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Soziale Gerechtigkeit - ein politischer "Kampfbegriff"? | Soziale Gerechtigkeit | bpb.de

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Soziale Gerechtigkeit - ein politischer "Kampfbegriff"?

Frank Nullmeier

/ 14 Minuten zu lesen

Der Begriff "Soziale Gerechtigkeit" spielt auch in den Parteiprogrammen eine große Rolle. Bei den Debatten um ihn geht es letztlich um das Selbstverständnis unserer Gesellschaft.

Einleitung

Soziale Gerechtigkeit ist eine zentrale Kategorie bei der Bewertung politischer Leistungen einer Regierung. Ihre Verletzung wird beklagt, wenn es um Managergehälter, Bankenrettungen und Unternehmenssubventionen geht. Auch die Widerstände gegen die Agenda 2010 und die Hartz-IV-Reformen sowie das Erstarken der Partei Die Linke haben soziale Gerechtigkeit neuerlich zum politischen Zentralthema gemacht. Bei den hart geführten Debatten gerät der Maßstab "soziale Gerechtigkeit" selbst immer wieder zum Streitobjekt: Er wird ganz unterschiedlich definiert und interpretiert, andere halten den Begriff für eine leere Hülse oder lehnen ihn als gänzlich verfehlt ab. Die Auseinandersetzung über soziale Gerechtigkeit ist insofern reflexiv, als nicht mehr allein über die gerechten bzw. ungerechten Zustände und politischen Vorhaben gesprochen wird, sondern über den Gerechtigkeitsbegriff selbst.



Dies ist kein Sonderfall: Politik vollzieht sich in erheblichem Maße über Sprache - sei es in Reden, Parteiprogrammen oder auch Gesetzestexten. Entsprechend ist Politik als Auseinandersetzung über das für alle Mitglieder einer Gemeinschaft verbindlich Geltende auch eine Auseinandersetzung über Sprache. Bezeichnet man einen Begriff jedoch als "Kampfbegriff", ist damit mehr gemeint als nur diese generelle Umstrittenheit. Es ist der Vorwurf einer Instrumentalisierung von bestimmten Vokabeln für partikulare, gerade nicht auf das Gemeinwohl zielende Interessen. Diese Zwecke werden zudem im Begriff selbst verdeckt und verborgen. Sprache fungiert dann lediglich als Instrument der Bemäntelung von (eventuell für bestimmte Bevölkerungsteile belastenden) Entscheidungen. Wer also von sozialer Gerechtigkeit als Kampfbegriff spricht, unterstellt den Vertretern dieser Gerechtigkeitsforderung, sie verfolgten keine wertbestimmten, der gesamten Gesellschaft verpflichteten Ziele, sondern eigene Interessen.

Derartige Sprach- und Begriffskämpfe sind mithin nicht auf die Zeiten der großen politischen Strömungen des Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus beschränkt, die sich wechselseitig der Ideologiebildung beschuldigten. Die politische Bedeutung der Auseinandersetzung über Worte wurde gerade den in die Defensive geratenen konservativen Parteien im Gefolge der Studentenbewegung Anfang der 1970er Jahre bewusst, und es wurde die Konzeption des "Begriffe Besetzens" entwickelt. Heute verzichten die Politstrategen auf einen derart militärisch inspirierten Ausdruck und sprechen eher von "politischem Kommunikationsmanagement" oder - bezogen auf Werte wie Gerechtigkeit - "Werte-Marketing" bzw. value branding.

So haben alle deutschen Parteien nach 1995 ihren Programmkommissionen in der einen oder anderen Weise die Aufgabe erteilt, über den Gerechtigkeitsbegriff nachzudenken. In einem manchmal durchaus engen Zusammenspiel zwischen Parteien und einzelnen Wissenschaftlern ist die Gerechtigkeitsterminologie geprüft und in den programmatischen Dokumenten verschoben worden. Aber auch außerhalb dieser engen parteipolitischen Zirkel kann sich der Gerechtigkeitsbegriff nicht den politischen Konflikten entziehen - so gibt es etwa im Feuilleton und in der Wissenschaft markante Versuche der bewussten und durchaus politisch motivierten Begriffsprägung und Neuinterpretation.

Der Terminus "soziale Gerechtigkeit" verdankt sich jedoch nicht solchen Begriffsstrategien und sprachpolitischen Interventionen. Die Verbindung von "sozial" und "Gerechtigkeit" setzte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch. Ursächlich dafür waren die politische Brisanz der "sozialen Frage", die erstarkende Arbeiterbewegung und die Entstehung der ersten Sozialversicherungen. In der Programmatik sozialdemokratischer Parteien wurde er nicht zuerst eingesetzt, hier tauchten eher die Formeln "gleiche Rechte" und "gerechte Verteilung" auf. Nur langsam - mit bedingt durch das Vordringen "sozialer Gerechtigkeit" in der katholischen Soziallehre - hat sich das Grundverständnis von sozialer Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit herausgebildet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist soziale Gerechtigkeit zum Grundbegriff des expandierenden Sozialstaates geworden. Mit ihm werden breite soziale Sicherung, Armutsvermeidung, gleiche Rechte und Chancen für alle sowie eine dazu erforderliche Umverteilung der Einkommen von den Gutverdienenden zu den schlechter Gestellten oder Einkommenslosen gerechtfertigt. Soziale Gerechtigkeit ist so der Sozialstaatswert überhaupt geworden. Ein Angriff auf soziale Gerechtigkeit - und das ist auch die Kennzeichnung als Kampfbegriff - ist daher meist mit einem Angriff auf den Sozialstaat insgesamt, seine gegenwärtige Gestalt oder auf Forderungen nach Ausbau sozialer Leistungen verbunden.

Bemerkenswert ist der Streit um Gerechtigkeit dadurch, dass man in aller Öffentlichkeit zwar gegen soziale Gerechtigkeit eintreten kann, nicht jedoch für weniger Gerechtigkeit. "Mehr Ungerechtigkeit" ist keine denkbare Parole. Darin unterscheidet sich die alltägliche politische Verwendung des Gerechtigkeitsbegriffs durchaus von dem der Gleichheit. Es gibt in der deutschen politischen Landschaft Forderungen nach mehr Ungleichheit, oft in die Frage gekleidet "Wieviel Ungleichheit ist gerecht?" Das ist bei Gerechtigkeit anders: Gerechtigkeit wird in der politischen Öffentlichkeit durchweg als positiver Maßstab angesehen und Ungerechtigkeit als durchweg negativ. Das gilt jedoch nur für die gleichsam schlichte Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit hingegen kann man als Kampfbegriff kritisieren und zurückweisen.

Dabei zeigt sich in Verwendung und Ablehnung sozialer Gerechtigkeit eine hohe Konstanz: Soziale Gerechtigkeit ist und bleibt eine Forderung der (im weiten Sinne) politischen Linken, sie steht für ein höheres Maß sozialer Gleichheit und sozialer Sicherung, während die Abwehr von (mehr) Sozialstaatlichkeit, (mehr) Umverteilung und einer stärkeren Regulierung des Marktes mit einer Kritik von Begriff und Deutung sozialer Gerechtigkeit einhergeht. Die Begriffsverwendung folgt bis in die Wahlprogramme der diesjährigen Bundestagswahl wesentlich der Rechts-Links-Achse des Parteiensystems. Insofern ist soziale Gerechtigkeit ein Konflikt-Begriff: Er bildet die Grundlinie der politischen Auseinandersetzungen ab und verdankt die Anstrengungen um seine Interpretation dem Konflikt zwischen jenen, die dem Sozialstaat skeptisch gegenübertreten und jenen, die ihn eher befürworten.

Im Folgenden werden drei Formen des politisch-sprachlichen Umgangs mit sozialer Gerechtigkeit vorgestellt: die Ergänzung des Vokabulars soziale Gerechtigkeit durch die Entwicklung "neuer Gerechtigkeiten", die Kritik und Entlarvung aller Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit als Ausdruck von Sozialneid und schließlich die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Leistungsgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit.

Neue Gerechtigkeiten

Die Gerechtigkeitsdiskussion in Wissenschaft und Politik basiert auf einem Vokabular, das neben der Spezifikation "soziale Gerechtigkeit" noch eine Zahl weiterer Gerechtigkeiten kennt. Darunter finden sich auf einzelne Lebensbereiche bezogene Begriffe wie Wehr- und Steuergerechtigkeit. Für das Verständnis des deutschen Sozialstaates waren aber die Unterscheidung - und die Verbindung - von Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit entscheidend. Der Sozialversicherungsstaat beruht auf der Integration von Lohn- und Einkommensbezug der sozialen Leistungen, ihrer Abhängigkeit von vorherigem Arbeitseinkommen und der Definition standardisierter, für alle geltender Bedarfsgrößen. Zu diesen traditionellen Verfeinerungen der Verteilungsgerechtigkeit sind in den vergangenen 15 Jahren aber eine Fülle neuer Gerechtigkeiten hinzugetreten, darunter Teilhabe-, Teilnahme-, Geschlechter-, Generationen-, Befähigungs- und globale Gerechtigkeit. Nur wenige Begriffe konnten sich jedoch in der Öffentlichkeit durchsetzen, darunter zwei, die hier in ihren Folgen für das Verständnis sozialer Gerechtigkeit vorgestellt werden sollen: Generationen- und Teilhabegerechtigkeit.

Zwar sprach man schon in den 1950er Jahren vom "Generationenvertrag" und von der "Generationensolidarität", insbesondere in der gesetzlichen Rentenversicherung, doch der Begriff "Generationengerechtigkeit" fand erst 1997 Eingang in die politische Sprache. Aus einem Konflikt um die Rentenpolitik hervorgegangen, setzte sich der Terminus sehr schnell bei den Parteien durch. Schon im Jahr 2000 bezeichneten sich Bündnis 90/Die Grünen als "Partei der Generationengerechtigkeit". Die breite Übernahme des Begriffs machte eine neue Komplexität verteilungspolitischer Fragen sichtbar. Unter sozialer Gerechtigkeit nur die Frage nach den Verteilungsverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit zu verhandeln, erschien politisch wie wissenschaftlich nicht mehr angemessen. Generationengerechtigkeit bot die Möglichkeit, am Leitwert Gerechtigkeit festzuhalten, aber Fragen "alter Verteilungspolitik" zu verabschieden.

So setzte sich eine Entgegensetzung beider Gerechtigkeitsbegriffe fest: Was sozial gerecht schien, konnte in der Generationenperspektive als ungerecht erscheinen, als Bereicherung der Gegenwart auf Kosten der Zukunft oder der Alten auf Kosten der Jungen. In den vergangenen Jahren ist neben der Rentenpolitik vor allem die Staatsverschuldung als intergenerationelles Gerechtigkeitsproblem thematisiert worden.

Der zweite neue Gerechtigkeitsbegriff, der hier vorgestellt werden soll, betrifft die Teilhabe. Das Wort "Teilhabe" wurde bereits in den 1950er Jahren durch Ernst Forsthoff in die sozialpolitische Debatte eingeführt. Das Konzept der Teilhaberechte wurde schließlich zum Kernbegriff einer stark sozialstaatlich orientierten Grundrechtsinterpretation. Der Staat hat demnach auch die Aufgabe, die Nutzung und Inanspruchnahme der Grundrechte durch alle Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen. Erst seit den 1990er Jahren findet die Formel "Teilhabegerechtigkeit" Verwendung. Gegenüber dem eher expansiven Verständnis von Teilhaberechten führt Teilhabegerechtigkeit die Anforderungen an den Staat wieder zurück: Sie verlangt im Grunde nur die Vermeidung von Exklusion.

Während der Begriff der Verteilungsgerechtigkeit graduell gefasst ist und die gesamte Verteilungsskala von Arm bis Reich umfasst, konzentriert sich der Teilhabebegriff auf die Inklusion, die Teilhabe überhaupt als soziales Minimum, nicht jedoch auf das Ausmaß der Teilhabe. Die Gestaltung der sozialen Verhältnisse jenseits der Schlechtgestellten und von Armut Bedrohten wird durch Teilhabegerechtigkeit nicht erfasst. Damit folgt der Begriff durchaus der Verschiebung sozialer Problemlagen hin zu Dauerarbeitslosigkeit, Kinderarmut, Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und Gefahr der sozialen Ausgrenzung ganzer Gruppen. Teilhabegerechtigkeit kann daher als Ausprägung von sozialer Gerechtigkeit verstanden werden - mit besonderer Blickrichtung auf die neuen Problemlagen. Sie kann aber auch zur Senkung der Ansprüche an ein soziales Sicherungssystem führen.

Die Vervielfältigung der Gerechtigkeitsbegriffe bietet den Parteistrategen wie anderen Begriffspolitikern hinreichend Spielraum, um Teilhabe- oder Generationengerechtigkeit gegen Verteilungsgerechtigkeit zu setzen, wodurch eine Polarisierung innerhalb des Gerechtigkeitsdenkens erreicht wird. Aber auch der umgekehrte Fall der Harmonisierung tritt auf: Verschiedene Gerechtigkeiten werden als "miteinander vereinbar", als "zusammengehörig" oder als "Einheit" verstanden. So macht die Pluralisierung der Gerechtigkeiten alles komplizierter, sind doch die Beziehungen zu klären, aber auch leichter: In irgendeiner Hinsicht erscheint jede politische Maßnahme als gerecht.

Parteien im Wahlkampf - Semantiken der Gerechtigkeit

Die Verwendung dieser neuen Gerechtigkeitsvokabeln sowie der Worte "soziale Gerechtigkeit" differiert auffällig zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien. Schlägt man in den Programmen zur Bundestagswahl 2009 nach, werden recht unterschiedliche Gerechtigkeitsprofile sichtbar: Im Regierungsprogramm 2009 - 2013 von CDU und CSU fehlt die Vokabel "soziale Gerechtigkeit". Aber es werden darin drei Komposita als Ausprägungen von Gerechtigkeit verwendet: Leistungs-, Generationen- und Chancengerechtigkeit. Zentrale Bedeutung hat für die Union die Schaffung einer Chancengesellschaft, die jedem Einzelnen die Möglichkeit zur Entfaltung durch Leistung bietet. Ähnlich ist es bei der FDP, die ihr Konzept des Bürgergeldes sowohl für sozial gerecht als auch für leistungsgerecht hält. Den Begriff Generationengerechtigkeit legen die Liberalen so aus, dass jede Generation sich aus eigener Kraft und in eigener Verantwortung um sich kümmern müsse. Dieser dem Wortsinn nicht ganz entsprechende Verzicht auf einen generationenübergreifenden Ausgleich verbindet sich mit dem Appell an Eigenverantwortung als Chiffre für mehr private Eigenvorsorge.

Bündnis 90/Die Grünen waren die Ersten, die sich den neuen Gerechtigkeiten verschrieben hatten - durchaus, um soziale Gerechtigkeit als alleinigen Gerechtigkeitsmaßstab vermeiden zu können. Die in den vergangenen Jahren gewachsene Kritik am rot-grünen Regierungsprogramm der Agenda 2010 hat aber die Polarisierung zwischen alter sozialer Gerechtigkeit und neuen Gerechtigkeiten obsolet werden lassen. Im Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen dominiert die Wertharmonisierung: "Deshalb verbinden wir Verteilungsgerechtigkeit mit Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und globaler Gerechtigkeit."

Das Programm der SPD dagegen verzichtet auf die neuen Gerechtigkeiten, es kennt weder Chancen- noch Teilhabe- noch Generationengerechtigkeit. Wenngleich Teilhabe und Chancengleichheit wichtige Ziele sind, wird Gerechtigkeit meist mit dem Attribut "sozial" versehen. Gleiches gilt für das Wahlprogramm der Partei Die Linke, das für "soziale Gerechtigkeit, für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, für die Interessen der Lohnabhängigen und für die gleichberechtigte Teilhabe der vom Kapitalismus Ausgegrenzten und Ausgemusterten" plädiert. Neben der Geschlechtergerechtigkeit, die sonst nur bei den Grünen vorkommt, fällt die Fülle an Aussagen auf, die sich auf ungerechte Zustände, die Ungerechtigkeit des Kapitalismus oder des Rentensystems beziehen. Wertepolitik wird hier als Kritik ungerechter Zustände betrieben.

Gerechtigkeit oder Sozialneid?

Eine zweite Form der Auseinandersetzung liegt darin, alle Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit als Ausdruck bloßen "Neids" erscheinen zu lassen. Diese Argumentation hat sich zu einer regelrechten "Neiddebatte" fortentwickelt, die sich, gemessen an der Berichterstattung in Qualitätszeitungen, in den Jahren 2004 bis 2007 intensiviert hat und einem generellen Muster folgt: Die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit wird kritisiert und zurückgewiesen, sie gründe auf "Sozialneid" oder schüre nur den "Neid". Steuern mit Umverteilungswirkung werden als "Neidsteuern" bezeichnet, die stark sozialstaatlich geprägte Bundesrepublik als "Neidgesellschaft" tituliert. Im Lande herrsche ein "kollektiver Neidreflex", der allen Persönlichkeiten und Gruppen, die Vorteile, Verdienste oder Privilegien genössen, zum Verhängnis werden könne und "Spitzenleistungen" nicht anerkenne.

Der typische Neiddiskurs ist aber in die Krise geraten. Angesichts der Diskussionen über vermeintlich überzogene Managergehälter, die bereits vor der Finanzmarktkrise einsetzte, thematisierte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Dezember 2007 die Begrenzung von Managergehältern und tadelte den Neidvorwurf als unangemessen: "Deshalb ist meine Bitte (... ): Nehmen Sie diese Debatte ernst. Tun Sie sie nicht einfach als Neiddebatte ab und legen Sie sie nicht wieder unter den Tisch, sondern nehmen Sie sie ernst. (...) Es hat niemand etwas dagegen, dass erfolgreich verdient wird, wenn erfolgreich gewirtschaftet wird. Aber es gibt ein großes Gefühl von Unwohlsein, wenn man eigentlich ohne öffentliche Diskussion erhebliche Risiken heraufbeschwört und anschließend - anders als die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - ohne persönliches Risiko davonkommt." Die Krise der Finanzmärkte seit September 2008 hat das Neidvokabular zunächst noch weiter in die Defensive gebracht. Nun hatte die "Gier" Hochkonjunktur.

Neiddebatte und Gier-Zuschreibung an Banker und Manager reduzieren Grundfragen gesellschaftlicher Ordnungsbildung auf das Vorherrschen von Lastern. Es geht aber um die Verfassung einer Gesellschaft, um Institutionen, die das sicherlich immer zu erwartende Fehlverhalten von Individuen begrenzen sollen. Ein Diskurs über die angemessenen Institutionen kann Gerechtigkeitsfragen nicht ausweichen. Die Frage, welche Institutionen normativ erstrebenswert sind, lässt sich nur mit Rückgriff auf Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität klären.

Im Zentrum des Konflikts: Leistungsgerechtigkeit

Trotz aller neuen Gerechtigkeitsfragen wird die öffentliche Auseinandersetzung über soziale Gerechtigkeit nach wie vor von der Frage bestimmt, in welchem Verhältnis Markt und Staat zueinander stehen. Die Vertreter von "mehr Markt" nutzen "Leistungsgerechtigkeit" zur Rechtfertigung ihrer Position: Die Formel "Leistung muss sich (wieder) lohnen" ist allgegenwärtig und zielt auf die Senkung von Steuer- und Beitragsbelastung der Einkommen und auf weniger Staat. Was Leistungsgerechtigkeit aber ist und ob sie sich als Hauptmaßstab von Gerechtigkeit überhaupt verteidigen lässt, ist keineswegs einfach zu bestimmen.

Bereits Aristoteles hatte die logische Struktur gerechter Verteilung nach Kriterien der Leistung bzw. des Verdienstes entfaltet. Es bedarf des Vergleichs mit anderen Personen und deren Leistungen, um eine gerechte Verteilung bestimmen zu können. Gerechtigkeit verlangt Ungleichverteilung gemäß den unterschiedlichen Graden des Verdienstes, das heißt der Leistung. Eine "Leistungsgesellschaft" ist dann realisiert, wenn ganz überwiegend in einer Gesellschaft nach Leistung ent- und belohnt wird. Dazu muss aber weitgehend Konsens darüber bestehen, was ein Beitrag für die Gesellschaft ist. An dieser Frage entzünden sich seit Ende der 1960er Jahre die sozialwissenschaftlichen und philosophischen Debatten.

In John Rawls' Werk, das die gesamte Gerechtigkeitsdiskussion seit über dreißig Jahren beherrscht, findet sich eine klare Absage an jede Form der Gerechtigkeit nach Verdienst: Zum einen spiegelten sich in den als Leistung zu wertenden Beiträgen des Einzelnen die Willkür der Natur (Anlagen) und die Vorteile der Herkunft, zum anderen sei kein gesellschaftlicher Konsens über das Gute zu erzielen, zu dem die Tätigkeit des Einzelnen einen Beitrag leiste. Rawls' Angriff auf das Denken in Verdienstkategorien ist radikal: "Man hat seinen Platz in der Verteilung der natürlichen Gaben ebenso wenig verdient wie seine Ausgangsposition in der Gesellschaft." Die Fähigkeit zur Leistung ist unverdient, deshalb ist die Einrichtung einer Gesellschaft nach Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit ungerecht. Hier wird die Frage nach der Verdienstgrundlage radikalisiert - mit der Folge, dass sich ein expansiver Sozialstaat mit Gerechtigkeitsargumenten begründen lässt.

Ein weiterer Angriff auf die Leistungsgerechtigkeit erfolgte von ganz anderer Seite, indem die übliche Beziehung zwischen Leistung und Markt in Frage gestellt wurde: Der schärfste Kritiker von Begriff und Inhalt "sozialer Gerechtigkeit", Friedrich A. von Hayek, hat auch die Leistungsgerechtigkeit als Merkmal moderner Marktwirtschaften verworfen. Das Marktgeschehen lasse sich nicht nach Maßstäben der Gerechtigkeit bewerten. Schon der Terminus der sozialen Gerechtigkeit sei sinnlos. Der Mechanismus des Marktwettbewerbs ist für Hayek ein freiheitlicher Weg der Koordination von Interessen und Wissensbeständen sehr vieler Individuen. Was im Markt als Belohnung für den Einzelnen und seine Anstrengungen herauskommt, hänge in höchstem Maße von den Zufälligkeiten der Angebots-Nachfrage-Verhältnisse ab, nicht jedoch vom Können des Einzelnen oder seinen Beiträgen zu einem gesellschaftlichen Ganzen. Belohnt werde in der Marktwirtschaft allein der Markterfolg. Hayek zeigt, dass Löhne und Gewinne sich in einer Marktwirtschaft aus der Nachfragesituation und aus den Charakteristika der natürlichen oder familiären Ausgangslage ergeben, aber in keiner Relation zu Verdiensten oder Leistungen stehen. Weil Hayek zwischen Verdienst, Leistung und Anstrengung einerseits und situativ bedingtem Erfolg aufgrund von Nachfrage und Angebot genau unterscheidet, kann er den Markt nicht als Realisierung des Leistungsprinzips rechtfertigen, sondern nur als Mittel der Beförderung von Freiheit und Wachstum.

Genau diese Differenzierung zwischen Markterfolg und Leistung wird jedoch in den politischen Debatten meist nicht gemacht. In der Formel "Leistung muss sich wieder lohnen" meint Leistung nur puren Markterfolg, und umgekehrt wird bloßer Markterfolg auch als Leistung gewertet. Auf den beschleunigten Märkten von heute vollzieht sich eine noch weiter gehende Orientierung am kurzfristigen Erfolg, welche die Hoffnung, "Können", "Anstrengung" und "Kompetenz" seien die zentralen Voraussetzungen der Entlohnung, zunichtemacht. Die Idee, eine nicht mehr allein auf den Markterfolg, Erwerbsarbeit und männliche Lebensverlaufsmodelle gerichtete Leistungsgesellschaft zu entwickeln, wie sie zum Beispiel in Axel Honneths "Theorie der Anerkennung" entwickelt wird, findet nicht ins Zentrum der politischen Debatte.

Und die Finanzmarktkrise hat trotz des allgemein sichtbaren Versagens unregulierter Märkte doch das Konzept der Leistungsgesellschaft als Markterfolgsgesellschaft gestärkt. Gerade die Krise der Märkte hat gezeigt, wie sehr man auf sie angewiesen ist, wie sehr alles eine Frage des Marktglücks ist. Die Reaktion darauf ist eine Art Marktschicksalsergebenheit. Man findet sich ab mit dem Hin und Her der Konjunktur, mit Glück und Zufall im Wettbewerbsgeschehen, mit Schnäppchen und Zwang zum Verzicht. Dieser alltäglich gewordene Marktfatalismus korrespondiert mit den verstärkten Anstrengungen anderer, gerade aus den gehobenen Mittelschichten, doch wenigstens individuell ein Durchkommen zu schaffen auf den globalisierten Bildungs- und Statusmärkten.

Wenn Leistungsgerechtigkeit aber nur noch heißt, den puren Markterfolg zu belohnen, ist der Charme eines an der Sache und am Können orientierten Leistungsstrebens verloren. Markterfolg als Maßstab kennt nur Gewinner und Verlierer und ist nicht am Können, sondern an Angebot und Nachfrage ausgerichtet. Wer Leistung mit Erfolg am Markt übersetzt, verengt den gesellschaftlichen Zusammenhang auf ein ökonomisches Wachstumsbündnis - aus dem aber immer mehr Personen herausfallen. Bei der - wie immer polemisch geführten - Debatte um Leistung und soziale Gerechtigkeit geht es also letztlich um das Selbstverständnis einer Gesellschaft.

Die Auseinandersetzung über soziale Gerechtigkeit und deren Interpretation ist mithin keineswegs allein Angelegenheit für Marketingspezialisten der politischen Parteien. Es geht auch nicht um symbolische Politik zur Befriedung der Bevölkerung angesichts schwer durchschaubarer Entwicklungen. Soziale Gerechtigkeit ist mehr als ein Kampfbegriff, auch wenn sie weiterhin umstritten, ja umkämpft bleibt. Auf keinen Fall ist soziale Gerechtigkeit ein Kampfbegriff, dem andere Wertbegriffe als neutrale und unumstrittene Begriffe gegenüberstehen. Wenn wir wissen wollen, wie wir leben wollen, ist die argumentative Auseinandersetzung mit den verschiedenen Interpretationen sozialer Gerechtigkeit der angemessene Weg.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. David Miller, Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt/M.-New York 2008.

  2. Vgl. Lutz Leisering, Paradigmen sozialer Gerechtigkeit: Normative Diskurse im Umbau des Sozialstaates, in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld/Steffen Mau (Hrsg.), Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M.-New York, S. 29 - 68.

  3. Detaillierte Angaben in Frank Nullmeier, Der Diskurs der Generationengerechtigkeit in Wissenschaft und Politik, in: Kai Burmeister/Björn Böhning (Hrsg.), Generationen und Gerechtigkeit, Hamburg 2004, S. 62 - 75.

  4. Die Ursprungskonzeption findet sich bei Ernst Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1954 - 1973, München 19762. Die Anfang der 1970er Jahre vom Bundesverfassungsgericht vertretene Version unterscheidet sich deutlich von der Forsthoff'schen Version.

  5. Vgl. Bundesregierung (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Köln 2008.

  6. Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagswahlprogramm 2009, S. 18.

  7. Die Linke, Wahlprogramm 2009, S. 56.

  8. Der Artikel basiert in seinen Aussagen zum öffentlichen Auftreten des Neid- und Gierbegriffs auf (quantitativen wie qualitativen) Analysen von Qualitätszeitungen und -zeitschriften mittels Recherchen in der Datenbank Factiva. Die hier aufgeführten Formulierungen treten gehäuft auf, so dass auf Einzelnachweise verzichtet wurde.

  9. Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Arbeitgebertag 2007 der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin 11. 12. 2007, online: www.bundeskanzlerin.de/nn_5296/Content/DE/Rede/ 2007/12/2007 - 12 - 11-arbeitgebertag.html (12.10.2009).

  10. Michael Young führte für eine derart von Leistung und Verdienst (engl. merit) bestimmte Gesellschaft den Begriff "Meritokratie" ein. Vgl. Michael Young, The Rise of Meritocracy, London 1958.

  11. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975, S. 125.

  12. Vgl. Friedrich A. von Hayek, The Constitution of Liberty, Chicago 1960; ders., Recht, Gesetz und Freiheit, Tübingen 2003.

  13. Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M. 1992; Nancy Fraser/Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung?, Frankfurt/M. 2003.

Dr. rer. pol., geb. 1957; Professor für Politikwissenschaft, Leiter der Abteilung Theorie und Verfassung des Wohlfahrtsstaates am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, Parkallee 39, 28209 Bremen.
E-Mail: E-Mail Link: frank.nullmeier@zes.uni-bremen.de