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Das internationale humanitäre System | Bevölkerungsschutz | bpb.de

Bevölkerungsschutz Editorial Katastrophenangst. Momente der Kulturgeschichte Zwischen Apokalypse und Alltagsunfall. Zur Geschichte des Bevölkerungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland Strukturen, Akteure und Zuständigkeiten des deutschen Bevölkerungsschutzes Stabsarbeit vor neuen Herausforderungen. Zur Einsatzführung im Bevölkerungsschutz Preppen. Private Krisenvorsorge zwischen Bürgerpflicht, Lebensstil und Staatsskepsis Opfer der Moderne. Geschädigte von Technikkatastrophen in Gesellschaft und Medien Das internationale humanitäre System. Eine Einführung

Das internationale humanitäre System Eine Einführung

Sonja Hövelmann

/ 15 Minuten zu lesen

Das internationale humanitäre System umfasst Hilfen für Menschen, die aufgrund von Katastrophen oder Krisen in eine humanitäre Notlage geraten sind. Tausende internationale und lokale Hilfsorganisationen versorgen diese Menschen mit Notunterkünften, Nahrungsmitteln und Medizin oder bieten ihnen Schutz vor Verfolgung. Teilweise sind humanitäre Notlagen nur von kurzer Dauer, etwa wenn nach einer Naturkatastrophe der Wiederaufbau anfängt. Manche humanitäre Notlage dauert aber über Jahrzehnte an, wenn die politischen Ursachen und kriegerischen Auseinandersetzungen immer wieder zu Flucht oder Vertreibung führen und damit Existenzen und Lebensgrundlagen zerstören.

Heute muss das humanitäre System drei Mal mehr Menschen mit Hilfe versorgen als noch vor zehn Jahren. Hinzu kommt die Covid-19-Pandemie, die die Bedarfe in die Höhe schnellen lässt. Durch Großkrisen wie in Syrien oder im Jemen, aber auch mit der Flüchtlingsbewegung über den Balkan oder von Libyen übers Mittelmeer nach Europa ist das Thema humanitäre Hilfe jüngst in Politik, Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit stärker sichtbar geworden. Mit der Versorgung von Geflüchteten in Griechenland wurde erstmals einer breiteren Öffentlichkeit deutlich, dass auch mitten in Europa humanitäre Hilfe geleistet werden muss und mit welchen Herausforderungen Helfer*innen konfrontiert sind.

Zu diesen Herausforderungen gehört beispielsweise eine Politisierung humanitärer Hilfe durch migrations- und sicherheitspolitische Interessen von Geberstaaten. In Konfliktgebieten ist humanitäre Hilfe oft ethischen Zielkonflikten ausgesetzt, wenn sie durch bewaffnete Gruppen instrumentalisiert und als Druckmittel genutzt wird. Doch auch eine angemessene Darstellung der Hilfe wird kontrovers diskutiert: In Anbetracht des Verhältnisses, dass geschätzt 90 Prozent der Hilfe von lokalen Akteuren aus dem globalen Süden geleistet wird, ist eine Auseinandersetzung mit der angemessenen Repräsentanz, Anerkennung und Ermächtigung dieser längst überfällig.

Eine breitere Diskussion dieser und anderer Herausforderungen der humanitären Hilfe in Öffentlichkeit und Medien wäre wünschenswert. Daher soll diese Einführung zu einer kritischen Reflexion des humanitären Systems und zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, vor denen es steht, und Deutschlands Rolle darin beitragen.

Der in diesem Heft vorrangig betrachtete Bevölkerungsschutz und die humanitäre Hilfe sind verwandte Bereiche. Der Schutz der Zivilbevölkerung und Katastrophenhilfe sind zentrale Elemente in beiden Bereichen. Teilweise übernehmen die gleichen Institutionen wie das Technische Hilfswerk (THW) oder Blaulichtorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz ähnliche Tätigkeiten im In- und Ausland. Dabei wird jedoch die Auslandshilfe zumeist von einer eigenen Abteilung organisiert. Die humanitäre Hilfe folgt eigenen Regeln. Neben technischen Standards sind es vor allem die Tradition und Grundsätze des Sektors, die ihn zu einem eigenen Handlungsfeld machen. Diese wurden unter anderem auf zahlreiche Problemstellungen hin formuliert, mit denen der Sektor konfrontiert war und ist. Dazu zählen Fragen wie: Wie kommt Hilfe dorthin, wo sie auch wirklich gebraucht wird? Wie kann der Zugang trotz bewaffneter Auseinandersetzung gewährleistet werden? Wie wird sichergestellt, dass Hilfe nicht in die falschen Hände gerät? Wie begegnen Hilfsakteure der zunehmenden Politisierung und Instrumentalisierung ihrer Arbeit? Im Umgang mit diesen Herausforderungen haben sich Hilfsakteure auf die humanitären Prinzipien verständigt. Diese haben unter anderem den Anspruch, dass Hilfe unparteilich, unabhängig und neutral sein soll. Damit unterscheidet sich die humanitäre Hilfe von anderen Formen der internationalen Zusammenarbeit oder des inländischen Bevölkerungsschutzes, die stärker politisch ausgerichtet sind, enger mit staatlichen Institutionen zusammenarbeiten oder von diesen durchgeführt werden.

Prinzipien, Rahmenbedingungen und Akteure

Zu den zentralen Werten und Normen humanitärer Hilfe gehören die vier Prinzipien, die 1991 mit der UN-Resolution 46/182 als Basis der weltweiten humanitären Hilfe anerkannt wurden. Im Kern steht das Prinzip der Menschlichkeit, das besagt, dass Unterstützung ohne Diskriminierung von Mensch zu Mensch geleistet wird, um Leid zu mindern. In einer Welt von begrenzten Ressourcen soll die Hilfe nach dem Prinzip der Unparteilichkeit, also prioritär bedarfsorientiert, allein nach dem Maß der Not und ohne Diskriminierung nach Ethnie, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder Nationalität geleistet werden. Um bedarfsorientiert zu helfen, müssen humanitäre Helfer*innen Zugang zu den Menschen in Not erhalten. Insbesondere in Konfliktgebieten ist dies mit dem Aufbau von Vertrauen darin verbunden, dass keine politischen Agenden verfolgt werden. Dafür essenziell ist das Prinzip der Neutralität. Um sich neutral zu verhalten und bedarfsorientiert zu helfen, ist das vierte Prinzip – die Unabhängigkeit – unabdingbar, um frei von Zwängen Entscheidungen zu treffen.

In der Praxis bringen die humanitären Prinzipien eine Reihe von Dilemmata mit sich. Beispielsweise ist die Neutralität schwer vereinbar mit dem Anspruch mancher Hilfsorganisationen, an Konfliktursachen zu arbeiten, da diese immer politisch sind. Auch lassen es manche Regime nicht zu, bedarfsorientiert zu helfen, sondern knüpfen Arbeitserlaubnis und Zugang an bestimmte Bedingungen. Entscheidungen, unter diesen Umständen trotzdem zu helfen oder nicht, sind schwierig und erfordern teilweise diplomatisches Geschick. Das Beispiel des Konflikts im Jemen verdeutlicht dieses Dilemma besonders prägnant: Unabhängige Bedarfsermittlung und die Ausführung der Hilfe werden von den Konfliktparteien immer wieder politisch instrumentalisiert oder durch administrative Hürden, Checkpoints oder Forderungen erschwert, sodass die Hilfsakteure mehrfach kollektiv ihre Unterstützung aussetzen oder beenden wollten. Gleichzeitig sind rund zwei Drittel der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe in Form von sauberem Trinkwasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung angewiesen, sodass, global gesehen, ein Rückzug gegen die Prinzipien Menschlichkeit und Unparteilichkeit verstoßen würde.

Neben der Soforthilfe schließt humanitäre Hilfe ausdrücklich auch Präventions- und Vorsorgemaßnahmen ein, zunehmend auch Rehabilitation und Wiederaufbau. Gewaltkonflikte führen häufig zu lang anhaltenden Notsituationen. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nation (UNHCR) schätzt die durchschnittliche Zeit einer Flucht- oder Vertreibungserfahrung auf 26 Jahre. Neben den plötzlich einsetzenden Katastrophen, wie dem Tsunami im Indischen Ozean 2004 oder den Heuschreckenplagen in Ostafrika 2020, machen den Großteil der humanitären Hilfe lang anhaltende Krisen aus, wie beispielsweise die komplexen Notlagen in der Demokratischen Republik Kongo, Somalia oder Afghanistan. Zwischen 2005 und 2017 hat sich die durchschnittliche Länge von aktiven Nothilfeaufrufen von vier auf sieben Jahre verlängert. Dies führt zu einer zunehmend diffusen Abgrenzung zwischen kurzfristiger Nothilfe und längerfristigen Interventionen der Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere in Gewaltkonflikten, wo Entwicklungsakteure die Sicherheitslage für ihre Arbeit als zu gefährlich einstufen oder die notwendigen politischen Rahmenbedingungen und staatlichen Partner zur Umsetzung fehlen.

Den rechtlichen Rahmen des humanitären Systems bilden eine Reihe von Konventionen aus unterschiedlichen Disziplinen des Völkerrechts, wie dem humanitären Völkerrecht, dem Flüchtlingsrecht und den Menschenrechten. Hinzu kommen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates oder der UN-Generalversammlung. Einen wichtigen Rechtsrahmen bilden dabei die Genfer Abkommen zum Schutz und der Versorgung von Zivilist*innen, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind.

Ergänzend bekennen sich staatliche und nicht-staatliche humanitäre Akteure zu einer Reihe von Pflichten und Prinzipien. Hierzu gehören der Code of Conduct der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung von 1995, der Europäische Konsens über die humanitäre Hilfe von 2007 und die Core Humanitarian Standards von 2014. Hinzu kommen weitere normative Grundlagen oder Selbstverpflichtungen, die humanitäre Akteure eingegangen sind. Ein Meilenstein in der Rechenschaftslegung humanitärer Hilfe sind die Sphere-Standards aus dem Jahr 2000, eine Formulierung von Mindeststandards etwa für die Trinkwasserversorgung, Notunterkünfte oder die Auslastung von Sanitäranlagen.

Zu der wichtigsten Akteursgruppe der internationalen humanitären Hilfe gehört die lokale Hilfe in Krisen- und Katastrophengebieten in Form von Nachbarn, Familienangehörigen und lokalen Behörden, die rund 90 Prozent der Hilfe leisten. Aber auch Staaten, UN-Agenturen und Zivilgesellschaft spielen eine wichtige Rolle. Staaten sind sowohl Geber und Empfänger von Hilfsgeldern als auch koordinierende Entitäten besonders in Form von lokalen Behörden. Zu den wichtigsten UN-Agenturen zählen das UN-Koordinierungsbüro für Nothilfe (OCHA) mit dem UN-Nothilfekoordinator, der UNHCR, das Welternährungsprogramm (WFP) oder das Kinderhilfswerk (UNICEF). Zu den zivilen Akteuren gehören unter anderem die 192 nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondorganisationen. Eine spezifische Rolle nimmt das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) ein, das als Völkerrechtssubjekt in bewaffneten Konflikten aktiv werden kann. Hinzu kommen eine Vielzahl von NGOs, gemeindebasierten Organisationen oder Diaspora-Gruppen, die häufig am nächsten mit der Bevölkerung vor Ort zusammenarbeiten. Hier gibt es sowohl sehr große transnationale Organisationen, wie Save the Children oder Ärzte ohne Grenzen, als auch kleinere mit regionaler oder nationaler Reichweite. Eine zunehmende Rolle spielen auch Akteure der Privatwirtschaft, wie die IKEA Foundation oder die Bill und Melinda Gates Stiftung.

Herausforderungen für die humanitäre Hilfe

Der Humanitarismus als zunehmend institutionalisierte Form internationaler Hilfsbereitschaft und Solidarität bekam 1863 mit der Gründung des IKRK einen organisationalen Rahmen. Diese ging auf den Schweizer Henry Dunant zurück, der 1859 spontan Hilfe für verwundete Soldaten in der Schlacht von Solferino organisiert und erstmals eine Trennung von Politik und Hilfe für Kriegsverletzte gefordert und damit die Grundlage für die humanitären Prinzipien gelegt hatte.

Während zentrale Grundsätze und Überzeugungen Dunants noch heute die Arbeit prägen, ist das humanitäre Hilfssystem stark gewachsen und hat sich zunehmend institutionalisiert und professionalisiert. Eine Herausforderung für die humanitäre Hilfe bleibt der Umgang mit ihrer Instrumentalisierung und Politisierung, aber auch das Eingestehen eigener Fehler und die Lehren daraus. Ein besonders prägendes Beispiel dafür ist der Genozid in Ruanda in den 1990er Jahren. Die politischen Dimensionen von Nahrungsmittelhilfe und Kriegsökonomie führten zu ethischen Dilemmata für Hilfsakteure, denn unter den Geflüchteten, die in den Camps von Hilfsorganisationen mit Nahrungsmitteln und Medizin versorgt wurden, waren auch "Genozidäre". Auf die schwierige Frage, ob humanitäre Hilfe Krieg oder Gewalt verlängert, haben Hilfsakteure mit dem Ethos do no harm ("keinen Schaden anrichten") reagiert. Ähnlich dem hippokratischen Eid soll der Grundsatz diese Form der Instrumentalisierung von Hilfe reduzieren und gilt als zentraler normativer Anspruch.

Greifbar werden die Dilemmata politischer Vereinnahmung humanitärer Hilfe beispielsweise in Interventionen wie in Afghanistan, im Sahel-Raum oder in Syrien. Vor allem mit dem "Krieg gegen den Terror" wurden Hilfsorganisationen in den des Terrorismus verdächtigen Ländern unter Druck gesetzt, mit ihrer Arbeit die hearts and minds der Bevölkerung zu gewinnen und als "Helfer*innen in Uniform" zu einem außenpolitischen Stabilisierungsnarrativ beizutragen. Ähnliche Motive finden sich aktuell auch in Hilfsinterventionen in der Sahel-Region. Dort knüpfen staatliche oder multilaterale Geber ihre humanitären Mittel einerseits an sicherheitspolitische Interessen und andererseits an Migrationsmanagement oder -abwehr. Auch in Syrien wird humanitäre Hilfe instrumentalisiert und politisiert, indem das Regime von Präsident Baschar al-Assad Krankenhäuser und Helfer*innen angreift.

Herausforderungen birgt auch das kontroverse Verhältnis zwischen Medien und Hilfsorganisationen. Die Berichterstattung über den Sezessionskrieg in Biafra (Nigeria) in den 1960er Jahren oder den Tsunami 2004 steht stellvertretend für den Zwiespalt: Zum einen sind Hilfsorganisationen auf eine bildreiche Darstellung der Katastrophe angewiesen, um Spenden zu sammeln. Zum anderen sorgt der "CNN-Effekt" dafür, dass manche Krisen überproportional repräsentiert sind oder Notleidende objektifiziert und instrumentalisiert werden, um Sympathien und Hilfslieferungen zu erzwingen.

Der Machtmissbrauch durch humanitäre Helfer*innen nach dem Erdbeben in Haiti 2010, als sexuelle Gewalt und Korruptionsfälle zu einem fundamentalen Vertrauensverlust der haitianischen Bevölkerung in internationale Strukturen führten, steht stellvertretend für die dunkelsten Ausmaße, die ressourcenreiche Hilfsoperationen in armen Regionen annehmen können. In der Folge wurden Selbstverpflichtungen wie die Core Humanitarian Standards (2014) formuliert und bessere Beschwerdemechanismen und Rechenschaftslegung gefordert.

Deutschland als Akteur

Als mittlerweile zweitgrößter bilateraler Geber etwa für den zentralen UN-Nothilfefonds hat die Bundesrepublik sich vor allem in finanzieller Hinsicht zum Schwergewicht der humanitären Hilfe entwickelt. Seit dem Jahr 2000 ist das finanzielle Engagement Deutschlands für humanitäre Hilfe um etwa 2.000 Prozent auf rund 2,1 Milliarden Euro 2020 gestiegen. Durch verschiedene Großkrisen, wie in Syrien oder im Jemen, aber auch im Zuge der Covid-19-Pandemie hat der Bundestag in großem Umfang außerplanmäßige Mittel für humanitäre Hilfsmaßnahmen freigegeben.

Für die Umsetzung der Hilfe im Ausland vergibt die Bundesregierung finanzielle Mittel an Partnerorganisationen. Größte Empfängergruppe sind mit 74 Prozent UN-Agenturen wie WFP, UNHCR oder UNICEF. Etwa 12 Prozent der Mittel gehen an Rotkreuz- und Rothalbmondorganisationen und 13 Prozent an NGOs. Teilweise wird die Ausführung von Hilfsmaßnahmen auch an die staatlichen Ausführungsorganisationen übertragen. Das THW beispielsweise unterstützt mit Expertise, Personal und technischem Material in Form von schnellen Einsatzteams, beim Aufbau von Camp-Strukturen und Einsatzzentralen oder Erhebungs- und Erkundungsteams.

Deutsche zivilgesellschaftliche Akteure sind international vor allem bekannt für ihre langjährige Zusammenarbeit und Vernetzung mit Partnerorganisationen. Sie sammeln Spenden und gestalten die Hilfsprogramme gemeinsam mit Partnern vor Ort. Zugleich sind deutsche NGOs weniger in extrem schwierigen Kontexten, wie aktiven Kriegsgebieten, präsent. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen eher auf Fundraising oder Projektzusammenarbeit.

Innerhalb der Bundesregierung ist das Auswärtige Amt (AA) mit der Abteilung für Krisenprävention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge und Humanitäre Hilfe vorrangig zuständig. Weiterhin übernimmt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit der entwicklungsorientierten Not- und Übergangshilfe eine wichtige Schnittstelle zu längerfristigen strukturbildenden Entwicklungsprogrammen. Die aktuelle humanitäre Strategie des AA setzt Schwerpunkte in den Bereichen Innovation, "vergessene" Krisen und humanitärer Zugang. Zentrale inhaltliche Akzente setzt sie beim Thema Schutz von Zivilist*innen in Form von physischem Schutz vor Gewalt, rechtlichem Schutz und technologischem Schutz in Bezug auf sensible personenbezogene Daten.

In der humanitären Debatte wird das deutsche Engagement teilweise kritisch kommentiert. Denn insbesondere im Vergleich zu anderen großen humanitären Gebern verfügt die Bundesrepublik über wenig humanitär ausgebildetes Personal. Das gilt sowohl für das AA in Berlin als auch für die Botschaften. Beispielsweise im Südsudan, dem viertgrößten Empfängerland internationaler humanitärer Hilfe, ist in der deutschen Botschaft keine dezidiert humanitäre Expertise vorhanden. Die mangelnde Expertise wird als ein Grund für die Ausbaufähigkeit der strategischen Ausrichtung und Effizienz der deutschen humanitären Hilfe wahrgenommen. Insbesondere durch geopolitische Veränderungen, etwa dass die USA während der Präsidentschaft Donald Trumps humanitäre Hilfe weiter instrumentalisiert haben oder das Vereinigte Königreich eine explizit interessengeleitete Ausrichtung der Hilfe ankündigt hat, richtet man international große Hoffnungen und Erwartungen an Deutschland. In Zeiten, in denen Multilateralismus durch Nationalismus oder Populismus stärker unter Druck gerät, sind die Erwartungen an die Bundesrepublik als "ehrliche Maklerin" und Verfechterin der globalen Normen gestiegen. Noch kann Deutschland im Lichte vorhandener Kapazitäten oder eigener politischer Zielkonflikte diese Erwartungen nur teilweise erfüllen, etwa im Feld der Migrationspolitik. Überdies sind nur wenigen Menschen in der breiten Öffentlichkeit die Handlungslogik, Rahmenbedingungen und kritischen Diskurse humanitärer Hilfe oder ihre Abgrenzung von verwandten Fachbereichen wie der Entwicklungszusammenarbeit oder der Friedensförderung geläufig. Gleichzeitig unterstützt laut Umfragen eine breite Mehrheit der Bevölkerung das humanitäre Engagement Deutschlands.

Aktuelle Reformen

Humanitäre Hilfe wird häufig unter extremen Bedingungen geleistet, sodass Hilfsakteure immer wieder gefordert sind, Lösungen zu finden und Reformen anzustoßen. 2016 versammelten sich zentrale Akteure zum Humanitären Weltgipfel in Istanbul, um grundlegende Veränderungen für ein faireres, effizienteres und effektiveres humanitäres System zu beschließen. Im sogenannten Grand Bargain sind zehn Selbstverpflichtungen festgehalten, zu denen unter anderem der Ausbau von bargeldbasierten Hilfsprogrammen, die stärkere Verzahnung mit Friedens- und Entwicklungsprojekten und eine Machtverschiebung zugunsten von Hilfsakteuren aus den betroffenen Ländern gehören.

Bargeldbasierte Hilfsprogramme sind ein deutlich wachsender Trend. Bargeldhilfen werden meist mittels elektronischer Überweisung direkt ausgezahlt und fördern die lokale Nachfrage und Wirtschaft. Wo immer dies möglich ist, haben sich Bargeldhilfen als eine effiziente Form der Hilfe erwiesen, die geringere Transaktionskosten hat, da teure Hilfsgüter nicht eingeflogen oder aufwendig durch Organisationen beschafft werden müssen. Zudem können die Empfänger*innen ihre dringendsten Bedarfe eigenverantwortlich und würdevoll decken. Seit 2016 hat sich das Volumen von Bargeldhilfen verdoppelt. 2019 wurden rund 18 Prozent aller humanitären Hilfe, also rund 4,5 Milliarden Euro, in Form von Bargeldhilfen ausgezahlt. Allerdings werden Cash-Programme immer umfangreicher und großvolumiger, sodass große UN-Agenturen wie WFP oder UNHCR deutlich häufiger die Zuschläge von Gebern erhalten – auf Kosten der kleineren Hilfsakteure.

Durch eine stärkere Verzahnung von humanitärer Hilfe mit Entwicklungs- und Friedensprogrammen sollen Synergien und Anknüpfungspotenziale zwischen den verschiedenen Formen der internationalen Zusammenarbeit geschaffen werden. Besonders in fragilen Kontexten klingt dieses Konzept verlockend, wo internationale Zusammenarbeit teils seit Jahrzehnten versucht, Leid zu lindern und Entwicklung zu fördern. So sinnvoll dieser Humanitarian-Development-Peace-Nexus auch klingt, in der Praxis führt er zu großen Herausforderungen, da humanitäre Akteure etwa die Prinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit in Gefahr sehen. Insbesondere die Sahel-Region zeigt, dass es statt punktuell sinnvoller Koordination eher zu einer Vermischung von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe mit Migrationsabwehr, Stabilisierungsmissionen und Antiterrormaßnahmen kommt, die für die Bevölkerung wenig Nutzen bringt und Helfer*innen in Gefahr bringen könnte.

Die Machtverschiebung hin zu regionalen, nationalen und lokalen Organisationen des globalen Südens wird im Jargon "Lokalisierung" genannt und meint, dass sowohl die lokalen Akteure direkter finanziert werden und mehr Mitspracherecht erhalten als auch eine größere Anerkennung ihrer Beiträge stattfindet. Die Selbstverpflichtung des Grand Bargain war es, 25 Prozent der Mittel für humanitäre Hilfe so direkt wie möglich, also über maximal einen Zwischenempfänger, nationalen und lokalen Akteuren zur Verfügung zu stellen. Noch wichtiger ist jedoch die größere Anerkennung der Rolle nationaler und lokaler Organisationen aus den betroffenen Ländern: Über 90 Prozent der Hilfskräfte sind lokale Helfer*innen, die häufiger unter risikoreichen Bedingungen arbeiten, schlechter bezahlt und häufiger Opfer von Gewalt werden als ihre Expat-Kolleg*innen. Neben verstärkter Sichtbarkeit und Repräsentanz geht es auch um die Problematisierung des Bildes des "weißen Helfertums" (white saviorism) und der Auseinandersetzung des Sektors mit Dekolonisierung und der Fortschreibung von Fremdbestimmung und Imperialismus.

Schluss

Auf das humanitäre System kommen schwierige Zeiten zu. Multilateralismus und globale Normen geraten durch erstarkenden Nationalismus und Populismus unter Druck. Beispielsweise zeigen die Verhandlungen im UN-Sicherheitsrat, dass es weniger Konsens gibt über die ethische Selbstverständlichkeit, Menschen, die infolge von Gewaltkonflikten oder Naturkatastrophen in eine humanitäre Notlage geraten, international zu helfen. Hinzu kommt eine gewaltige Finanzierungslücke, die voraussichtlich steigen wird. Denn mit 235 Millionen Menschen werden 2021 40 Prozent mehr auf humanitäre Hilfe angewiesen sein als im Jahr davor, während durch die Covid-19-Pandemie die Geberländer selbst unter Druck geraten.

Gleichzeitig reagiert das humanitäre System auf diesen Druck mit den beschriebenen Innovationen und Reformprozessen und bot das Jahr 2020 auch die Chance für ein Innehalten des humanitären Hilfssystems insgesamt. Durch die Covid-19-Pandemie wurde die kollektive Vulnerabilität aller Länder betont. Aufgrund geschlossener Grenzen konnten viele westliche Nothelfer*innen nicht in ihre Projektgebiete fliegen. Lokale Organisationen, die ohnehin Zugang haben und über Vor-Ort-Kenntnisse verfügen, waren ganz offensichtlich in der günstigeren Position, um zu helfen. Und manche europäische Staaten konnten sich von den afrikanischen Partnern – geübt in der Triage der multiplen Krisenbewältigung – in Bezug auf Infektionskontrolle und Katastrophenmanagement einiges abschauen. Dies bietet neue Möglichkeiten für eine kollektive Verantwortung, Menschen in einer humanitären Notlage zu helfen sowie für mehr Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), Global Humanitarian Needs Overview 2020, Genf 2019.

  2. Siehe Externer Link: http://www.unocha.org/yemen/crisis-overview.

  3. Vgl. UN Dok. UN/POP/MIG-15CM/2017/14, S. 2.

  4. Vgl. OCHA, World Humanitarian Data and Trends 2018, New York 2018, S. 2.

  5. Vgl. Heike Spieker, The Right to Give and Receive Humanitarian Assistance, in: Hans-Joachim Heintze/Andrej Zwitter (Hrsg.), International Law and Humanitarian Assistance, Berlin–Heidelberg 2011, S. 7–31.

  6. Vgl. Véronique Barbelet, Rethinking Capacity and Complementarity for a More Local Humanitarian Action, Overseas Development Institute, Humanitarian Policy Group Report, October 2019.

  7. Vgl. Peter Walker/Daniel G. Maxwell, Shaping the Humanitarian World, New York 2009.

  8. Vgl. Zeynep Sezgin/Dennis Dijkzeul (Hrsg.), The New Humanitarians in International Practice, New York 2016.

  9. Vgl. Fiona Terry, The Paradox of Humanitarian Action, Ithaca 2002; Ulrike von Pilar, Die Instrumentalisierung der Humanitären Hilfe, in: Peter Runge/Wolf-Dieter Eberwein (Hrsg.), Humanitäre Hilfe statt Politik?, Münster 2002, S. 163–188.

  10. Vgl. Antonio Donini (Hrsg.), The Golden Fleece: Manipulation and Independence in Humanitarian Action, Sterling 2012.

  11. Vgl. Mary B. Anderson, Do No Harm: How Aid Can Support Peace – Or War, Boulder 1999.

  12. Vgl. Andrea Steinke, Haiti Ten Years After Douz Janvye, Centre for Humanitarian Action, Januar 2020.

  13. Vgl. Mark Schuller, Humanitarian Aftershocks in Haiti, New Brunswick 2016.

  14. Vgl. Bundestags-Drucksache (BT-Drs.) 19/5720, 12.11.2018, S. 11.

  15. Vgl. Martin Quack, Herausforderung Humanitäre Hilfe, Berlin 2016.

  16. Vgl. Lioba Weingärtner/Ralf Otto, Die deutsche humanitäre Hilfe, in: Jürgen Lieser/Dennis Dijkzeul (Hrsg.), Handbuch Humanitäre Hilfe, Berlin–Heidelberg 2013, S. 127–146.

  17. Vgl. Auswärtiges Amt, Strategie des Auswärtigen Amts zur humanitären Hilfe im Ausland 2019–2023, Berlin 2019.

  18. Vgl. BT-Drs. 19/23978, 4.11.2020, S. 2f.

  19. Vgl. Daniel Brössler, Personalmangel im Auswärtigen Amt, 7.6.2019, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.4477442; Ralf Südhoff/Sonja Hövelmann/Andrea Steinke, The Triple Nexus in Practice, Berlin 2020; Development Initiatives, Global Humanitarian Assistance Report 2020, London 2020.

  20. Vgl. Ralf Südhoff, Global Player ohne Plan, 7.4.2020, Externer Link: http://www.chaberlin.org/blog/global-player-ohne-plan.

  21. Vgl. Samuel Sharp, To Promote Open Societies Globally, the FCDO Must Be More Realistic, Politically Savvy and Self-Aware, 3.12.2020, Externer Link: http://www.odi.org/blogs/17635-promote-open-societies-globally-fcdo-must-be-more-realistic-politically-savvy-and-self-aware.

  22. Vgl. Ralf Südhoff/Sonja Hövelmann, Where Does German Humanitarian Assistance Stand?, Centre for Humanitarian Action, März 2019; ders. (Anm. 20).

  23. Vgl. Martin Quack, Vor welchen Fragen steht die humanitäre Hilfe?, Maecenata Stiftung, Observatorium 25/2018.

  24. Vgl. Bild des "weißen Helfers" noch immer präsent, 17.8.2020, Externer Link: http://www.aktion-deutschland-hilft.de/de/fachthemen/news/bild-des-weissen-helfers-noch-immer-praesent; Welthungerhilfe, Die Haltung der Deutschen zur Entwicklungspolitik, Bonn 2020.

  25. Vgl. UN Dok. A/70/709.

  26. Vgl. The State of the World’s Cash 2020, The Cash Learning Partnership, Juli 2020.

  27. Vgl. Emmanuel Tronc/Rob Grace/Anaide Nahikian, Realities and Myths of the "Triple Nexus", Boston 2019; Südhoff/Hövelmann/Steinke (Anm. 19).

  28. Vgl. Venro, Lokalisierung in der Humanitären Praxis, Berlin 2020.

  29. Vgl. Barbelet (Anm. 6).

  30. Vgl. Abby Stoddard/Paul Harvey/Monica Czwarno, Aid Worker Security Report 2020, London 2020.

  31. Vgl. Salla Turunen, Close Your Eyes and Picture "a Humanitarian". What Do You See?, 2020, Externer Link: http://www.cmi.no/publications/7343.

  32. Vgl. etwa UN-Sicherheitsrat billigt beschränkte Verlängerung von Syrien-Hilfe, 12.7.2020. Externer Link: http://www.welt.de/article211471741.

  33. Vgl. OCHA, Global Humanitarian Overview 2021, New York 2020.

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ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Humanitarian Action in Berlin. E-Mail Link: sonja.hoevelmann@chaberlin.org