Einleitung
Für Österreich endete der Kalte Krieg 1955. Auf der internationalen Ebene war die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags
Das "Ausklinken" Österreichs aus dem Kalten Krieg 1955 ist umso bemerkenswerter, als das Land bis dahin ein Brennpunkt, Spielball und Opfer des Ost-West-Konfliktes gewesen war. Die leverage of the weak, die Fähigkeit eines "schwachen" Partners, die Politik seines übermächtigen Verbündeten zu beeinflussen, machte österreichische Gruppen sporadisch sogar zu Akteuren des globalen Konfliktes. Kommunisten wie Antikommunisten wandten sich mit Hilfeansuchen an ihre Schutzherren in Moskau und Washington und heizten den verbissenen Kampf zwischen Ost und West um die politische Zukunft des Landes an. Mit einiger Berechtigung kann man von Österreich als einem der ersten Krisenherde des Kalten Krieges überhaupt sprechen.
Beide Hauptphasen der österreichischen Nachkriegsgeschichte, jene des Kalten Krieges bis 1955 und die der Neutralität danach, gingen an den Einstellungen und Verhaltensformen der politischen Kräfte des Landes und dem politischen Bewusstsein seiner Bevölkerungsgruppen nicht spurlos vorüber. Einige dieser Spuren im Bereich der politischen Kultur sind wohlbekannt: die einseitige Opferthese, die unter Berufung auf den gewaltsamen Anschluss durch Hitlerdeutschland 1938 die Mitverantwortung tausender Österreicherinnen und Österreicher für die NS-Verbrechen jahrzehntelang ausblendete; die "große Koalition" und "Sozialpartnerschaft", aber auch die deutliche Einschränkung des internationalen Handlungsspielraumes nach 1955 mitsamt der Tendenz, Sicherheitsinteressen außenpolitischem Aktivismus und innenpolitischer Opportunität unterzuordnen. Auch die verteidigungspolitische Resignation Österreichs und seine oft kritisierte "Trittbrettfahrermentalität", unter dem imaginären Schutzschirm der NATO auf eigene ernstzunehmende Verteidigungsanstrengungen zu verzichten, sind ohne den alles überschattenden Kalten Krieg und die übermächtigen Militärblöcke nicht vorstellbar.
Kalter Krieg um Österreich
Begonnen hatte der Kalte Krieg nicht zuletzt in Österreich. Zweifellos gab es bedeutendere Krisen, die das Ende der "unnatürlichen", durch die Kriegspolitik Hitlers herbeigeführten Allianz zwischen dem Westen und Stalin andeuteten. Der Konflikt um Österreich war jedoch - neben den Spannungen über die vom Kreml eingesetzten Regierungen in Osteuropa - einer der ersten, der zwischen den bisherigen Alliierten über die Frage der Nachkriegsordnung Europas aufflammte. In der Moskauer Deklaration von 1943 hatten Großbritannien, die UdSSR und die USA vereinbart, das Land als unabhängigen und demokratischen Staat wiederherzustellen. Das entsprach dem gemeinsamen Interesse, Deutschland durch die Abtrennung von Gebieten nach dem Krieg niederzuhalten. Als aber Stalin wenig später durch kommunistische Machtübernahmen in Osteuropa einen Sowjetblock zu etablieren begann, erschien auch Österreich in Gefahr, hinter den Eisernen Vorhang gezogen zu werden. Nun zeigte sich, dass der Kleinstaat aufgrund seiner Lage zwischen den entstehenden Machtblöcken zu wichtig war, um ihn dem jeweils anderen zu überlassen. Beide Seiten gingen in Stellung - wenn auch nur politisch. Anfang 1946 bezeichnete ein sowjetischer Bericht das Land als "Laboratorium, wo man den Prozess des Kampfes zweier Systeme beobachten kann: des sowjetischen und des kapitalistischen".
Bereits im April 1945 hatte Stalins Versuch, ohne Konsultation mit den Westmächten in Wien eine sowjetfreundliche Volksfrontregierung unter dem sozialdemokratischen Politveteranen Karl Renner einzusetzen, zu einer veritablen internationalen Verstimmung samt misstrauischen Telegrammen zwischen Winston Churchill und dem Sowjetdiktator geführt. Erst jüngst in russischen Archiven aufgetauchte Dokumente legen nahe, dass die sowjetische Regierung plante, den kommunistischen Einfluss mittels aus Moskau entsandter "Initiativgruppen" österreichischer Exilkommunisten zu stärken, während die Betätigung anderer politischer Kräfte unterbunden werden sollte.
Die westliche Sorge, Renner könnte in den Orbit des Kremls abgleiten, erwies sich als verfrüht, denn einerseits hatte der Politfuchs in seine Regierung mehrere Hindernisse gegen eine schleichende kommunistische Machtübernahme eingebaut. Andererseits blieben die Sozialdemokraten in der Sowjetzone ihrer Westorientierung treu und lehnten, nicht zuletzt auf Rat der britischen Labour Party, kommunistische Avancen zur Schaffung einer Einheitsfront ab. Inzwischen gelang es im Unterschied zu Deutschland sehr rasch, nämlich bis Herbst 1945, die staatliche Einheit herzustellen und abzusichern. Der Westen erklärte sich bereit, die provisorische Regierung auch in den Westzonen anzuerkennen; im Gegenzug gewährte die Sowjetunion die Abhaltung von gesamtstaatlichen Wahlen noch vor Jahresende.
Die Parlamentswahlen vom 24. November 1945 brachten eine vernichtende Niederlage der Kommunisten, die von der Bevölkerung für die Übergriffe der Roten Armee abgestraft wurden und nur wenig mehr als fünf Prozent der Stimmen erhielten. Die Sowjetunion reagierte mit einer Verstärkung der politischen Kontrolle, einer Verschärfung der antiwestlichen Propaganda und einer Aufstockung der bisher recht vorsichtigen Unterstützung für die KPÖ. Im Mai 1945 hatte der stellvertretende sowjetische Oberkommandierende Alexei Scheltow die Kommunisten noch vertröstet, sie müssten zuerst die "Unterstützung der Massen gewinnen" und erst dann eine "Lage schaffen, wie sie für sie [die Kommunisten, W. M.] nötig ist".
Dies und die sowjetische Beschlagnahme "deutschen Eigentums" in Ostösterreich, etwa dreißig Prozent der Industriekapazität der Sowjetzone, auf der Grundlage der Potsdamer Beschlüsse wurden im Westen als Unterminierung Österreichs interpretiert und steigerten die Bereitschaft der USA, das Land politisch und wirtschaftlich zu unterstützen. Der Marshallplan brachte Österreich eine der höchsten Pro-Kopf-Raten an Hilfslieferungen von allen europäischen Ländern.
Angesichts der kommunistischen Machtübernahmen in Budapest und Prag sowie der Berlin-Blockade verstärkten die USA auch ihre Bemühungen zur Schaffung einer österreichischen Armee, was wiederum sowjetische Vorwürfe einer Remilitarisierung nach sich zog. Die Staatsvertragsverhandlungen wurden ein Nebenschauplatz von Stalins Deutschlandpolitik: Wollte man die Westmächte von weiteren Schritten zur Weststaatsgründung und Westintegration der Bundesrepublik abhalten, liefen die Gespräche über Österreich plötzlich wie geschmiert und wurden sogar durch spektakuläre Konzessionen des Kremls beflügelt. Schaltete Stalin jedoch auf eine harte Linie in Deutschland, ging auch in der Österreichfrage nichts mehr.
Auch Stalins Sorge um sein eben errichtetes Vorfeld in Osteuropa trug zur Blockade der Österreichfrage bei. Laut den Friedensverträgen von 1947 waren Sowjettruppen so lange berechtigt, zur Sicherung der Versorgungswege in Ungarn und Rumänien zu bleiben, bis der Staatsvertrag mit Österreich unterzeichnet sei. Als dieser 1949 unterschriftsreif vorlag, schrieb Andrej Gromyko an Stalin, das Streben der Westmächte, den Staatsvertrag abzuschließen, sei "vor allem mit ihren Plänen verbunden, die Grundlagen für den weiteren Verbleib sowjetischer Truppen in Österreich, aber auch in Ungarn und Rumänien, zu beseitigen".
Dass angesichts der anhaltenden Besetzung und des Kalten Krieges eine Teilung des Landes samt Sowjetisierung Ostösterreichs vermieden werden konnte, ist mehreren Faktoren zu verdanken: Erstens waren die Einheit des Landes und die Kompetenz seiner Zentralregierung 1945/46 recht weit gediehen. Zweitens verfügten die Kommunisten in Wien weder über den sowjetischen Rückhalt noch den politischen "Killerinstinkt", der sie in der SBZ und den osteuropäischen Ländern auszeichnete. Im Unterschied zu ihrem Verhalten in Deutschland überschritten weder Stalin noch die sowjetische Besatzung in ihrer Unterstützung für die Kommunisten die Grenze zu massiver Einmischung, Wahlfälschung und systematischer Gewalt, sondern beschränkten sich auf Finanzspritzen und Propagandahilfe für die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) sowie konspirative Versuche, die nichtkommunistischen Parteien zu spalten. Noch bedeutender war, dass eine Teilung Österreichs nach deutschem Vorbild vom Kreml abgelehnt wurde: Als die KPÖ-Führung 1947/48 einen derartigen Plan vorschlug, erteilte Stalins rechte Hand Andrei Schdanow in einer dramatischen Geheimbesprechung eine scharfe Absage.
Innere Auswirkungen
Der Kalte Krieg erfasste auch die österreichische Innenpolitik. Tiefes Misstrauen und erbitterte Propagandakämpfe zeichneten das Verhältnis zwischen den beiden Parteien der prowestlichen "großen Koalition" einerseits, die zwischen 85 und 95 Prozent der Wähler repräsentierten, und der prosowjetischen KPÖ, welche die Regierung wiederholt durch putschartige Unruhen zu stürzen versuchte, andererseits aus. In einer Zeit, in der die Parteien primär für einen der beiden globalen Machtblöcke standen, wurden Wahlen zu Abstimmungen über Parlamentarismus gegen Kommunismus, über Freiheit versus Diktatur, über USA gegen Sowjetunion. Die übermächtige Stellung der beiden antikommunistischen Parteien und die bis in die 1980er Jahre weitgehend stabilen Bindungen
Trotz des für Österreich insgesamt recht glimpflichen Ausganges des Konfliktes hinterließ der Kalte Krieg deutliche Spuren in der politischen Kultur. Die Autostalinisierung und Marginalisierung der KPÖ, die sowohl von der Anti-Tito-Hysterie des von Moskau gesteuerten Kominform (Kommunistisches Informationsbüro, Nachfolgeeinrichtung der Komintern) als auch vom Stalinkult erfasst wurde, sind ebenso zu bedenken wie der Antikommunismus des übrigen politischen Spektrums. Der Trend zur Zusammenarbeit der christdemokratischen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Sozialdemokraten (SPÖ), die primär auf eine gemeinsame Restauration des Status quo vor 1933 (unter Abkehr vom erbitterten Parteienkampf der Zwischenkriegszeit) abzielte, hatte sich bereits 1945 abgezeichnet. Sie richtete sich gegen die Kommunisten, die eine Beteiligung an der Macht forderten und mit ihren Plänen in Richtung "Volksdemokratie" gingen.
Wie im ganzen demokratischen Westeuropa sollte der Kompromiss zwischen demokratischer Rechter, die den Sozialstaat anerkannte, und demokratischer Linker, die dafür den Kapitalismus und die Westbindung akzeptierte, nicht nur zur Sicherung des sozialen Fortschritts, sondern auch zur Eindämmung der kommunistischen Gefahr dienen.
Auch der Abbruch der Entnazifizierung zugunsten einer Integration ehemaliger Nationalsozialisten ist ohne den Kalten Krieg schwer vorstellbar.
ÖVP, SPÖ und Alliierte stimmten 1949 der Zulassung einer neuen Partei für ehemalige Parteigenossen zu; die KPÖ finanzierte mit sowjetischem Geld eine Splittergruppe nach NDPD-Vorbild.
Als der Kalte Krieg 1947 auf die Hochkultur überzugreifen begann, rief die sowjetische Besatzung in Zusammenarbeit mit der KPÖ prokommunistische Kultur- und Propagandaprojekte ins Leben; darunter das Neue Theater in der Scala in Wien, das aber bald in den Ruch einer Agitpropbühne geriet, von der nichtkommunistischen Presse verfemt und nach Ende der Besatzungszeit geschlossen wurde. Künstlerinnen und Künstler, die sich - aus Überzeugung oder Naivität - vor den Karren der Sowjet- und KPÖ-Propaganda hatten spannen lassen, wurden auf "schwarzen Listen" erfasst und ausgegrenzt.
Von Kommunisten und Antikommunisten unbestritten blieb hingegen die Zielvorstellung einer Restauration der österreichischen "Kulturgroßmacht".
Von der jungen österreichischen Literatur wurde der Kalte Krieg aufgegriffen. Nicht nur die populären, heute vergessenen Zeitromane Milo Dors und Reinhard Federmanns, sondern auch die Gedichte Ingeborg Bachmanns aus der Sammlung "Die gestundete Zeit" (1953) belegen diese bislang wenig beachtete Facette österreichischer Literaturgeschichte.
In der Unterhaltungskultur und den Medien war der Siegeszug des Antikommunismus und der Westintegration unübersehbar. In Kino und Radio waren sowjetische Propagandastreifen und Stalinhymnen kein Gegner für Hollywood und den Jitterbug, und die antiamerikanischen Pamphlete der Kommunisten wirkten sehr viel weniger modern als die nach amerikanischem Vorbild aufgemachten prowestlichen Boulevardblätter. 1955 belegten Umfragen die ideologische Westintegration der österreichischen Bevölkerung.
Zwischen Neutralität, Neutralismus und "Verschweizerung"
Dass die Sowjetunion unter der Führung Chruschtschows 1955 plötzlich eine Initiative zur Unterzeichnung des Staatsvertrags unternahm, hat mit innerösterreichischen Verhältnissen wenig zu tun. Vor allem war der Kreml bemüht, den bevorstehenden NATO-Beitritt der Bundesrepublik zu stören, jedenfalls aber eine infolge dessen aus Moskauer Sicht drohende zukünftige Integration Westösterreichs in die nordatlantischen Planungen ein für alle Mal zu verhindern. Das Mittel dafür und der Preis für die sowjetische Zustimmung zum Staatsvertrag war die Neutralität, die bereits vor der Vertragsunterzeichnung von einer österreichischen Regierungsdelegation zugesagt und nach der Räumung des Landes durch die Alliierten im Oktober feierlich erklärt wurde. Sie hatte für den Kreml nicht nur den Vorteil, den Sperrriegel zwischen den NATO-Staaten Westdeutschland und Italien zu verlängern, sondern sie ließ sich in Zukunft als treffliches Vorbild benützen, um westeuropäische Staaten aus dem Nordatlantikpakt zu locken.
Offenkundig unterschieden sich zu diesem Zeitpunkt das sowjetische und das österreichische Neutralitätskonzept gravierend voneinander. Nach sowjetischer Auffassung hatte Neutralität "total" zu sein; sie umfasste nicht nur alle Bereiche des öffentlichen Lebens, sondern überdies die Verpflichtung zu einer "aktiven Friedenspolitik", zum "Kampf gegen Blockbildung", für internationale Entspannung und "friedliche Koexistenz" zwischen Staaten mit unterschiedlichen politischen Systemen. Gemäß sowjetischer Doktrin war Neutralität "fortschrittlicher" als eine nicht neutrale westliche Demokratie; sie bot sich daher nur westlichen Staaten als Option an. Dass ein Übergang von der "Volksdemokratie" zur Neutralität nicht zulässig war und sich der "Kampf gegen die Blockbildung" auch ausschließlich gegen westliche Blöcke richten sollte, zeigte sich, als die Sowjetunion 1956 die ungarische Neutralitätserklärung samt Austritt aus dem Warschauer Pakt mit einer blutigen Militärintervention beantwortete. Auch in Bezug auf die "friedliche Koexistenz" gab es zwischen Ost und West Auffassungsunterschiede, sollte sie doch dem sowjetischen Verständnis nach primär dazu dienen, den Klassenkampf in den westlichen Demokratien und den Unabhängigkeitskampf der Kolonien zu fördern und damit die Verbreitung des Kommunismus auf friedlichem Weg zu erleichtern.
Österreich dagegen betonte 1955 im Einklang mit den Westmächten das schweizerische Vorbild einer "bewaffneten" Neutralität. Die Neutralitätsverpflichtung sollte ferner nur den Staat, nicht den einzelnen Bürger binden und auch nicht auf Wirtschaft, Kultur und Medien anwendbar sein. Bundeskanzler Julius Raab, der vor dem Staatsvertrag empfohlen hatte, den "russischen Bären" nicht durch laute Sonntagsreden "in den Schwanz zu zwicken", wies nun jegliche Verpflichtung zu einem weltanschaulichen Neutralismus strikt zurück.
Es sollte sich bald zeigen, dass die österreichische Vorstellung nicht so leicht umzusetzen war. Während man innenpolitisch streng antikommunistisch blieb, musste Wien daran interessiert sein, die Beziehungen zur Supermacht des Ostens zu verbessern. Moskau hingegen war nur allzu gerne bereit, Österreich als "Musterknaben" der "friedlichen Koexistenz" zu umarmen und vor seinen Karren zu spannen. Das kleine Alpenland erfuhr vom Kreml zweifellos eine bevorzugte Behandlung, wenn auch nicht ohne Gegenleistung. Bundeskanzler Raab, Außenminister Bruno Kreisky und Bundeskanzler Josef Klaus begaben sich in den 1950er und 1960er Jahren auf weite Reisen durch die "Volksdemokratien" - in manche von ihnen als erste westliche Spitzenpolitiker. "Kulturaustausch" und "Osthandel" wurden propagiert. Dagegen erschienen die österreichischen Beziehungen zur traditionellen Schutzmacht, den USA, nicht zuletzt infolge der Schwerpunktverlagerung der amerikanischen Außenpolitik an Intensität zu verlieren und manchmal Belastungen ausgesetzt zu werden, etwa, wenn Chruschtschow seinen Österreich-Besuch zu heftigen Attacken auf die NATO nutzte oder Raab auf Moskauvisite erklärte, man wisse in Österreich, dass "der Staatsvertrag hauptsächlich dank der Sowjetunion abgeschlossen" worden sei.
Die intensiven Kontakte zwischen Wien und Moskau und auch die regelmäßigen, nicht immer diplomatisch vorgebrachten sowjetischen Hinweise darauf, was ein Neutraler zu tun und was er zu lassen habe, blieben ebenso wenig ohne Folgen wie die andauernde Nachbarschaft Österreichs zum Warschauer Pakt: Hatte Wien in der Ungarn-Krise noch sein Bundesheer an die Grenze geschickt und die Sowjetunion mutig zur Einstellung des Blutvergießens aufgefordert, blieben 1968 ähnliche Reaktionen aus.
Aber nicht nur die sowjetischen Vereinnahmungen, die Aufforderungen zur "aktiven Friedenspolitik" und der wohldosierte, stete Druck, sondern auch die Übermacht der jenseits der Grenzen stehenden Heere des Warschauer Paktes zeitigten Wirkung. In Anbetracht der Blockkonfrontation verließ die österreichischen Regierungen der Mut, eine ernstzunehmende Landesverteidigung zu schaffen. Hatte man sich ursprünglich zu einer bewaffneten Neutralität entschlossen, suchten Außenminister Kurt Waldheim und nach ihm Bundeskanzler Kreisky mit östlichem Zuspruch nun stattdessen Zuflucht zu einer "aktiven Neutralitätspolitik als bester Sicherheitspolitik".
In der Tat hatte es Österreich versäumt, seinem Bekenntnis zur bewaffneten Neutralität Taten folgen zu lassen. Während die Bilanz auf dem Gebiet der "aktiven Neutralitätspolitik" vor allem in den 1960er und 1970er Jahren durchaus beeindrucken und die internationale Reputation der Neutralität generell und der Rolle Österreichs im Besonderen damit heben konnte, verfehlte das Land völlig, eine zweite Voraussetzung der Erhaltung von permanenter bewaffneter Neutralität zu gewährleisten, nämlich die Sicherstellung der Landesverteidigung.
Das berühmte Diktum des österreichischen Armeekommandanten Emil Spannocchi, "ohne uns, weil's eh nichts nützt",
Dass der Widerspruch zwischen dem im Neutralitätsgesetz verlautbarten Willen, die "Neutralität mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verteidigen", und der Realität nicht zu stärkeren Dissonanzen führte, mag nicht zuletzt auf die beharrlich wiederholte These, Staatsvertrag und immerwährende Neutralität seien "die Gewähr für die Sicherheit Österreichs",
Erst mit Ende des Kalten Krieges brach eine breitere Debatte über die Neutralität auf, in der von kritischen Sicherheitsexperten argumentiert wurde, die Neutralität habe "ihre Funktion verloren".