Einleitung
Hybride Identität bedeutet, dass ein Mensch sich zwei oder mehreren kulturellen Räumen gleichermaßen zugehörig fühlt. Die Untersuchung konzentriert sich auf jene Individuen, die einen muslimischen Migrationshintergrund haben und diesen mit einer nationalen (etwa deutschen, französischen, holländischen usw.) Identität verbinden, also auf "Zweiheimische", die als Teil der Lebenskultur westlicher Einwanderungsländer immer selbstverständlicher werden.
Im 19. Jahrhundert wurde mit dem Begriff "hybride Identitäten" eine Negativabgrenzung vorgenommen.
Auf jeden Fall gehören sie dazu. Sie sind Teil der deutschen und europäischen Gesellschaften. Sie sind keine Fremden, sondern Menschen mit unterschiedlichen "Zugehörigkeitsspielen".
Das Dilemma der Desintegration
Träger hybrider Identitäten gelten in der öffentlichen Wahrnehmung als "Ausländer". Die ständig auftauchende Frage "Woher kommst Du?", die sicher meist auf Interesse beruht, führt bei regelmäßiger Wiederkehr zu dem Bewusstsein, anders: anderer Herkunft zu sein. Für Kinder und Jugendliche kann dies zu einem sozialen Dilemma führen. Dabei hatten 2006 bereits 23 Prozent der in Deutschland geborenen Kinder mindestens ein ausländisches Elternteil, also beinahe jedes vierte Kind.
Desintegration findet auf drei Ebenen statt: auf der sozial-strukturellen, institutionellen und personalen.
Auf der sozial-strukturellen Ebene sticht die ungleich schlechtere Verteilung von Bildungschancen, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen hervor. Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund sind deutlich stärker von Erwerbslosigkeit betroffen; hinzu kommt, dass in Deutschland die soziale Herkunft stärker als in den meisten anderen OECD-Staaten über Bildungschancen entscheidet - wie PISA und andere Studien gezeigt haben. Hauptschulabsolventen und -absolventinnen haben überproportional häufig einen Migrationshintergrund; Jugendliche mit Migrationshintergrund sind seit Jahren von der angespannten Situation am Ausbildungsmarkt besonders stark betroffen. So absolvieren nur 25 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine duale Ausbildung gegenüber 59 Prozent ihrer deutschen Altersgenossen.
Auf der institutionellen Ebene sticht der staatsbürgerschaftliche Status der zweiten und dritten Einwanderergeneration hervor. Die Hürden, die in Deutschland geborene Angehörige der zweiten und dritten Migrantengeneration überwinden müssen, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, erschweren den Zugang zur "kollektiven Identität" in Deutschland. Somit versiegt eine potentielle Quelle positiver Identität in Form erfahrener Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft. Der oftmals mit lästigen Behördengängen verbundene Status als "Fremde(r)" oder "Ausländer(in)" kann sogar als zu geringe "soziale Mobilität" begriffen werden und zu Desintegrationserfahrungen führen.
Auf der personalen Ebene, also innerhalb der sozialen Lebenswelt lebt - so lautet eine häufig vertretene Kultur-Konflikt-These - die zweite Einwanderergeneration "zwischen zwei Kulturen." Mit dieser "Unentschiedenheit" sollen die unterschiedlichen gesellschaftlich defizitären Merkmale von niedrigem Bildungsniveau bis hin zur Kriminalität erklärt werden. Dem ist entgegenzusetzen, dass der gefühlte Zwang zur einseitigen kulturellen Verortung insbesondere für muslimische Jugendliche problematisch ist, empfinden sich diese doch selbst als hybrid: halb/halb, deutsch/muslimisch, französisch/muslimisch, europäisch/muslimisch. Sie sehen sich ständig unter doppeltem Entscheidungsdruck.
Die Folgen können Desintegration, Radikalisierung, Islamismus, anti-westliche Diskurse sein. Die Herausbildung von "Gegenidentitäten" als Reaktion auf mangelnde Integrationsleistungen moderner Gesellschaften bedroht die systemische Struktur Deutschlands und anderer westeuropäischer Einwanderungsländer. Kollektive stellen ihre innere Verbundenheit und Identität häufig durch Abgrenzung nach außen her.
Identitätsfindung ist ein steter Prozess, der zwischen dem Selbstbild, das der Einzelne von sich entwirft, und dem Bild entsteht, das sich seine sozialen Handlungspartner in wechselnden Zusammenhängen von ihm machen. Gelingende Identitätsfindung ist auf Anerkennung durch die Anderen angewiesen.
Parallel dazu können Desintegrationserfahrungen auch zum Erstarken neuer Identitätsmuster führen. So ist innerhalb der muslimischen Communities in Deutschland und Europa das Entstehen einer islamischen Neo-Identität zu beobachten, die sich teilweise durch Abgrenzung zum Deutschsein und durch ein ostentatives Bekenntnis zum Islam definiert, ohne jedoch Gewalt auszuüben. Der angenommene "Neo-Islam" entspricht jedoch keineswegs den traditionellen Lebensformen der Elterngeneration. Vielmehr schaffen sich junge Muslime auf diese Weise eigene Räume, in denen sie - losgelöst von den traditionellen Vorstellungen - eigene, biographisch variable Vorstellungen verwirklichen können. Diese Variationen reichen von sozialen, peripheren Islambekenntnissen bis hin zu teilweise pop-artigen Ausformungen. Der Neo-Islam wird als intersubjektives Kriterium verstanden, um sich in einer veränderten Gesellschaft neu zu positionieren, und zwar sowohl gegenüber den Eltern und dem traditionalen Umfeld, als auch gegenüber den westeuropäischen Mehrheitsgesellschaften; er markiert sozusagen einen "dritten Weg". "In dem Maße, wie die Kinder der Immigranten zu Erwachsenen geworden sind und dieselben Konsum-, Bildungs-, Freizeit- und Berufsvorstellungen wie ihre Altersgenossen aus nicht eingewanderten Familien teilen, haben sich die Bedürfnisse der Einwanderer hinsichtlich der Religion verändert. Der Islam ist immer weniger ein Verbindungselement zur ,Heimat.` Er wird mehr und mehr zu einem Aspekt, an dem sich Zuschreibungen im bundesrepublikanischen Alltag festmachen und an den sich individuelle, soziale sowie politische Auseinandersetzungen knüpfen."
Muslimischsein in Europa
In allen westeuropäischen Nachbarländern ist die Situation vergleichbar, auch wenn die Geschichte der Migrationsbewegungen in den ehemaligen Kolonialmächten (wie Frankreich, Großbritannien, Niederlande) teilweise viel weiter zurückreicht oder - wie zum Beispiel in Spanien - Migration ein eher jüngeres Phänomen darstellt. Die ablehnende Haltung der deutschen Aufnahmegesellschaft gegenüber muslimischen Einwanderern findet jedoch hier ihre Entsprechung, ist doch seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in allen westeuropäischen Ländern eine steigende Islamophobie zu beobachten.
Die Ansätze der Migrations- und Integrationspolitiken in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten sind sehr unterschiedlich, auch was ihren Erfolg betrifft.
Die Identitätsfrage stellt sich hier auf mehreren sich überlagernden Ebenen. Zum einen gilt es zu klären, ob französisch-muslimische, britisch-muslimische, spanisch-muslimische etc. Identitäten als etwas Gegenteiliges empfunden oder ob Gleichzeitigkeit und Vereinbarkeit hybrider Identitätsmerkmale nicht als selbstverständlich wahrgenommen werden.
Nicht zuletzt belastet die Identitätsproblematik immer wieder die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. So wird einerseits betont, dass ein islamisches Land kein Mitglied der EU werden könne; andererseits wird Europa als ein "christlicher Club" bezeichnet. Laut einer Euro-Barometer-Umfrage aus dem Jahre 2005 waren 66 Prozent der befragten Europäer der Meinung, dass die kulturellen Unterschiede zwischen der Türkei und Europa zu groß seien, um deren Beitritt zu ermöglichen. Die Bevölkerung Frankreichs und Deutschlands, ebenso wie jene Österreichs, Zyperns und Griechenlands, steht einem Beitritt der Türkei sehr kritisch gegenüber; bis zu 80 Prozent der Befragten lehnen diesen ab.
Von Seiten der EU wird eine europäische Identität konstruiert, um tiefer liegende Krisen gesellschaftlicher Solidarität und Legitimationsdefizite zu überdecken. Gleichzeitig nutzen radikale muslimische Prediger Europa als Abgrenzungsmodell für antiwestliche Diskurse. Die Versuche, einen theoretischen Ansatz für die Vereinbarkeit von europäischem Gedankengut, Liberalismus und Pluralismus und dem muslimischen Glauben zu entwickeln, wird unter dem Begriff "Euro-Islam" diskutiert. Hier sind vor allem Bassam Tibi und Tarik Ramadan zu nennen.
Der Islam wird in Europa sehr unterschiedlich und vielfältig gelebt, entsprechend den unterschiedlichen Traditionen der jeweiligen Herkunftsländer und den Gestaltungsmöglichkeiten in den Aufnahmegesellschaften. Die Reaktionen muslimischer Migrantinnen und Migranten auf mangelnde Anerkennung reichen - wie bereits für Deutschland beschrieben - von Assimilation und Integration bis hin zu freiwilliger Desintegration und Identifizierung mit transnationalen Netzwerken.
Chancen der Hybridität
Fragen der politisch-kulturellen Identität erhalten in fragmentierten Gesellschaften einen zentralen Stellenwert, da sie sich homogenisierend auf bestimmte Gruppenidentitäten auswirken. Hybridität tritt in Situationen kultureller Überschneidung auf, wenn sich also teilweise gegensätzliche Sinngehalte und Handlungslogiken, die getrennten Handlungssphären entstammen, zu neuen Mustern zusammenfügen. Es kommt zur Infragestellung der Kriterien traditioneller Zugehörigkeit und zur Delokalisierung von Identität. Dies erzeugt Reibung und Energie, die sich sowohl negativ in Abgrenzungsritualen entladen, die aber auch positiv zur Erneuerung überkommener gesellschaftlicher Strukturen beitragen kann. Hybride Identität wird hier im Sinne Edward Saids als variabel, kontextuell und veränderbar verstanden. Es entsteht ein dynamisches Spiel der Zugehörigkeiten (games of belonging). Die Träger hybrider Identitäten sind immer wieder damit konfrontiert, Loyalitäten neu zu verhandeln, Zugehörigkeiten in Frage zu stellen oder Grenzüberschreitungen zu verarbeiten (boundary building). Dies macht sie zu kontextuellen Figuren, deren "Zweiheimischkeit" dazu beitragen kann, das Bild des jeweils Anderen besser in die einzelnen Communities und in die Gesamtgesellschaft hineinzutragen. Die ständige Konfrontation mit Unterschiedlichkeit mündet nicht selten in Zusatzqualifikationen, durch welche die Träger hybrider Identitäten im innergesellschaftlichen Wettbewerb in bessere Positionen gelangen könnten als dies derzeit der Fall ist. Ihre Fähigkeiten des Umgangs mit kultureller wie persönlicher Differenz, Kenntnis anderer Modelle des Gemeinschaftslebens, Mehrsprachigkeit und ihre Empathie, die sie immer wieder einsetzen müssen, um teilweise gegensätzliche kulturelle Muster in sich selbst auszutarieren, kann folglich als Potential gewertet werden, das sie zu Mittlern, Mediatoren und Verhandlungspartnern befähigt - dort wo es zu Konflikten kommt, die auf unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten basieren. Sie können jedoch - wie oben dargelegt - auch zu Persönlichkeitsspaltung und Radikalisierung führen.
Seit der Islamischen Revolution im Iran 1979, als die ersten Bilder politisierter, bärtiger Muslime über das Fernsehen in westliche Lebenswelten eindrangen, spätestens jedoch seit dem 11. September 2001 schlägt sich die auf der außenpolitischen Ebene erfolgte akute Abgrenzung zwischen westlichen und islamischen Ländern in den Innenräumen der westlichen Einwanderungsländer nieder: Eine beiderseitige Entfremdung zwischen Mehrheitsgesellschaft und muslimischen Einwanderern ist zu beobachten. Während in der Außenpolitik internationale Konfliktereignisse wie der Nahostkonflikt, der Irakkrieg oder der Afghanistankonflikt, sowie die Berichterstattung über Terroranschläge durch islamistische Fanatiker dominieren, findet im Innern - auf nationaler Ebne - eine schleichende gesellschaftliche Vergiftung statt. Begriffe wie "Parallelgesellschaft", homegrown terrorism, Hassprediger, Zwangsehe und Ehrenmord überlagern die Wahrnehmung der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft zum Thema Islam und führen zu ansteigender Islamophobie. Laut einer im Mai 2006 veröffentlichten Allensbach-Umfrage stimmten 83 Prozent der Befragten der Aussage zu, der Islam sei fanatisch, 62 Prozent betrachteten ihn als rückwärtsgewandt, 71 Prozent als intolerant, 60 Prozent als undemokratisch. 91 Prozent der Befragten gaben an, dass sie beim Stichwort Islam zuallererst an die Benachteiligung von Frauen dächten.
Angesichts einer wachsenden Zahl von Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund stellen solche Vorurteile und Entfremdungsprozesse eine Bedrohung des gesellschaftlichen Konsenses und des inneren Friedens dar. In einer solchen politischen Situation bedarf es der Vermittler, die Kommunikationskanäle nach beiden Seiten öffnen oder herstellen können. Hier können Träger hybrider Identitäten eine bedeutende Rolle spielen. Durch den anhaltenden Prozess des Sich-Unterscheidens, den sie durchleben, verhalten sie sich der Differenz gegenüber intuitiv offener und flexibler. Sie entwickeln die Fähigkeit, sich wechselseitig von eigenen Standpunkten und denen der Anderen zu distanzieren, womit sie einen gangbaren Weg zur Zusammenführung von Gleichem und Verschiedenem weisen. Die individuell vollzogene Integration verschiedener Kulturen - wie sie bei hybriden Identitäten gegeben ist - kann konstruktiv genutzt und in die Gesellschaft hineingetragen werden. Dies gilt für die deutsche wie für die europäische Ebene.
Träger hybrider Identitäten können letztendlich auch als "Brückenmenschen" oder Mediatoren auf der internationalen Ebene fungieren. Sie spielen eine bedeutende Rolle im Annäherungsprozess zwischen Europa und den Herkunftsländern der muslimischen Migrantinnen und Migranten, insbesondere den Ländern des südlichen und östlichen Mittelmeerraumes. In Netzwerken von Migranten mit muslimischem Hintergrund, die sich zwischen Europa, der Türkei, Nordafrika und dem Nahen Osten bewegen, bilden sich zunehmend hybride Identitäten aus. Diese können als Träger konstruktiver Identitätsangebote im Sinne einer vertieften politischen und kulturellen Partizipation in den europäischen Mehrheitsgesellschaften fungieren. Die restriktive Visa- und Asylpolitik der einzelnen EU-Mitgliedstaaten hat unter anderem auch dazu geführt, dass die Zahl binationaler Ehen im euro-mediterranen Raum erheblich zugenommen hat. Es wird von ca. 20 Millionen binationalen, euro-arabischen Ehen im Mittelmeerraum gesprochen. Die aus diesen Ehen und Beziehungen hervorgegangenen Kinder und Jugendlichen fallen auch unter den Begriff "hybride Identitäten." Neben beidseitigen kulturellen Anpassungsproblemen werden neue Fragen aufgeworfen, wie etwa die Kompatibilität des Familienrechts (Sorgerecht, Namensrecht etc.). Gleichzeitig stellen hybride, europäisch-muslimische Migranten eine potentielle Vermittlergruppe zwischen dem Norden und Süden des Mittelmeerraums dar, zwischen Europa und der islamisch geprägten Welt. Hybride Integrationsfiguren werden in den meisten westeuropäischen Gesellschaften zunehmend sichtbar. Deren Potential für den Integrationsprozess gilt es zu untersuchen und zu profilieren, um die beidseitig zu beobachtende Entfremdung zwischen der westlichen Mehrheitsgesellschaft und den Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund in Deutschland und Europa zu überbrücken.