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Werte oder Interessen? | China(kompetenz) | bpb.de

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Werte oder Interessen? Maximen deutscher und europäischer Chinapolitik

Ying Huang

/ 17 Minuten zu lesen

Der Balanceakt zwischen Werte- und Interessenpolitik ist die wichtigste Leitlinie der deutschen Chinapolitik unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (seit 2005). Er soll einen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen und strategischen Interessen auf der einen und politischen Werten wie der liberalen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten auf der anderen Seite schaffen. Dieser Ausgleich stellt sich jedoch bereits im Umgang mit den transatlantischen Partnern regelmäßig als Herausforderung dar, umso schwerer fällt er bei einem Partner wie China, dessen Wertvorstellungen, System und soziale Identität sich so sehr von deutschen und europäischen unterscheidet. Das Pendel zwischen Realismus und Ideologie schwingt in den vergangenen Jahren jedoch immer stärker in Richtung Interessenpolitik, und die Grundlage hierfür ist allen voran der gewaltige chinesische Markt.

2019 wurde China zum vierten Mal in Folge der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Allein in dem Jahr gingen Exporte im Wert von 96 Milliarden Euro nach China – ein Wert, der sich seit 2007 mehr als verdreifacht hat. Von wirtschaftlichem Wachstum befeuert, wächst die Bedeutung Chinas auf der globalen Ebene zunehmend, sodass es fraglich bleibt, inwiefern es zukünftig noch zu einem Ausgleich kommen kann, wenn sich das globale Machtverhältnis immer weiter verschiebt. Dieser Konflikt spiegelt sich in der deutschen Chinaperzeption wider. In den vergangenen Jahren hat sich nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Politik und in Expertenkreisen eine immer kritischere Einstellung zu China herauskristallisiert.

Diese Einstellung wurde 2019 in einem Grundsatzpapier des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) zusammengefasst: China gilt für Deutschland nach wie vor als wirtschaftlicher Partner, ist nun jedoch gleichzeitig auch systemischer Wettbewerber, weil Chinas staatlich gelenkte Volkswirtschaft in einem starken Gegensatz zu der (sozialen) marktwirtschaftlichen Ordnung Deutschlands und Europas steht. Die EU stimmt mit der deutschen Wahrnehmung überein und konstatierte im März 2019 erstmals, dass China zwar ein Kooperations- und Verhandlungspartner, aber zugleich ein wirtschaftlicher Konkurrent im Streben nach einer technologischen Führungsrolle und ein systemischer Rivale mit einem alternativen Regierungsmodell sei.

Der Balanceakt wird für Deutschland folglich immer komplizierter. Je wichtiger China für Deutschland und die EU wird, desto schwieriger wird es, eine Übereinstimmung zwischen Wirtschaftsinteressen und Menschenrechten zu erzielen.

Chinapolitik vor der Wiedervereinigung

Nach der Gründung der Volksrepublik China im Oktober 1949 nahm diese rasch mit dem anderen, wenig später neu gegründeten kommunistischen Staat, der DDR, diplomatische Beziehungen auf. Die bilateralen Beziehungen waren dabei stark von den sino-sowjetischen Beziehungen abhängig, denn Ost-Berlin konnte im Gegensatz zu Beijing keine unabhängige Außenpolitik betreiben. Als die sino-sowjetischen Beziehungen aufgrund ideologischer Risse, Interessengegensätzen und Grenzkonflikten ab den 1960er Jahren graduell in die Brüche gingen, kühlten auch die bilateralen Beziehungen zwischen der DDR und China ab.

Die Verschlechterung der sino-sowjetischen Beziehungen, gepaart mit der US-amerikanisch-chinesischen Entspannungspolitik, eröffnete wiederum der Bundesrepublik Deutschland 1972 die Tür zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu China. Dies erleichterte Bonn den Zugang zum chinesischen Markt. Die bilateralen Beziehungen erreichten mithilfe einer Kombination aus Wirtschaftskooperation, technischer und finanzieller Zusammenarbeit ihren Höhepunkt zwischen 1978 und 1989.

Für die US-amerikanische und damit auch für die westdeutsche Außenpolitik war China ein Gegenpol zur Sowjetunion. Diesen strategischen Stellenwert verlor China jedoch mit dem nahenden Ende des Ost-West-Konflikts, der Fokus verschob sich auf die Wirtschaft. Diese Entwicklung wurde 1989 nach der Niederschlagung der Studentenbewegung auf dem Tiananmen-Platz durch die Auseinandersetzung um die Menschenrechtsfrage überschattet. Zwar wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und Beijing nicht eingestellt, das Verhältnis kühlte sich aber deutlich ab.

Vom Werteübermaß zum Interessenübermaß

"Tiananmen" führte aufgrund einer Vielzahl wirtschaftlicher Sanktionen zur internationalen Isolierung Chinas. Es löste auch eine Richtungsdebatte innerhalb Deutschlands aus, in der die Wertekomponente – ausgelöst durch die Menschenrechtsfrage – über der außenwirtschaftlichen Komponente lag.

Eine Normalisierung wurde erst 1992 erreicht, als die Bundesregierung darauf verzichtete, Menschenrechts- und Wirtschaftsfragen im Umgang mit China aneinander zu koppeln, und die "Ein-China-Politik" hervorhob. Des Weiteren wurde im Asien-Konzept der Bundesregierung ein Jahr später trotz der kritischen Menschenrechtslage die besondere wirtschaftliche Bedeutung Chinas hervorgehoben. Die angewandte "stille Diplomatie" führte jedoch nur vorläufig zu einer Entspannung, denn nun musste man sich mit dem anwachsenden innenpolitischen Druck auseinandersetzen. Der weiterhin chinakritische Bundestag beschloss 1996 die Tibet-Resolution, in der den chinesischen Behörden schwere Menschenrechtsverletzungen und Benachteiligung der tibetischen Bevölkerung vorgeworfen wurden. Zudem sprach man von einer "tibetischen Exilregierung" und widersprach somit der traditionellen Ein-China-Politik. Die Regierung unter Helmut Kohl (1982–1998) stand damit von zwei Seiten unter Druck, da China politische Zurückhaltung in der Tibet-Frage verlangte. Ein Mittelweg war nicht ersichtlich, die Menschenrechtsfrage wurde letztlich ein weiteres Mal zugunsten der außenwirtschaftlichen Interessen der Bundesregierung zurückgestellt.

Die Regierung unter Gerhard Schröder (1998–2005) versuchte zu Beginn, der innenpolitischen Kritik Gehör zu schenken und die Menschenrechtspolitik zu betonen. Vor allem Außenminister Joschka Fischer war ein Befürworter einer wertegeleiteten Außenpolitikstrategie – eine Position, die in den folgenden Jahren oft zu Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung führen sollte. Sein Empfang des chinesischen Dissidenten Wei Jingsheng belastete die bilateralen Beziehungen beider Nationen bereits im ersten Jahr. 1999 entspannte sich die Lage mit der "Entschuldigungsreise" Schröders wieder, der als Vertreter der EU nach Beijing reiste, um sich für den Nato-Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad zu entschuldigen. Im Gegensatz zu seinem Außenminister vertrat der Bundeskanzler eine stark wirtschaftsorientierte Außenpolitik. Bei seinen fast jährlichen Chinabesuchen wurde er meist von einer großen Wirtschaftsdelegation begleitet. Zudem wurde der sogenannte Rechtsstaatsdialog eingeführt, der für die bilateralen Beziehungen die wahrscheinlich wichtigste Initiative Schröders war und eine maßgebliche Rolle für den Ausbau der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen spielte. Der Rechtsstaatsdialog sollte eine Plattform sein, in der heikle Themen wie die Menschenrechtsfrage behandelt werden. Dadurch wurde die Wertepolitik aus den offiziellen Zusammentreffen "ausgeklammert", sodass man sich auf die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen konzentrieren konnte.

Zusammen mit dem französischen Präsidenten Jaques Chirac bemühte sich Schröder auch um die Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China. Obwohl dieser Einsatz am Widerstand der USA und der fehlenden Einigkeit innerhalb Deutschlands und der EU scheiterte, wurden das gegenseitige Vertrauen und die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und China weiter ausgebaut. Außenpolitik war zu dieser Zeit "Chefsache" und wurde hauptsächlich im Kanzleramt anstatt im Auswärtigen Amt entwickelt. Fischer mit seiner menschenrechtsbetonten Chinapolitik geriet dabei immer mehr in den Hintergrund. Chinas globale Rolle entwickelte sich weiter, und die wirtschaftliche Beziehung wurde zu einer strategischen Partnerschaft ausgebaut.

Somit haben sowohl die Regierung Kohl als auch die Regierung Schröder zunächst versucht, den innenpolitischen und öffentlichen Forderungen nach einer werteorientierten Chinapolitik nachzukommen, dennoch sahen beide Regierungen in den bilateralen Beziehungen zu China schlussendlich vor allem die wirtschaftliche Bedeutung des chinesischen Marktes. Der Versuch einer werteorientierten Außenpolitik endete bei beiden in einem Interessenübermaß.

Das Pendel schwingt

Mit einer klar ablehnenden Haltung gegenüber der Aufhebung des EU-Waffenembargos distanzierte sich Merkel von der wirtschaftsfokussierten Außenpolitik Schröders und signalisierte einen Richtungswechsel in der Chinapolitik. Bereits bei ihren ersten drei Chinabesuchen thematisierte sie offen die Bedeutung der Menschenrechte, wodurch die bilateralen Beziehungen anfingen, zu schwanken. Auch dass sie sich als erste deutsche Regierungschefin mit dem Dalai Lama 2007 im Kanzleramt traf, machte der deutschen Öffentlichkeit den Richtungswechsel deutlich. Hierdurch mehrte sie nicht nur ihr Ansehen in der deutschen und internationalen Gesellschaft, sondern verstärkte auch ihr außenpolitisches Profil gegenüber dem eigenen Koalitionspartner. Die SPD – vor allem vertreten durch Außenminister Frank-Walter Steinmeier – trat weiterhin für eine "stille Diplomatie" im Umgang mit China ein und wollte die Linie Schröders fortführen, wodurch es innerhalb der Bundesregierung wiederholt zu Unstimmigkeiten kam. Doch diese führten in der Folge auch zu einer Balance in der deutschen Außenpolitik, denn durch die diplomatischen Bemühungen Steinmeiers und einem klaren Bekenntnis Berlins zur Ein-China-Politik entspannte sich der von dem Empfang des Dalai Lama ausgelöste Konflikt mit China. Merkel verzichtete im Nachgang auf ein weiteres Treffen mit diesem, um Konflikte mit dem Koalitionspartner, der chinesischen Regierung und den deutschen Wirtschaftsverbänden zu vermeiden.

In der Asienstrategie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion von 2007 ist hingegen eine kritische Sicht auf Beijing vorherrschend. Die Union nahm an, dass China dem Westen in zunehmendem Maße die Systemfrage stelle und sein alternatives politisches Ordnungsmodell die wirtschaftlichen und politischen Interessen Deutschlands herausfordere. Aus diesem Grund versuchte man, die Zusammenarbeit mit Demokratien in Asien zu verstärken und von einem Fokus auf China Abstand zu nehmen.

Im folgenden Jahr kam es zu weiteren Unruhen in Tibet; auch der Eklat um den symbolträchtigen Fackellauf durch Tibet vor Beginn der Olympischen Sommerspiele 2008 spannte die Lage zwischen beiden Nationen wieder an. Die Spannung löste sich erst 2010, als Merkel in ihrer zweiten Amtszeit ein viertes Mal nach China reiste. Diese vierte Reise war der Startschuss für einen erneuten Richtungswechsel in der deutschen Chinapolitik und legte den Grundstein für die nächsten Jahre. Beide Staaten veröffentlichten ein gemeinsames Kommuniqué, um die bilaterale Partnerschaft umfassend voranzutreiben. Zudem wurden Handelskooperationsvereinbarungen im Wert von mehr als vier Milliarden US-Dollar unterzeichnet, um die wirtschaftliche Kooperation weiter auszubauen. Angesichts der damaligen Herausforderungen versprach Beijing "Vertrauen in den Euro", Unterstützung bei der Bewältigung der Eurokrise sowie engere Zusammenarbeit beim Klimaschutz.

Seit 2011 ging die strategische Partnerschaft mit mehreren Regierungskonsultationen zwischen beiden Ländern einen Schritt weiter. Dieser Regierungsdialog höchsten Ranges wird nur mit besonders engen Partnern geführt; 2014 wertete er die strategische Partnerschaft zu einer umfassenden strategischen Partnerschaft auf. Deutschland und China betrachten sich seither als langfristige Partner, die gegenseitiges politisches Vertrauen aufgebaut haben. Die umfassende strategische Partnerschaft verfolgte das Ziel, einen Nutzen aus der gegenseitigen Entwicklung zu ziehen und die bestehenden Dialog- und Kooperationsformate auf Regierungsebene kontinuierlich zu vertiefen.

Zum 45. Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen erreichte das gemeinsame Verhältnis 2017 trotz aller Meinungsverschiedenheiten bei der Menschenrechtsfrage seinen Höhepunkt. Sowohl die chinesische Unterstützung beim G20-Gipfel in Hamburg als auch die Übergabe eines Pandapärchens für den Berliner Zoo trugen zur weiteren Vertiefung der Partnerschaft bei. Beide Länder teilten die gemeinsame Überzeugung, dass sie in Zeiten globaler Unsicherheit die multilaterale Weltordnung erhalten und stärken und ihre Zusammenarbeit sowohl im Cyberbereich als auch im Kampf gegen den internationalen Terrorismus verstärken würden. Mit der zunehmenden Instabilität der transatlantischen Beziehungen gewannen die bilateralen Beziehungen globale Dimensionen. Während die USA eine Eindämmungspolitik gegenüber China betrieben, setzte sich die Bundesregierung hauptsächlich für die weitere Einbindung Chinas in eine regelbasierte internationale Ordnung ein. Aus den Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer versucht Deutschland, sich weitgehend herauszuhalten und einen Alleingang gegenüber China zu vermeiden, um die Beziehungen trotz des Interessenkonflikts nicht zu belasten.

Bundeskanzlerin Merkel hat den für deutsche Bundesregierungen typischen Weg eingeschlagen – ihre Chinapolitik ist seit ihrer zweiten Amtszeit pragmatischer geworden. Nach einer angespannten und stark werteorientierten Chinapolitik wechselte sie mit ihrem vierten Chinabesuch allmählich zu einer interessenorientierten Chinapolitik. Aus einem systemischen Herausforderer wurde im Zeitverlauf ein umfassender strategischer Partner. Merkel führte Regierungskonsultationen ein und arbeitete mit China zusammen, um das Land in die internationale Ordnung zu integrieren und gemeinsam globale Herausforderungen zu bewältigen.

Aktuelle Herausforderungen

2016 und 2017 wurden zahlreiche Unternehmen in Deutschland von chinesischen Investoren übernommen. Doch als der führende Roboterhersteller Kuka 2016 vom chinesischen Mischkonzern Midea übernommen wurde, gerieten die chinesischen Direktinvestitionen in Deutschland zunehmend in Kritik. Die Bundesregierung verschärfte deshalb 2018 die Außenwirtschaftsverordnung. Man befürchtete, dass die Übernahme kurzfristig in der Lage wäre, Arbeitsplätze zu sichern und neue Märkte zu erschließen, aber sich langfristig aufgrund des Verlusts von Kern-Know-How negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationskraft der deutschen Industrie auswirken würde. Des Weiteren wurde die staatliche Kontrolle von Übernahmen sicherheitsrelevanter Unternehmen im Bereich der Rüstung oder kritischen Infrastruktur für die nationale Sicherheit und Ordnung notwendig. Dies bestätigte sich im Dezember 2020, als die Bundesregierung die Übernahme der IMST GmbH – einer Spezialistin für 5G-, Satelliten- und Radartechnik – durch den chinesischen Rüstungskonzern Addsino stoppte, weil diese die Sicherheit und technologische Souveränität Deutschlands im Bereich künftiger Mobilfunksysteme bedrohen könnte. Chinesische Investitionen wurden für Deutschland folglich zu einer Gratwanderung. Auf der einen Seite möchte man sich nicht von der Wirtschaftsdynamik Chinas abkoppeln, auf der anderen Seite will man seinen Wettbewerbsvorteil und seine Zukunftsfähigkeit nicht durch den Abfluss des deutschen Know-Hows verlieren.

Eine weitere Herausforderung entstand durch die seit 2013 von China betriebene Seidenstraßeninitiative. Zu Beginn wegen der verbesserten Konnektivität und der Erschließung von Drittmärkten begrüßt, brachte sie schnell Interessenkonflikte mit sich. Die Ausschreibungen an Projekten der Seidenstraßeninitiative waren für die Bundesregierung zu intransparent, und die USA sah in der Gründung der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) eine ernste Konkurrenz zur Weltbank und Asiatischen Entwicklungsbank. Entsprechend negativ wurde die deutsche Beteiligung an der AIIB von den USA gesehen und zum Streitpunkt zwischen den beiden Nationen.

Das "16+1"-Kooperationsformat sorgte für Spannungen in der EU. Dieses ist eine 2012 geschaffene Plattform zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen 16 mittel- und osteuropäischen Staaten und China, die elf EU-Länder und fünf EU-Beitrittskandidaten umfasst. Kritiker des Formats befürchteten eine zunehmende Abhängigkeit mancher Länder von China und ein erhöhtes Konfliktpotenzial innerhalb der EU, wenn einige EU-Mitgliedstaaten mittels ihres engen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisses zu China ihre Verhandlungsposition in Brüssel stärken. Vor allem die von der Plattform ausgeschlossenen westeuropäischen Länder sahen in dem Format eine Intervention in ihren geopolitischen Raum und eine Aushöhlung der EU, weshalb der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel 2017 sogar von einer "Ein-Europa-Politik" sprach.

Auch der 5G-Infrastukturausbau durch Huawei stellt die aktuelle Chinapolitik auf den Prüfstand. Die Bundesregierung schwankt zwischen wirtschaftlichen Interessen im Infrastrukturausbau und sicherheitspolitischen Interessen bei der Kerninfrastruktur und im Datenschutz. Denn Kritiker befürchten, dass Huawei über seine Telekommunikationsprodukte eine Hintertür für Spionage und Sabotage schaffen könne. Die Ruhe für eine Interessenabwägung bleibt jedoch nicht. China droht Deutschland "mit Konsequenzen", wenn Huawei beim 5G-Ausbau nicht berücksichtigt wird, und die USA fordern von Deutschland eine Positionierung in der sino-amerikanischen Rivalität. Die Bundesregierung hat bis jetzt noch keine Entscheidung getroffen. Zwar betont man die Bedeutung der Offenheit des europäischen wie auch des chinesischen Marktes für ausländische Netzwerkausrüster und bemüht sich auf nationaler Ebene, Sicherheitsanforderungen für den 5G-Ausbau festzulegen, doch von einer eigenen Entscheidung in dieser prekären Situation möchte man absehen. Stattdessen schaut man nach Brüssel und wünscht sich eine Koordinierung aller EU-Mitgliedsstaaten, um ein gemeinsames Vorgehen beim 5G-Ausbau zu ermöglichen.

2020 brachte die Corona-Pandemie neue Herausforderungen mit sich. Das intransparente Verhalten der chinesischen Lokalregierung zu Beginn der Pandemie, der Tod des Arztes Li Wenliang als erster Whistleblower sowie der Streit um den Ursprung des neuartigen Coronavirus löste internationale Kritik aus. China bekam die Pandemie mittels strenger Maßnahmen in den Griff und erholte sich mit einem Wirtschaftswachstum von 4,9 Prozent bereits im dritten Quartal 2020. Wegen dieser schnellen Erholung blieb der chinesische Markt essenziell für die deutsche Industrie: 20 bis 25 Prozent aller Ausfuhren nach China kommen aus der Auto- und Maschinenbranche, die unter der Pandemie und den getroffenen Maßnahmen stark litten. Durch die Pandemie bezog Deutschland auch Medizinprodukte aus China, und die Abhängigkeit vom chinesischen Markt nahm zu. Zeitgleich warb China mit dem eigenen politischen System und stellte es beim Krisenmanagement demokratischen Systemen gegenüber, sodass der Systemkampf mit dem Westen neu entfacht wurde. Um eine zu starke Abhängigkeit von China zu vermeiden, veröffentlichte die Bundesregierung im September 2020 die Indo-Pazifik-Leitlinien, nach denen sie ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Asien verstärken und diversifizieren möchte.

Neue China-Strategie der EU

Die EU-Chinapolitik weist einige Parallelen zur deutschen Chinapolitik auf. Als eigenständige Institution pflegt die EU seit 1975 diplomatische Beziehungen mit China und wertete diese 2003 zu einer strategischen Partnerschaft auf. Wie die deutsch-chinesischen Beziehungen sind auch die EU-chinesischen Beziehungen von dem Balanceakt zwischen Werten und Interessen geprägt. Da die EU China als wichtigen wirtschaftlichen, politischen und geostrategischen Partner nicht verlieren möchte, muss sie konstant um konfliktträchtige Fragen zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sowie um eine Reihe von Wirtschafts-, Marktzugangs-, Regulierungs- und Handelsfragen manövrieren.

Mit dem "16+1"-Format schaffte Beijing jedoch ein eigenes Alternativformat für die mittleren und kleineren osteuropäischen Staaten. Statt mit der EU als drittgrößter Volkswirtschaft der Welt direkt zu verhandeln, kann China ebenso gut mit jedem Mitgliedsstaat einzeln verhandeln. Der fehlende Konsens innerhalb der EU und die Inkohärenz der EU-Chinapolitik verdeutlichen, dass die EU im Vergleich zu China kein Staat ist und nicht im gleichen Maße ihre wirtschaftliche und strategische Machtposition an den Verhandlungstisch bringen kann.

Um ihre Position zu verändern und mehr Kohärenz zu schaffen, wurde 2019 ein Strategiepapier veröffentlicht, wonach sich die europäische Chinapolitik neu orientieren sollte. China wurde nun nicht mehr als rein wirtschaftlicher Partner, sondern auch als wirtschaftlicher Konkurrent und systemischer Rivale betrachtet. Doch während der Rivalitätsgedanke in Europa zunahm, sah China in der EU einen notwendigen globalen Partner und eine Gegenmacht zur Dominanz der USA. EU-Ratspräsident Charles Michel warnte 2020 sogar, dass Europa zu einem globalen Spieler werden müsse, damit der Kontinent nicht zu einem Spielfeld in der sino-amerikanischen Rivalität werde.

Ein entscheidender Schritt wurde 2020 erreicht, als China zum ersten Mal der wichtigste Handelspartner für die EU wurde. Nach siebenjährigen Verhandlungen einigten sich die EU und China auf ein gemeinsames Investitionsabkommen. Die größte Herausforderung in dem Verhandlungsprozess lag darin, China zu überzeugen, die Hindernisse für den Marktzugang ausländischer Investitionen abzubauen und gegen unfaire Handels- und Wirtschaftspraktiken wie Industriesubventionen und den erzwungenen Technologietransfer vorzugehen. Um das Abkommen vor dem Amtsantritt des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden zum Abschluss zu bringen, machte China bezüglich des Marktzugangs und der Wettbewerbsbedingungen sowie bei den Streitthemen Zwangsarbeit und Klimaschutz wichtige Zugeständnisse. Dennoch bleiben einige europäische Beobachter skeptisch, weil das Verhandlungsergebnis hinter den europäischen Erwartungen zurückbleibt. Obwohl die Einigung nicht alle Probleme lösen konnte, zählt die Bundesregierung sie zu einem der größten Erfolge der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Merkel hat das Abkommen entscheidend vorangetrieben, um einen gleichberechtigten Marktzugang für deutsche Unternehmen zu schaffen, doch bleibt fraglich, wie sich die Einigung auf die transatlantischen Beziehungen auswirken wird und ob die die Zugeständnisse die bleibenden Probleme aufwiegen werden.

Fazit und Ausblick

Die internationale Ordnung durchläuft zurzeit einen tiefgreifenden Wandel, der die deutsche Außenpolitik vor große Herausforderungen stellt. Seit dem Amtsantritt von Staats- und Parteichef Xi Jinping 2012 tritt China außenpolitisch selbstbewusster auf der Weltbühne auf. Mit seinem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg fällt es China leicht, seine nationale Souveränität und seine territoriale Integrität zu verteidigen. Der Machtanspruch im Südchinesischen Meer, die neue Seidenstraßeninitiative und die Hongkong-Politik zeigen einen aktiven, für manche sogar offensiven und aggressiven Weg, der es Deutschland immer schwieriger machen wird, seine Werte und Interessen durchzusetzen. Beijing wird bezüglich Hongkong, Taiwan und Tibet keine Zugeständnisse machen, sodass die Menschenrechtsfrage immer wieder zu Konflikten führen wird. Die asymmetrische Machtposition zwischen Deutschland und China macht Außenpolitik auf Augenhöhe kaum möglich. Durch die europäische Einbindung erwirbt die deutsche Chinapolitik jedoch einen Hebel, durch den die relativ schwache Machtposition Deutschlands im Umgang mit China kompensiert werden kann. Dieser Hebel funktioniert allerdings nur, wenn die EU als Einheit auftritt und eine kohärente Chinapolitik erarbeitet.

Hinsichtlich der verschärften strategischen Rivalität zwischen den USA und China muss Berlin über seine Position nachdenken. Auf der einen Seite steht die transatlantische Werte- und Sicherheitsgemeinschaft, auf der anderen Seite die wirtschaftliche, politische und umfassende strategische Partnerschaft mit China.

Deutschland ist (wie die EU) weiterhin sicherheitspolitisch von den USA und der NATO abhängig, doch die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die transatlantischen Beziehungen nicht immer zuverlässig sind. Mit der Präsidentschaft Joe Bidens verbinden sich Hoffnungen darauf, die transatlantische Partnerschaft zu erneuern, auch im Hinblick auf eine strategische Chinapolitik. Sowohl Außenminister Heiko Maas (SPD) als auch die Fraktion der CDU/CSU im Bundestag sandten kürzlich entsprechende Signale.

China hat sich einerseits zu einem unverzichtbaren Kooperationspartner bei der Bewältigung globaler Herausforderungen entwickelt. Andererseits hat sich Chinas Position hat in den vergangenen Jahren kaum verändert. Zwar konnten Zugeständnisse im Investitionsabkommen und im Klimaschutz erreicht werden, doch der offensive außen- und innenpolitische Kurs der chinesischen Regierung wird zukünftig weitere Herausforderungen mit sich bringen. Deutschland versucht seit der Wiedervereinigung, eine Balance zwischen Werten und Interessen zu schaffen, unterliegt jedoch jedes Mal der unnachgiebigen Position Chinas.

Die sino-amerikanische Rivalität bietet der EU und damit auch Deutschland letzlich aber auch eine Chance, sich in der Weltpolitik stärker zu profilieren und die eigene Position aufzuwerten. Vieles hängt von der Post-Merkel-Ära und der neuen Bundesregierung ab. Die steigende Abhängigkeit vom chinesischen Markt und die zunehmende Kritik an Merkels Zurückhaltungspolitik wird, wenn sich die Geschichte wiederholt, erneut zu einem Werteübermaß der nächsten Bundesregierung und damit auf den Konfrontationskurs führen.

ist promovierte Politikwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn sowie Projektleiterin für "Data Infrastruktur" als Teil des vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft in NRW geförderten Projekts "Infrastrukturen der chinesischen Moderne und ihre konstitutiven globalen Effekte". E-Mail Link: yhuang@uni-bonn.de