notsituationen. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nation (UNHCR) schätzt die durchschnittliche Zeit einer Flucht- oder Vertreibungserfahrung auf 26 Jahre.
Den rechtlichen Rahmen des humanitären Systems bilden eine Reihe von Konventionen aus unterschiedlichen Disziplinen des Völkerrechts, wie dem humanitären Völkerrecht, dem Flüchtlingsrecht und den Menschenrechten. Hinzu kommen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates oder der UN-Generalversammlung.
Ergänzend bekennen sich staatliche und nicht-staatliche humanitäre Akteure zu einer Reihe von Pflichten und Prinzipien. Hierzu gehören der Code of Conduct der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung von 1995, der Europäische Konsens über die humanitäre Hilfe von 2007 und die Core Humanitarian Standards von 2014. Hinzu kommen weitere normative Grundlagen oder Selbstverpflichtungen, die humanitäre Akteure eingegangen sind. Ein Meilenstein in der Rechenschaftslegung humanitärer Hilfe sind die Sphere-Standards aus dem Jahr 2000, eine Formulierung von Mindeststandards etwa für die Trinkwasserversorgung, Notunterkünfte oder die Auslastung von Sanitäranlagen.
Zu der wichtigsten Akteursgruppe der internationalen humanitären Hilfe gehört die lokale Hilfe in Krisen- und Katastrophengebieten in Form von Nachbarn, Familienangehörigen und lokalen Behörden, die rund 90 Prozent der Hilfe leisten.
Herausforderungen für die humanitäre Hilfe
Der Humanitarismus als zunehmend institutionalisierte Form internationaler Hilfsbereitschaft und Solidarität bekam 1863 mit der Gründung des IKRK einen organisationalen Rahmen. Diese ging auf den Schweizer Henry Dunant zurück, der 1859 spontan Hilfe für verwundete Soldaten in der Schlacht von Solferino organisiert und erstmals eine Trennung von Politik und Hilfe für Kriegsverletzte gefordert und damit die Grundlage für die humanitären Prinzipien gelegt hatte.
Während zentrale Grundsätze und Überzeugungen Dunants noch heute die Arbeit prägen, ist das humanitäre Hilfssystem stark gewachsen und hat sich zunehmend institutionalisiert und professionalisiert. Eine Herausforderung für die humanitäre Hilfe bleibt der Umgang mit ihrer Instrumentalisierung und Politisierung, aber auch das Eingestehen eigener Fehler und die Lehren daraus.
Greifbar werden die Dilemmata politischer Vereinnahmung humanitärer Hilfe beispielsweise in Interventionen wie in Afghanistan, im Sahel-Raum oder in Syrien. Vor allem mit dem "Krieg gegen den Terror" wurden Hilfsorganisationen in den des Terrorismus verdächtigen Ländern unter Druck gesetzt, mit ihrer Arbeit die hearts and minds der Bevölkerung zu gewinnen und als "Helfer*innen in Uniform" zu einem außenpolitischen Stabilisierungsnarrativ beizutragen. Ähnliche Motive finden sich aktuell auch in Hilfsinterventionen in der Sahel-Region. Dort knüpfen staatliche oder multilaterale Geber ihre humanitären Mittel einerseits an sicherheitspolitische Interessen und andererseits an Migrationsmanagement oder -abwehr. Auch in Syrien wird humanitäre Hilfe instrumentalisiert und politisiert, indem das Regime von Präsident Baschar al-Assad Krankenhäuser und Helfer*innen angreift.
Herausforderungen birgt auch das kontroverse Verhältnis zwischen Medien und Hilfsorganisationen. Die Berichterstattung über den Sezessionskrieg in Biafra (Nigeria) in den 1960er Jahren oder den Tsunami 2004 steht stellvertretend für den Zwiespalt: Zum einen sind Hilfsorganisationen auf eine bildreiche Darstellung der Katastrophe angewiesen, um Spenden zu sammeln. Zum anderen sorgt der "CNN-Effekt" dafür, dass manche Krisen überproportional repräsentiert sind oder Notleidende objektifiziert und instrumentalisiert werden, um Sympathien und Hilfslieferungen zu erzwingen.
Der Machtmissbrauch durch humanitäre Helfer*innen nach dem Erdbeben in Haiti 2010, als sexuelle Gewalt und Korruptionsfälle zu einem fundamentalen Vertrauensverlust der haitianischen Bevölkerung in internationale Strukturen führten,
Deutschland als Akteur
Als mittlerweile zweitgrößter bilateraler Geber etwa für den zentralen UN-Nothilfefonds hat die Bundesrepublik sich vor allem in finanzieller Hinsicht zum Schwergewicht der humanitären Hilfe entwickelt. Seit dem Jahr 2000 ist das finanzielle Engagement Deutschlands für humanitäre Hilfe um etwa 2.000 Prozent auf rund 2,1 Milliarden Euro 2020 gestiegen. Durch verschiedene Großkrisen, wie in Syrien oder im Jemen, aber auch im Zuge der Covid-19-Pandemie hat der Bundestag in großem Umfang außerplanmäßige Mittel für humanitäre Hilfsmaßnahmen freigegeben.
Für die Umsetzung der Hilfe im Ausland vergibt die Bundesregierung finanzielle Mittel an Partnerorganisationen. Größte Empfängergruppe sind mit 74 Prozent UN-Agenturen wie WFP, UNHCR oder UNICEF. Etwa 12 Prozent der Mittel gehen an Rotkreuz- und Rothalbmondorganisationen und 13 Prozent an NGOs.
Deutsche zivilgesellschaftliche Akteure sind international vor allem bekannt für ihre langjährige Zusammenarbeit und Vernetzung mit Partnerorganisationen. Sie sammeln Spenden und gestalten die Hilfsprogramme gemeinsam mit Partnern vor Ort. Zugleich sind deutsche NGOs weniger in extrem schwierigen Kontexten, wie aktiven Kriegsgebieten, präsent. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen eher auf Fundraising oder Projektzusammenarbeit.
Innerhalb der Bundesregierung ist das Auswärtige Amt (AA) mit der Abteilung für Krisenprävention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge und Humanitäre Hilfe vorrangig zuständig. Weiterhin übernimmt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit der entwicklungsorientierten Not- und Übergangshilfe eine wichtige Schnittstelle zu längerfristigen strukturbildenden Entwicklungsprogrammen.
In der humanitären Debatte wird das deutsche Engagement teilweise kritisch kommentiert. Denn insbesondere im Vergleich zu anderen großen humanitären Gebern verfügt die Bundesrepublik über wenig humanitär ausgebildetes Personal.
Aktuelle Reformen
Humanitäre Hilfe wird häufig unter extremen Bedingungen geleistet, sodass Hilfsakteure immer wieder gefordert sind, Lösungen zu finden und Reformen anzustoßen. 2016 versammelten sich zentrale Akteure zum Humanitären Weltgipfel in Istanbul, um grundlegende Veränderungen für ein faireres, effizienteres und effektiveres humanitäres System zu beschließen.
Bargeldbasierte Hilfsprogramme sind ein deutlich wachsender Trend. Bargeldhilfen werden meist mittels elektronischer Überweisung direkt ausgezahlt und fördern die lokale Nachfrage und Wirtschaft. Wo immer dies möglich ist, haben sich Bargeldhilfen als eine effiziente Form der Hilfe erwiesen, die geringere Transaktionskosten hat, da teure Hilfsgüter nicht eingeflogen oder aufwendig durch Organisationen beschafft werden müssen. Zudem können die Empfänger*innen ihre dringendsten Bedarfe eigenverantwortlich und würdevoll decken. Seit 2016 hat sich das Volumen von Bargeldhilfen verdoppelt. 2019 wurden rund 18 Prozent aller humanitären Hilfe, also rund 4,5 Milliarden Euro, in Form von Bargeldhilfen ausgezahlt. Allerdings werden Cash-Programme immer umfangreicher und großvolumiger, sodass große UN-Agenturen wie WFP oder UNHCR deutlich häufiger die Zuschläge von Gebern erhalten – auf Kosten der kleineren Hilfsakteure.
Durch eine stärkere Verzahnung von humanitärer Hilfe mit Entwicklungs- und Friedensprogrammen sollen Synergien und Anknüpfungspotenziale zwischen den verschiedenen Formen der internationalen Zusammenarbeit geschaffen werden. Besonders in fragilen Kontexten klingt dieses Konzept verlockend, wo internationale Zusammenarbeit teils seit Jahrzehnten versucht, Leid zu lindern und Entwicklung zu fördern. So sinnvoll dieser Humanitarian-Development-Peace-Nexus auch klingt, in der Praxis führt er zu großen Herausforderungen, da humanitäre Akteure etwa die Prinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit in Gefahr sehen. Insbesondere die Sahel-Region zeigt, dass es statt punktuell sinnvoller Koordination eher zu einer Vermischung von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe mit Migrationsabwehr, Stabilisierungsmissionen und Antiterrormaßnahmen kommt, die für die Bevölkerung wenig Nutzen bringt und Helfer*innen in Gefahr bringen könnte.
Die Machtverschiebung hin zu regionalen, nationalen und lokalen Organisationen des globalen Südens wird im Jargon "Lokalisierung" genannt und meint, dass sowohl die lokalen Akteure direkter finanziert werden und mehr Mitspracherecht erhalten als auch eine größere Anerkennung ihrer Beiträge stattfindet. Die Selbstverpflichtung des Grand Bargain war es, 25 Prozent der Mittel für humanitäre Hilfe so direkt wie möglich, also über maximal einen Zwischenempfänger, nationalen und lokalen Akteuren zur Verfügung zu stellen.
Schluss
Auf das humanitäre System kommen schwierige Zeiten zu. Multilateralismus und globale Normen geraten durch erstarkenden Nationalismus und Populismus unter Druck. Beispielsweise zeigen die Verhandlungen im UN-Sicherheitsrat, dass es weniger Konsens gibt über die ethische Selbstverständlichkeit, Menschen, die infolge von Gewaltkonflikten oder Naturkatastrophen in eine humanitäre Notlage geraten, international zu helfen.
Gleichzeitig reagiert das humanitäre System auf diesen Druck mit den beschriebenen Innovationen und Reformprozessen und bot das Jahr 2020 auch die Chance für ein Innehalten des humanitären Hilfssystems insgesamt. Durch die Covid-19-Pandemie wurde die kollektive Vulnerabilität aller Länder betont. Aufgrund geschlossener Grenzen konnten viele westliche Nothelfer*innen nicht in ihre Projektgebiete fliegen. Lokale Organisationen, die ohnehin Zugang haben und über Vor-Ort-Kenntnisse verfügen, waren ganz offensichtlich in der günstigeren Position, um zu helfen. Und manche europäische Staaten konnten sich von den afrikanischen Partnern – geübt in der Triage der multiplen Krisenbewältigung – in Bezug auf Infektionskontrolle und Katastrophenmanagement einiges abschauen. Dies bietet neue Möglichkeiten für eine kollektive Verantwortung, Menschen in einer humanitären Notlage zu helfen sowie für mehr Zusammenarbeit auf Augenhöhe.