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Haiti - Die "erste schwarze Republik" und ihr koloniales Erbe | Haiti | bpb.de

Haiti Editorial Als die Möbel "zu tanzen begannen" - Szenen aus Haiti Wiederaufbau nach dem Erdbeben - Perspektiven für Haiti Haiti - Die "erste schwarze Republik" und ihr koloniales Erbe Voodoo für das haitianische Volk "Sak vid pa kanpe" - Die Zerbrechlichkeit des haitianischen Staates und die Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen Nachhaltige Entwicklung durch Tourismus? Was kann Haiti von der Dominikanischen Republik lernen? Herausforderungen für die Jugend in Haiti - Essay

Haiti - Die "erste schwarze Republik" und ihr koloniales Erbe

Oliver Gliech

/ 15 Minuten zu lesen

Die Armut und die Krisen auf Haiti lassen sich ohne Kenntnis ihrer historischen Ursachen nicht verstehen. Der Beitrag zeigt Spätfolgen der kolonialen Situation, Sklaverei und Plantagenwirtschaft auf.

Einleitung

Die koloniale Vergangenheit hat die heutigen Staaten der "Dritten Welt" auf unterschiedliche Art geprägt. Während es einzelnen von ihnen gelang, sich relativ schnell nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch von den europäischen Kolonialmächten zu emanzipieren, trugen andere dauerhafte Schäden davon, welche die Gründung moderner, prosperierender Nationen erschwerten oder sogar unmöglich machten. Viele von ihnen zeichneten sich durch scharfe soziale Gegensätze, politische Instabilität, chronische Armut und eine Neigung zu autoritären Regimes aus. Fraglos wäre es zu simpel, alle Fehlentwicklungen in ärmeren Ländern den ehemaligen Kolonialherren anzulasten. Häufig versuchten postkoloniale Eliten mit Hilfe dieses Arguments von eigenem Fehlverhalten abzulenken. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Staaten, deren Startchancen durch das koloniale Erbe maßgeblich gemindert wurden - mit fatalen Folgen bis in die Gegenwart. Haiti gehört zu diesen. Die Medien in den westlichen Industriestaaten neigen mit wenigen Ausnahmen dazu, diese afrokaribische Republik ausschließlich als Hort von Katastrophen wahrzunehmen, sie nur kurz zu fokussieren, sobald sie von neuem Unheil heimgesucht wird, um sich dann ebenso schnell wieder verständnislos von ihr abzuwenden. An die tiefer liegenden Ursachen der Armut des haitianischen Volkes zu erinnern, ist ein Beitrag zur Versachlichung der Diskussion.

Von der "Perle der Antillen" zur "schwarzen Republik"

Der Staat Haiti, der im Jahr 1804 als erstes Land Lateinamerikas seine Unabhängigkeit erlangte, verdankt seine Existenz der einzigen erfolgreichen Sklavenrevolution der Weltgeschichte. Vor diesem Ereignis, einem karibischen Ausläufer der französischen Revolution von 1789, war das Land, das zum französischen Kolonialreich gehörte und damals noch Saint-Domingue hieß, die profitabelste Plantagenwirtschaft der Welt. Sie bildete das Rückgrat des französischen Außenhandels und belieferte Zentraleuropa mit begehrten Luxusgütern wie Zucker und Kaffee - die vor allem im deutschsprachigen Raum konsumiert wurden. So wurde die Kaffeehauskultur des 18. Jahrhunderts, der die Aufklärung und die bürgerliche Öffentlichkeit so viel verdanken, im Wesentlichen von dominginischem Kaffee gespeist. Die sozialen Kosten dieses ökonomischen Erfolgs waren beträchtlich. Um die rasch expandierende karibische Plantagenwirtschaft am Laufen zu halten, wurden Hunderttausende afrikanischer Sklaven gewaltsam nach Saint-Domingue gebracht. Im Jahr 1789 standen 40.000 weißen Franzosen und ebenso vielen freien Farbigen etwa eine halbe Million schwarzer Zwangsarbeiter gegenüber. Die Zahl der dominginischen Sklaven erreichte damit eine ähnliche Größenordnung wie jene in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Als die staatliche Ordnung der Kolonie in den ersten Jahren der Französischen Revolution zerfiel, gerieten die afrikanischen Sklaven außer Kontrolle. 1791 kam es im Norden Saint-Domingues zu einem großen Aufstand der Schwarzen, 1793 schafften französische Revolutionskommissare die Sklaverei in der Kolonie ab. Toussaint Louverture stieg zum Revolutionsführer auf und strebte eine autonome schwarze Modellrepublik auf der Basis einer Plantagenwirtschaft mit freier Lohnarbeit an. Napoleon Bonaparte durchkreuzte mit seiner Invasion in Saint-Domingue diese Pläne, doch endete diese 1803 mit einer verheerenden Niederlage der Franzosen. Die weißen Plantageneigentümer wurden vertrieben und enteignet. Louverture starb in französischer Gefangenschaft. Seine Nachfolger, die Gründer Haitis, gaben seine Vision einer reichen, von Schwarzen geführten Plantagenwirtschaft auf. Die Macht fiel 1804 in die Hände zweier Gruppen: Es handelte sich zum einen um schwarze Offiziere der Aufstandsarmee, zum anderen um farbige landlords, die als Nachkommen weißer Pflanzer und schwarzer Sklavinnen bereits zur Kolonialzeit zur Schicht wohlhabender Kaffee-, Indigo- und Baumwollpflanzer gehört hatten und die häufig über französische Bildung verfügten. Dank ihres kulturellen und ökonomischen Vorsprungs gewannen sie bald nach der Unabhängigkeit Haitis eine Sonderstellung innerhalb des neuen Staates, die ihre Nachfahren bis in die Gegenwart hinein bewahren konnten.

Revoltierende Afrikaner, die die Macht an sich rissen, waren für die sklavenhaltenden Staaten der Nachbarschaft eine Provokation, mussten sie doch damit rechnen, dass diese Revolte auf die Anrainerstaaten der Karibik übergriff. Zwar fand Haiti trotz dieser Vorbehalte mühelos Abnehmer für seinen Kaffee und Tabak, politisch blieb es gleichwohl weitgehend isoliert. Die grassierenden Rassenideologien gaben der Geringschätzung der schwarzen Republik bald ein neues Fundament. Eine afrokaribische Nation konnte aus der Sicht hellhäutiger Kreolen beider Amerikas kein ernstzunehmendes Subjekt des Völkerrechts sein. Frankreich gab seinen Besitzanspruch auf Haiti erst gut 20 Jahre nach der Unabhängigkeit auf. Bis zu diesem Zeitpunkt musste das Land mit einer Rückeroberung rechnen und den größten Teil seiner Staatseinnahmen für militärische Zwecke verwenden. Zudem lag es in seinem Interesse, den wertvollen Teil seiner Wirtschaft verfallen zu lassen, um nicht länger als lohnendes Objekt einer Invasion zu gelten. 1825 erkaufte sich Präsident Jean-Pierre Boyer die Anerkennung Haitis durch Frankreich durch eine hohe Entschädigungszahlung an die ehemaligen Plantagenbesitzer. Diese Verpflichtung begründete die haitianische Auslandsverschuldung, welche die weitere Entwicklung des Landes in erheblichem Maße behinderte.

Aus der Sicht der Großmächte konnte man Haiti - einer schwarzen Republik - nur eine verminderte Souveränität zugestehen. Wie sonst ließe sich erklären, dass die USA keine Notwendigkeit sahen, sich zu rechtfertigen, als sie das Land 1915 besetzten, um eine Serie von Bürgerkriegen zu beenden und das Vorfeld des Panamakanals abzusichern? Die 19 Jahre währende Besatzungsherrschaft wurde paternalistisch begründet: In kolonialer Manier wurden die Haitianer wie Unmündige behandelt, die weißer Führung bedurften, um ein modernes Staatswesen zu begründen.

Koloniale Altlasten

Saint-Domingue war als prosperierende Zucker- und Kaffeekolonie eine Quelle großen Reichtums, Haiti hingegen ist einer der ärmsten Staaten der westlichen Welt. Wie lässt sich dieses Paradox erklären? Gab es eine realistische Chance, die "weiße" Erfolgsgeschichte der kolonialen Plantagenwirtschaft als "schwarze", haitianische fortzuschreiben, und wenn nicht, worauf war dies zurückzuführen? Was mehr als 100 Jahre Sklaverei und koloniale Herrschaft und zehn Jahre revolutionärer Kriege in Haiti hinterließen, war eine hochgradig fragmentierte Gemeinschaft. Gelang es der schwarzen Aufstandsbewegung, die Sklaverei zu zerschlagen und ihre einstigen weißen Herren zu vertreiben, so erwiesen sich doch viele in der Kolonialzeit entstandenen sozialen Strukturen als übermächtig. Die großen Zuckerpflanzungen gaben der Kolonie das Gepräge einer "Plantagengesellschaft". Als frühe agrarindustrielle Unternehmen produzierten sie allein für den Export nach Europa. Sie operierten als weitgehend autarke Produktionseinheiten, die in der Karibik weder Zulieferer noch Absatzmärkte besaßen. Infolgedessen beschränkten sie ihre ökonomischen Beziehungen und sozialen Vernetzungen in der Region auf ein Minimum. Das Gleiche galt für die Bewegungsfreiheit der meisten Sklaven, deren Leben sich innerhalb der engen Grenzen ihrer Plantagen abspielte. Die Infrastruktur Saint-Domingues verband die Plantagen einer Region mit dem nächsten Exporthafen, eine weiterreichende Erschließung des Landes hingegen blieb aus. Viele ehemalige Plantagengesellschaften weisen ähnliche Merkmale auf und zeichneten sich in postkolonialer Zeit durch schwache überregionale Verstrebungen, eine Atomisierung der politischen Landschaft und eine Überbetonung lokaler Gemeinschaft aus - Haiti ist ein Paradebeispiel für diese strukturellen Defizite.

War die Arbeitskraft im Zuckerkomplex afrikanisch, so monopolisierten die Weißen alle technischen und administrativen Schlüsselpositionen, die zum Betrieb von Staat und Wirtschaft der Kolonie unentbehrlich waren. Das Kapital kam aus Frankreich; Handel, Medizinalwesen, Rechtssystem sowie Know-how über den Bau der Zuckermühlen bis zu Bewässerungstechniken und akademisch verfeinerten Methoden in Anbau und Raffinade waren "weiße" Domänen. Mit der Flucht und Vertreibung der weißen Plantagenbesitzer wanderte dieses sorgsam gehütete Wissen zusammen mit dem ausländischen Kapital ab. Die Plantagen Saint-Domingues waren "totale Institutionen", in denen die Sklaven allen Schutzbestimmungen zum Trotz der Willkür des Eigentümers ausgeliefert waren. Entstand in Europa langsam das Fundament moderner Rechtsstaaten, so blieben die Sklaven von seinen Segnungen ausgeschlossen. Europäisches Recht und europäische Staatlichkeit dienten in der Karibik allein den Interessen der Plantagenbesitzer und zementierten ihre Macht über die Schwarzen. Alle ernstgemeinten Versuche, in Haiti nach der Unabhängigkeit einen Rechtsstaat zu etablieren, wurden infolgedessen nicht nur vom kleptokratischen Teil der Eliten, sondern auch von der breiten Masse der Haitianer sabotiert. Namentlich auf dem Lande setzten Offiziere, Händler und kleine Staatsfunktionäre die Willkürherrschaft der weißen Pflanzer fort und legten geltendes Recht nach eigenem Gutdünken aus. Die schwarzen Gemeinschaften entwickelten eigene Regeln und versuchten sich dem Zugriff von Staat und landlords so weit wie möglich zu entziehen.

Diese Anomie ist bis heute ein unübersehbares Merkmal der haitianischen Gesellschaft. Wirkte sie der Entstehung moderner politischer Strukturen entgegen, so minderte sie auch die Durchsetzungskraft autoritärer Regime. Lange Zeit war sie infolgedessen der Garant individueller Freiheit. Zugleich bildete sie die Grundlage informeller Bodenrechte, die für Lateinamerika durchaus bemerkenswert waren. Zwar versuchten die Eliten nach dem Vorbild iberoamerikanischer Großgrundbesitzer immer wieder, sich möglichst viel Land anzueignen. Da die Festschreibung von Bodenrechten aber allgemein sabotiert wurde, gelang es kleinbäuerlichen Gemeinschaften immer wieder, ihnen geraubtes Land nach kurzer Zeit von neuem zu besetzen. In Haiti wechselten sich Landnahme der Eliten und informelle Landreform ab wie Ebbe und Flut. Die kleinbäuerlichen Gemeinschaften (lakous), die auf den Trümmern der zerfallenen Zuckerplantagen entstanden, sicherten ihren Mitgliedern ein bescheidenes Auskommen. Ließ sich die arme Landbevölkerung immer wieder für begrenzte Zeit von lokalen Machthabern mobilisieren, so nahm sie doch Staat und Eliten als Fremdkörper, wenn nicht gar als Feinde wahr. Diese weit verbreitete Mentalität setzt demokratischen Institutionen und jeglicher staatlichen Reform- und Entwicklungspolitik der Gegenwart klare Grenzen.

Die Zuckerplantagen waren factories in the field, frühe Agrarfabriken. Greift man auf die gängigen Definitionen eines industriellen Unternehmens zurück und vergleicht sie mit diesen kolonialen Pflanzungen, wird dies schnell deutlich. Man versteht unter Fabriken kapitalistische Betriebe, die Güter - in diesem Fall Zuckerhüte, teils auch Rum - in einem geschlossenen Kreislauf herstellen. Die Produktion ist räumlich konzentriert, arbeitsteilig organisiert und gewinnorientiert. Industriebetriebe arbeiten unter Einsatz von Maschinen und treiben diese mit einer zentralen Energiequelle an. Die einzelnen Arbeitsschritte industrieller Prozesse sind eng aufeinander abgestimmt und erfordern eine strikte Regulierung der verfügbaren Zeit. All diese definitorischen Voraussetzungen waren in der dominginischen Zuckerwirtschaft erfüllt. Da der Saft des Zuckerrohrs unverzüglich nach der Ernte verarbeitet werden muss, wurde die herrschende Logik - Gewinnung von Rohstoffen in der Kolonie, industrielle Verarbeitung in Europa - in der Karibik durchbrochen. Dadurch entstand eine paradox anmutende Situation: Um 1789 konnte man etwa die Hälfte der kolonialen Wirtschaft zum frühindustriellen Sektor rechnen. Fraglos hing dieser am Tropf der Metropole, dennoch war die Industrialisierung in Saint-Domingue weiter fortgeschritten als in Frankreich.

Ein Großteil der schwarzen Arbeiter war also bereits an einen industriellen Arbeitsrhythmus gewöhnt. Doch wieso ließ sich dieser Vorsprung nicht nutzen, um andere, weniger kapitalintensive Industrien anzusiedeln, um den Zuckerkomplex, der mit der Sklaverei assoziiert wurde, zu ersetzen? Eine solche Entwicklung wurde durch die Aufstandsbewegung blockiert, die sich aus den Plantagensklaven rekrutierte. Der Übergang von bäuerlicher zu industrieller Arbeit vollzog sich in Europa über drei bis vier Generationen hinweg und wurde durch demografischen Druck und Lohnanreize gefördert. Die Sklaven hingegen wurden ihrer agrarischen Lebenswelt gewaltsam entrissen und erlebten, wie der Zuckerkomplex ihre Arbeitskraft rücksichtslos verschliss: Die Mortalität lag in Saint-Domingue mit gut fünf Prozent jährlich in Größenordnungen, die in Europa nur in Zeiten schwerer Seuchen und Kriege erreicht wurden. Lohn und Leistungsanreize kannte der Plantagenkomplex nur für eine privilegierte Minderheit von Afrikanern. Für die Masse der Zuckerarbeiter bedeutete der frühindustrielle Arbeitsrhythmus keine Chance auf ein bescheidenes Einkommen, sondern eine existenzielle Bedrohung, der sie sich nach dem Erfolg ihres Aufstands von 1791 unverzüglich entzogen. Versuchten die neuen schwarzen Herren, sie mit Lohnversprechen oder unter Zwang zurück in den Zuckerkomplex zu bringen, so sabotierten die einstigen Plantagensklaven dies und begannen ihrerseits mit der Parzellierung der Plantagen. Einzig die Kaffeewirtschaft, die sich auch auf kleinbäuerlicher Basis organisieren ließ, hatte unter diesen Bedingungen eine Überlebenschance. Der Übergang von agrarischer zu industrieller Lebenswelt war in Saint-Domingue viel zu abrupt geschehen; ihr Arbeitsrhythmus wurde seither mit der Sklaverei in Verbindung gebracht und konnte deshalb in den folgenden Generationen in Haiti nicht mehr Fuß fassen. Dies ist eine mentale Spätfolge der Kolonialzeit.

Weitere Zersplitterung der Gesellschaft

Nicht nur die Eigenheiten der Plantagengesellschaft und die "rassische" Teilung in schwarze Unter- und hellhäutige Oberschichten begünstigten die Zersplitterung der haitianischen Gesellschaft. Die sozialen Fliehkräfte wurden durch geografische und ethnische Faktoren begünstigt. Haiti besteht aus zwei langen Halbinseln und einer Landbrücke, die beide miteinander verbindet. Die Annexion von Teilen des ehemals spanischen Santo Domingo erweiterte das Staatsgebiet nach Osten um das zentrale Hochland. Drei in Ost-West-Richtung verlaufende Gebirgszüge der karibischen Kordilleren, die Höhen von über 2000 Meter erreichen, bilden schwer zu überwindende Barrieren, die Haiti in mehrere isolierte küstennahe Ebenen mit angegliederten Bergtälern unterteilen. Diese abgetrennten Räume führten ein Eigenleben jenseits von Kolonie und Nation und ließen sich nach 1804 nur schwer in einen gemeinsamen Staat integrieren. Das Erbe der zerfallenen Plantagengesellschaft - Atomisierung und Regionalismus - verstärkte diesen Effekt nachhaltig.

Der Sklavenhandel führte Vertreter von über 100 afrikanischen Ethnien nach Saint-Domingue, wobei sich ihre Zusammensetzung in den einzelnen Provinzen maßgeblich unterschied. Die erdrückende Masse der dominginischen Sklaven stammte aus sozial nur schwach integrierten bäuerlichen Gemeinschaften am Rande einer slaving frontier, die im Laufe des 18. Jahrhunderts in den meisten betroffenen Regionen immer weiter landeinwärts wanderte. Bei Ausbruch der haitianischen Revolution dominierten unter den neu eingeführten Sklaven die Bantuvölker, die aus dem Kongobecken und Angola stammten, an zweiter Stelle standen Aja und Yoruba (aus den nördlichen und westlichen Nachbarregionen von Dahomey und dem Oyo-Reich). An dritter Stelle rangierten Ibo aus den staatenlosen Gemeinschaften im Nordosten des Nigerdeltas. Geringere Zahlen von Schwarzen kamen aus Senegambia, der Goldküste und Sierra Leone. In einigen Regionen Saint-Domingues dominierten die Aja/Yoruba (Saint-Marc/Gonaives); im Raum von Port-au-Prince lagen diese mit den Bantu nahezu gleichauf. In der Region von Cayes stellten hingegen die Ibo die zweitstärkste ethnische Gruppe nach den Bantu.

Um bei einem Kräfteverhältnis zwischen Schwarzen und Weißen von zehn zu eins zu überleben, schürten weiße und farbige Plantagenbesitzer die ethnischen Rivalitäten zwischen den Sklaven, durchmischten ihre "Ateliers" mit verfeindeten Stämmen, begünstigten einzelne Stammesgruppen bei der Ernennung von Haussklaven und Aufsehern oder bei den selten vorkommenden Freilassungen und setzten andere Ethnien ebenso ostentativ herab. Die schwarze Aufstandsbewegung von 1791 bis 1794 operierte häufig in ethnischen Verbänden; auch die siegreichen schwarzen Führer setzten die ethnische Segregation fort. Revolutionsführer Toussaint Louverture stammte aus einer Fürstenfamilie aus dem Aja-Reich Arada; er bevorzugte Vertreter dieser Volksgruppe, weigerte sich aber, höhere Offiziere und Berater aus den Reihen der Bantu zu berufen, welche die Bevölkerungsmehrheit stellten. Henri Christophe, von 1811 bis 1820 König von Haiti, hielt sich eine Leibgarde aus Dahomeyern (ebenfalls eine Aja-Kultur), eine Maßnahme, mit der er sich seinerseits von der Bantu-Mehrheit distanzierte.

Zwar verwischten die ethnischen Unterschiede im Laufe der Zeit, die Kreolisierung verlief aber viel langsamer als gemeinhin angenommen. Mit dem Créole entstand eine Mischsprache und mit dem Voodoo eine religiöse Synthese der afrikanischen Glaubenssysteme. Bis in die schwierige Transitionsphase nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur war es in Haiti übliche Praxis, die Macht nicht durch Dialog und Kooperation, sondern durch Strategien des divide et impera zu gewinnen und zu sichern. Dies ist ohne Zweifel ein Relikt kolonialer Herrschaftspraktiken aus der Welt der Plantagen.

Die Last der zerstörten Tradition

Die meisten modernen Nationen gingen aus Gesellschaften hervor, die über viele Generationen hinweg Zeit hatten, gemeinsame Normen und Werte zu entwickeln. Wichtigstes überzeitliches Kontinuum waren für gewöhnlich Familien, Clans, Dorfgemeinschaften oder städtische Bürgerschaften, die diese Werte tradierten und ihnen vor der Entstehung moderner Staaten einen inneren Zusammenhalt verschafften. Den aus Sklaverei und Plantagengesellschaften hervorgegangenen Gemeinschaften fehlten diese Voraussetzungen. Zwar entstanden in den schwarzen Wohnsiedlungen der Plantagen provisorische Dorfgemeinschaften und einige Kernfamilien. Die hohe Sterberate zerriss aber vor 1791 kontinuierlich die schwachen sozialen Netze. Der starke Männerüberschuss unter den Sklaven erschwerte es der Masse, eine eigene Familie zu gründen. Schwarze Frauen wurden bevorzugt freigelassen, womit die Pflanzerschicht gezielt Konkurrenzkämpfe unter den Benachteiligten schürte. Nur in wenigen ethnischen Gruppen (Aja und Yoruba) war das Geschlechterverhältnis relativ ausgeglichen. Sie besaßen infolgedessen bessere Voraussetzungen, um innerhalb der eigenen Gemeinschaft Familien zu gründen sowie ihre Sprache und Kultur an eine neue Generation weiterzuvermitteln.

Die Bildung einer schwarzen kreolischen Gesellschaft nach 1804 glich einem schwierigen Balanceakt, galt es doch, Dutzende afrikanischer Kulturen mit französischen Traditionen zu verschmelzen, die weiterhin auf vielen Feldern dominierten. Diese Staatsbildung auf den Trümmern afrikanischer Stammesgemeinschaften und den Ruinen eines kriegszerstörten Landes ist für sich genommen eine bemerkenswerte zivilisatorische Leistung des haitianischen Volkes.

Politische Folgen der Fragmentierung

Viele Phänomene, die informierte Beobachter mit Haiti verbinden, sind ein Ergebnis der sozialen und räumlichen Fragmentierung. Wie sich diese auf die Gestalt der politischen Landschaft und die politischen Praktiken auswirken, lässt sich auf anschauliche Weise anhand des Lebenszyklus haitianischer Regierungen und Parteien dokumentieren.

Die traditionelle Herrschaft im kontinentalen Iberoamerika lag in den Händen einer Schicht von Großgrundbesitzern, die über Heirats- und Handelsbeziehungen über viele Generationen hinweg breite soziale Netzwerke geknüpft hatten und sich beim Kampf um die politische Macht auf zahlreiche Standesgenossen stützen konnten. Haiti hingegen bot nach dem Zerfall der Plantagengesellschaft den Anblick eines sozialen Flickenteppichs. Latifundien hat es dort in der Kolonialzeit nicht gegeben. Eliten, die einen landesweiten Führungsanspruch geltend machen konnten, existierten nicht. Die Hausmacht der landlords und örtlichen Militärkommandanten, die den Staat in den Gemeinden vertraten, war denkbar schwach, und so entstanden in Haiti frühzeitig zahlreiche kleinere Machtpole, die untereinander nur flüchtige Koalitionen eingingen. Um ihre Macht zu sichern, hatten die kolonialen Plantagenbesitzer alles getan, um die Sklaven auseinander zu dividieren und soziale Bindungen in ihren Reihen zu zerstören. Um jede Opposition seitens der Pflanzer zu schwächen, säte der koloniale Staat permanent Zwietracht unter den Kolonisten. Eine geringe Kompromiss- und hohe Konfliktbereitschaft gehörten als Spätfolge zu den Charakterzügen der haitianischen Gesellschaft. Diese mentale Grundhaltung verstärkte die negative Wirkung der sozialen und geografischen Fliehkräfte. Haitianischen Politikern gelang es bis in die Gegenwart nur selten, sich eine dauerhafte überregionale Machtbasis in Form eines Klientelverbands oder einer Partei aufzubauen, ein Umstand, der sich noch jüngst in der Zusammensetzung der haitianischen Deputiertenkammer von 2006 widerspiegelte.

Schwache Bindekräfte, geringe Kompromissbereitschaft, schwache Hausmacht der Führungsschicht - diese Faktoren prägten die Logik des politischen Handelns in Haiti vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Es gehört zu den Ländern, in denen die Opposition zusammengenommen fast immer stärker war als die Regierung. Dies führte zur Entstehung eines spezifischen Herrschaftszyklus, der bis zum Beginn der Duvalier-Diktatur das politische Leben Haitis beherrschte. Idealtypisch verlief dieser Zyklus wie folgt: Um seine strukturelle Schwäche zu überspielen, setzte ein haitianischer Präsident nach seiner Machtübernahme alles daran, die Opposition zu teilen und zu lähmen. Oft wurden zu diesem Zweck Teile der Verfassung außer Kraft gesetzt. Um seine Macht zu festigen, vergab der Präsident Land und Posten an eigene Parteigänger. Die Schläge gegen die Gegner der Regierung schufen ein Klima permanenter Feindseligkeit. Versuchte der Präsident, gegen Ende seines Mandats die Verfassung zugunsten einer weiteren Amtszeit zu ändern, oder ging er bei der Unterdrückung der Opposition zu weit, gelang es dieser in der Regel, ihre Kräfte zu bündeln, den Präsidenten zu stürzen und einen eigenen Kandidaten an die Macht zu bringen, dessen Hausmacht ebenso schwach war wie die seines Vorgängers. An diesem Punkt begann der präsidiale Herrschaftszyklus von neuem.

Parteien waren häufig nicht viel mehr als Wahlkampfmaschinen einzelner ambitionierter Politiker und verschwanden nach kurzer Zeit wieder von der Bildfläche. War dieser Herrschaftszyklus zunächst eine Sache der haitianischen Eliten, so führte die Redemokratisierung Haitis nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur zunächst zu einer Revitalisierung dieses Mechanismus unter breiterer Massenbeteiligung, doch scheint er nach dem Sturz von Präsident Jean-Bertrand Aristide im Jahr 2004 an Schwung verloren zu haben.

Die Atomisierung der politischen Landschaft, die Überbetonung partikularer Interessen in den Reihen der Eliten, mangelnde Koalitionsbereitschaft und fehlendes Vertrauen in den Staat sind ohne Zweifel späte Relikte der kolonialen Vergangenheit Haitis. Die Zukunft dieser karibischen Republik hängt unter anderem davon ab, ob es ihr gelingt, diese Hindernisse zu überwinden, die einer erfolgreichen Entwicklungspolitik im Wege stehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robin Blackburn, The Overthrow of Colonial Slavery 1776-1848, London 1996, S. 161-264; David Patrick Geggus, Haitian Revolutionary Studies, Bloomington 2002; Oliver Gliech, Der Sklavenaufstand von Saint-Domingue und die Französische Revolution (1789-1795), Köln 2010 (i.E.).

  2. Vgl. Walther Bernecker, Kleine Geschichte Haitis, Frankfurt/M. 1996, S. 37-46.

  3. Vgl. John E. Baur, International Repercussions of the Haitian Revolution, in: The Americas, 26 (1970), S. 394-418.

  4. Vgl. Benoît Joachim, Les racines du sous-développement en Haïti, Port-au-Prince 1979, S. 180-191.

  5. Vgl. George Beckford, Persistent Poverty: Underdevelopment in Plantation Economies of the Third World, London 1972.

  6. Vgl. ebd., S. 9.

  7. Vgl. Claude Moïse, Constitutions et luttes de pouvoir en Haïti, 1804-1987, Bd. 1, Montréal 1988, S. 260.

  8. Vgl. Gérard Barthélémy, Le pays en dehors: essai sur l'univers rural haïtien, Port-au-Prince 1989.

  9. Vgl. Sidney Mintz, Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt/M. 1992, S. 75-82.

  10. Vgl. Wolf Donner, Haiti, Tübingen 1980; Oliver Gliech, Haiti, in: Klaus Stüwe/Stefan Rinke (Hrsg.), Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, Wiesbaden 2008, S. 269-275.

  11. Vgl. O. Gliech (Anm. 1), S. 101f.; David Eltis et al., The Trans-Atlantic Slave Trade: a Database, New York 1999.

  12. Vgl. G. Barthélémy (Anm. 8), S. 90f.

  13. Darin sind 19 Parteien vertreten; vgl. www.haiti-reference.com/politique/
    legislatif/deputes.php (7.6. 2010).

Dr. phil., geb. 1966; Lehrbeauftragter am Lateinamerika-Institut der FU Berlin, Christstraße 41, 14059 Berlin. E-Mail Link: gliech1@zedat.fu-berlin.de