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Ende der Volksparteien - Essay | Bundestagswahl 2009 | bpb.de

Bundestagswahl 2009 Editorial Mehr Optionen, gesunkene Erwartungen - Essay Ende der Volksparteien - Essay Regierungswechsel ohne Wechselstimmung Koalitionsaussagen und Koalitionsbildung Angela Merkel als Regierungschefin und als Kanzlerkandidatin Onlinewahlkampf 2009

Ende der Volksparteien - Essay

Peter Lösche

/ 16 Minuten zu lesen

Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische, also strukturelle Gründe haben zum Ende der Volksparteien geführt. Die sozialmoralischen Milieus, auf denen sie basierten, erodieren. Ein neuer Parteitypus entfaltet sich.

Einleitung

Alle wissen es, und die Spatzen zwitschern es von den Dächern: Das deutsche Parteiensystem befindet sich im Umbruch. Ausdifferenzierung, zunehmende Fragmentierung, Segmentierung, Volatilität, Unsicherheit sind angesagt. Niemand weiß, ob es beim Fünfparteiensystem bleibt oder ob weitere Parteien dazu stoßen und die Fünfprozenthürde überwinden. Am Horizont kreuzen die Piraten auf. Die Lokal- und die Regionalparteien der Freien Wähler könnten erfolgreich sein, wenn sie sich denn - wie in Bayern - landes- oder gar bundesweit zusammenschließen. Und das rechtsextremistische und rechtspopulistische Wählerpotential will nicht weichen, sondern ist punktuell bei Landtagswahlen realisiert worden.



Die guten alten Zeiten, in denen Stabilität und Kontinuität unser Parteiensystem charakterisierten und in denen es darauf ankam, welche von den beiden "Großen" die eine "Kleine" für eine Koalition zu gewinnen vermochte, sind endgültig vorbei. Gibt der Bürger seine Stimme einer Partei, kann er bestenfalls spekulieren, für welche Regierungskoalition er votiert hat. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert befinden sich unser Parteiensystem und unsere Parteien im permanenten Umbruch - eigentlich nichts Neues und doch immer wieder überraschend, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, etwa bei der Bundestagswahl oder den Landtagswahlen dieses Jahres. Ganz verstanden haben wir noch nicht, was sich da abspielt, trotz einschlägiger Literatur zu dieser Thematik, die inzwischen zu Stapeln getürmt wird. Vor allem ist noch nicht begriffen worden, dass und wie die einzelnen Parteien sich von Grund auf, ja radikal verändert haben.

Im Mittelpunkt dieses Wandels steht das Ende der Volksparteien, jenes Parteitypus, der jahrzehntelang die bundesrepublikanische Politik so nachdrücklich geprägt hat. Indes beharrt heute fast jede Partei selbst unter den "Kleinen" darauf, Volkspartei zu sein. Das gilt erst recht für die beiden "Großen": Trotz der eklatanten Wahlniederlagen in den vergangenen Jahren hält die Sozialdemokratie daran fest, sich wieder zur siegreichen Volkspartei regenerieren zu können. Und die Christdemokratie lässt sich durch stagnierende oder sinkende Wählervoten nicht irritieren, sondern behauptet, die letzte große Volkspartei im Lande zu sein. Die Realität hingegen ist eine andere: Das Zeitalter der Volksparteien kommt zu seinem Ende, diese sind gesellschaftlich, politisch und historisch überholt.

Was heißt "Volkspartei"?

Doch was heißt überhaupt "Volkspartei", ein Begriff, an den sich viele klammern und der hilfesuchend als Legitimationsformel benutzt wird? Auch in den Sozialwissenschaften wird er gebraucht, und dennoch hat er nicht die Kraft einer analytischen Kategorie. Konsens herrscht nur darüber, dass "Volkspartei" nicht eindeutig zu definieren ist und synonym benutzt wird mit Massenpartei, Mitgliederpartei, Massenintegrationspartei, Allerweltspartei, Großpartei, Kartellpartei. Trotz dieses begrifflichen Wirrwarrs bemühen wir uns im Folgenden um eine Präzisierung, die zugleich analytisch hinführt zu einer Erklärung, warum das Ende der Volksparteien absehbar ist. Dabei wird sich des in der Parteienforschung nach wie vor zu Recht benutzten typologisierenden Verfahrens bedient: Es wird von der politisch-historischen Realität abstrahiert, bestimmte Indikatoren werden übersteigert, um so das Spezifische erkennen und vergleichen zu können. Es geht also nicht um eine differenzierte Darstellung der Wirklichkeit, sondern um eine "Utopie", eine einseitige Übersteigerung der Realität, die sich nicht zuletzt aus didaktischen Gründen anbietet. Vier Indikatoren werden herausgearbeitet.

  1. Volkspartei bezeichnet eine politische Organisation von Bürgern, die in der sozialen Zusammensetzung ihrer Mitglieder, Parteiaktivisten und Wähler nicht auf eine Schicht oder Klasse oder eine anders (beispielsweise durch Konfession) definierte Gruppe beschränkt ist, sondern prinzipiell mehrere Schichten und Klassen, Landsmannschaften und Religionen umfasst, mithin als sozial heterogen zu gelten hat. Dies bedeutet aber nicht, dass sich in der Volkspartei spiegelbildlich die Sozialstruktur der Wähler wiederholte, denn eine schichten- und klassenübergreifende soziale Zusammensetzung der Wähler und Mitglieder verschwindet nicht im Konturlosen. Vielmehr bleibt ein spezifisches soziales Profil durchaus erhalten, kann sich als Massenpartei auf Klassenbasis darstellen. Dabei folgt die Volkspartei den allgemeinen Tendenzen gesellschaftlich-struktureller Veränderungen, die sich auf dem Arbeitsmarkt, in der Bevölkerung und Wählerschaft vollziehen.

  2. Volksparteien sind bemüht, möglichst viele Wählergruppen - verschiedene Klassen und Schichten, Konfessionen und Landsmannschaften - mit modernen Werbemethoden gezielt anzusprechen und für sich zu gewinnen. Insbesondere erfolgen Angebote an solche Wählerschichten, die an die eigene Stammwählerschaft grenzen. Präziser formuliert: Die Volkspartei ist eine Massenwähler-, Mitglieder- und Funktionärspartei. Um dieses Kriterium zu erfüllen, muss sie im Prinzip und auf Dauer 35 Prozent der Wähler für sich gewinnen, ein Prozent der Wahlberechtigten als Mitglieder überzeugen und davon wiederum zehn Prozent als Funktionäre motivieren. Nimmt man diese Daten ernst und legt sie als Maßstab an die beiden (bisherigen) bundesrepublikanischen Volksparteien an, wird deutlich, dass sich die Sozialdemokratie vom Typus Volkspartei verabschiedet hat und die Christdemokratie (also CDU und CSU zusammengenommen) in den Grenzbereich des künftigen Endes als Volkspartei hineingerät.

  3. Volksparteien sind nur als Akteure in einem repräsentativ-demokratischen politischen System parlamentarischer oder präsidentieller Prägung denkbar. Konkret besagt dies, dass Volksparteien willens, bereit und in der Lage sein müssen, allein oder in Koalition mit anderen Parteien die Regierungsverantwortung zu übernehmen, also Macht auszuüben. Ja, die Koalitionsfrage gibt - nach Sigmund Neumann - die eindeutige Scheidelinie für die Parteitypisierung, denn nur Parteien, die - wie die Volksparteien - keinen absoluten Herrschafts- und Durchsetzungsanspruch haben, können mit anderen Kompromisse schließen und gemeinsam regieren. Koalitions- und kompromissfähig sind Parteien auf Dauer nur dann, wenn es neben einem kontroversen Politiksektor einen nichtkontroversen Sektor mit einem allgemeinen Konsens gibt, zu dem die Grundregeln parlamentarisch-repräsentativer Demokratie und die Achtung vor den Menschenrechten gehören.

  4. Schließlich ist mit großem Nachdruck ein vierter Indikator zu nennen, der das Phänomen "Volksparteien" (und ihren Niedergang) erklärt. Volksparteien sind nämlich Milieu-Parteien gewesen, also politische Organisationen, die zum Teil, aber eben nicht vollständig aus sozialmoralischen Milieus hervorgegangen sind und auf ihnen basierten. Dieser Sachverhalt wird erst im Nachhinein, nach Abschluss der historischen Periode der Volksparteien deutlich. Entgegen der Annahme und Behauptung Otto Kirchheimers sind Teile der Mitglieder, vor allem der Funktionäre und Parteiaktivisten, aber auch der Wähler geistig, ideologisch und wertemäßig in die Partei eingebunden gewesen. Woher sonst hätte die Bindekraft kommen sollen, deren Nachlassen bis hin zu fast anarchischer Volatilität heute so beklagt wird? Wie sonst wäre die Unterscheidung zwischen Stammwählern und aktuell in einer Wahl gewonnenen Wählern sinnvoll gewesen? Ja, gerade das gehört zum Spezifischen einer Volkspartei, dass sie - links oder rechts der Mitte - über einen Sockel, ein Fundament an Wählern verfügt, das irgendwo zwischen 20 und 25 Prozent der Wählenden lag und auf das sich die Parteien verlassen konnten. Erst von dieser Milieubasis aus vermochte der Spagat in die (neue) Mitte gewagt zu werden und erfolgreich zu sein. Nur ein derartiger Spagat zwischen verschiedenen Segmenten im Elektorat konnte dann zu Wahlergebnissen führen, die bei 40 Prozent oder darüber lagen. Allein in der Mitte sind für eine Volkspartei keine Wahlen zu gewinnen - wie immer "Mitte" definiert werden mag.

Es sei wiederholt: Erst mit dem Ende der Volksparteien wird klar, wie wichtig die sozialmoralischen Milieus für sie gewesen sind. (1) Bindungskraft wurde durch sie hergestellt und hat die Stammwählerschaft als feste Gruppe überhaupt erst konstituiert. (2) Aufgrund dieses Fundamentes in der Wählerschaft konnte der Schritt in die Mitte getan werden. Volksparteien waren also (noch) keine Allerweltsparteien, keine catch-all-parties, denn sie waren (wenigstens partiell) tief in der Gesellschaft verankert und banden ein Segment der Wähler fest an sich. Genau diese geistige Einbindung ist heute nicht zuletzt aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen verlorengegangen. Volksparteien waren - historisch in der Nachfolge der Massenintegrationsparteien - in ihrem Kernbereich immer noch "soziale Veranstaltungen", stellten Lebensweisen dar, gaben politischen Sinn, vermittelten Werte. Historisch konkret sind in unserem Zusammenhang natürlich die sozialmoralischen Milieus des Katholizismus und der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft gemeint. Beide sind durch eine feste soziale Basis gekennzeichnet, eben Katholiken bzw. gewerkschaftlich organisierte Facharbeiter. Ein Organisationsnetzwerk verband die Partei mit Freizeitorganisationen, Konsumgenossenschaften und anderen Einrichtungen im Vorfeld. Und geistig existierte so etwas wie eine Vorstellung davon, wie der gesellschaftliche Status quo abgelöst werden könne durch eine neue, künftige Gesellschaft, in der soziale Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität in den Vordergrund rückten.

Wer untersuchen will, wie geistige und ideologische Parteibindung in den Volksparteien stattfand, untersuche den Funktionärskörper der SPD in den 1950er und 1960er Jahren: "Der Funktionär", hauptamtlich oder ehrenamtlich, war zwar verpönt in den bürgerlichen Nachbarschaften, hatte aber hohes Ansehen in den Quartieren der kleinen Leute, er war - wie wir heute sagen würden - der "Kümmerer", der Helfer und das organisatorische und geistige Rückgrat der Sozialdemokratie und ihrer damals noch existierenden Nebenorganisationen. Dass die sozialmoralischen Milieus mit der von ihnen bewirkten Parteibindung Spuren hinterlassen haben, zeigen die aktuellen Wahlanalysen: Die Hochburg der CDU/CSU-Wähler liegt nach wie vor bei den Katholiken, die der SPD bei den Facharbeitern. Und ein letzter Rest von Parteibindung zeigt sich wohl auch darin, dass bei der Bundestagswahl dieses Jahres über zwei Millionen ehemalige SPD-Wähler in die Wahlenthaltung gegangen, nicht aber zu einer anderen Partei gewechselt sind. Sie verstehen sich offensichtlich als sozialdemokratische Wähler im Wartestand. Ein ähnliches, wenn auch nicht so markantes Phänomen hat sich im Dreieck von CDU, FDP und Nichtwählern abgespielt.

Warum Niedergang?

Die Fakten zum Niedergang der Volksparteien sind bekannt: Zuerst wäre der kontinuierliche Verlust an Mitgliedern zu nennen. Diese sterben weg, nur relativ wenige treten aus - wie bei der Sozialdemokratie in den Jahren 2004 und 2005 aus Protest gegen die Agenda 2010. Mithin handelt es sich um Überalterung der beiden großen Parteien; fast die Hälfte der Mitglieder ist 60 Jahre oder älter. In den innerparteilichen Diskussionen der Weimarer Republik wurden in diesem Zusammenhang die Topoi von der "Vergreisung" und der "Verkalkung" geprägt. Die Angehörigen jüngerer Alterskohorten tun sich schwer, in eine Partei einzutreten. Sie rücken also nicht nach. Der Anteil der unter 30-Jährigen ist einstellig und alarmierend, betrug 2007 bei der CDU 5,1, bei der CSU 5,5 und bei der SPD 5,8 Prozent. Öffentlich am auffälligsten: Die Bindekraft der beiden großen Parteien gegenüber den Wählern lässt dramatisch nach, Volatilität ist das Ergebnis. Wähler wechseln zwischen den Parteien, besonders auch zwischen Wählen und Nichtwählen. Gewannen die beiden Großen gegen Ende der 1960er und in den 1970er Jahren bei Bundestagswahlen zusammengenommen an die und über 90 Prozent der abgegebenen Stimmen, so waren es am 27. September 2009 nur noch 56,8 Prozent. Die Verluste traten bekanntlich dramatisch und desaströs bei der SPD auf, aber eben auch mit 1,4 Prozent bei der CDU/CSU - trotz der beeindruckenden Popularität der Kanzlerin.

Wo liegen die Ursachen für den Niedergang der Volksparteien? Eine Frage, die in den politischen Feuilletons wie in der sozialwissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutiert wird. Denn letztlich geht es in dieser Debatte auch darum, ob der Abstieg der Volksparteien umkehrbar ist, ob Revitalisierung, Regenerierung eine Chance haben. Im Weiteren sollen nur Stichworte genannt werden. Allerdings wird einer der Niedergangsgründe - bewusst und pointiert unseren bisherigen Überlegungen folgend - hervorgehoben, nämlich die Bedeutung sozialmoralischer Milieus. Wir hatten gesehen, dass dem Ende der Volksparteien historisch das Wegbrechen, der Zerfall der traditionellen Milieus vorausgegangen ist. Hier liegt die wohl wichtigste Ursache, warum Volksparteien allmählich von der Bildfläche verschwinden und diese Entwicklung nicht einfach aufzuhalten oder gar mit einer großen organisatorischen Kraftanstrengung umzukehren ist. Die Milieus, welche die Volksparteien getragen haben, sind aus je unterschiedlichen Gründen erodiert. Das katholisch-protestantische Fundament, auf dem CDU und CSU einst selbstbewusst standen, ist durch die Säkularisation brüchig geworden. Das hohe "C" spielt in Akademiediskussionen vielleicht noch eine Rolle, aber Parteibindungen werden dadurch nicht gehalten oder gar verstärkt. Neue Mitglieder oder Wähler lassen sich durch Beschwören des christlichen Menschenbildes kaum gewinnen. Gerade bei Jüngeren zeigt sich ein neues Organisationsverhalten, das sich generell gegen Großorganisationen richtet. Sie lassen sich institutionell, kulturell und normativ nicht einbinden. Natürlich: Kirchgangshäufigkeit ist nach wie vor ein wichtiger Indikator für Wahlverhalten, und gläubige Christen wählen überproportional CDU und CSU. Aber es ist eben nicht mehr die Konfession allein, die entscheidet, ob man die Christdemokratie wählt oder nicht.

Auch das alte sozialdemokratische Milieu wurde gleichsam wegmodernisiert. Der Anteil des sekundären Sektors an der Ökonomie schrumpft bekanntlich kontinuierlich, und die Zahl der Facharbeiter nimmt entsprechend relativ und absolut ab. Es sind die Veränderungen in der Arbeitswelt, wissensbasierte Produktion, Expansion des Dienstleistungsbereichs, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und erhöhte Mobilität der Arbeitnehmer, welche die sozialdemokratische Solidargemeinschaft direkt getroffen und die frühere facharbeiterlich-gewerkschaftliche Solidarität aufgelöst haben. Wie die Kirchen, so verlieren die Gewerkschaften, die der SPD einst eng verbundenen wirtschaftlichen Organisationen, Mitglieder. Sie leiden wie die beiden Großparteien und wie die Kirchen darunter, dass die Mitgliedschaft überaltert ist und Jüngere nur schwer zum Eintritt in Arbeitnehmerorganisationen zu bewegen sind. Natürlich: Auch Gewerkschaftsmitgliedschaft ist nach wie vor ein wichtiger Indikator für das Wahlverhalten, von dem die SPD und neuerdings auch Die Linke profitieren. Parteibindung ist in Relikten noch vorhanden. Nur ist diese weicher, unverbindlicher, beliebiger als die einstige Milieubindung.

Die Probleme, mit denen die alten Volksparteien konfrontiert sind und die ihren Niedergang bewirken - Rückgang der Zahl der Wähler, Mitglieder und Funktionäre, rasch abnehmende Parteibindung - haben gesellschaftliche und wirtschaftliche, mithin strukturelle Ursachen, sie sind nicht einfach auf Parteiversagen zurückzuführen. Und sie können nicht dadurch gelöst werden, dass Werbekampagnen vom Zaun gebrochen, Schnuppermitgliedschaften eingeführt und Netzwerkparteien ausgerufen werden.

Zumal weitere Gründe zur Krise der Volksparteien beigetragen haben, die eine mögliche Umkehr oder Rückkehr zur "guten alten Zeit" verstellen. In Stichworten nenne ich: Individualisierungsschübe in der Gesellschaft, nicht zuletzt begünstigt durch die sogenannte Bildungsexplosion der 1970er und 1980er Jahre; Pluralisierung der Lebensstile; Wertewandel und Auflösung traditioneller Wertegemeinschaften; neues Organisationsverhalten der jüngeren Alterskohorten, die ihnen erstarrt und verknöchert erscheinenden Großorganisationen nicht beitreten; allgemeine Organisationsmüdigkeit, die selbst Interessenverbände und Sportvereine trifft. Zudem: Ein fundamentaler Wandel der öffentlichen politischen Kommunikation verstärkt noch die Individualisierung und den Wertewandel. Beklagt wird, dass es den Parteien sowohl an Visionen, strategisch ausgelegten Konzepten und den "großen Erzählungen" als auch an charismatischen, attraktiven Persönlichkeiten mangelt. Inhaltlich und programmatisch hätten die beiden großen Parteien sich zudem so angenähert, dass sie ununterscheidbar seien, heißt es. Schließlich: Politik generell und die einzelnen Politikbereiche seien immer komplexer, komplizierter, technokratischer und damit für den Durchschnittswähler unverständlich geworden. Dadurch würden politisch eigentlich interessierte Bürger abgestoßen.

Welche Bedeutung im Einzelnen oder in der Summe die vielen hier genannten Faktoren für das Ende der Volksparteien haben, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Vielmehr kam es darauf an, deutlich zu machen, dass strukturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ursachen zum Niedergang der Volksparteien führen, dass insbesondere die Erosion sozialmoralischer Milieus die hier skizzierte Entwicklung unumkehrbar macht.

Konsequenzen

Im Folgenden wird gefragt, welche Konsequenzen der Niedergang der Volksparteien für die kleineren Parteien, für die FDP, Die Linke und Bündnis90/Die Grünen hat; wie Wahlen und Wahlkämpfe sich künftig verändern; und ob ein neuer Parteitypus entsteht, der den der Volkspartei ablöst.

Geht man von den Umfragen und den Wahlen des Jahres 2009 aus, dann werden die "Kleinen" offensichtlich größer, sie liegen "im Aufwind", fahren zweistellige Ergebnisse ein, gewinnen auf Kosten der beiden "Großen", scheinen auf dem Weg zu mittelgroßen Parteien zu sein. Der Abstand zwischen FDP und SPD betrug bei der Bundestagswahl nur noch acht Prozentpunkte. In den neuen Bundesländern liegen CDU, SPD und Linkspartei in etwa gleichauf. Nur: Die "Kleinen" gewinnen zwar Wähler, aber keine neuen Mitglieder. Bei den Mitgliederzahlen stagnieren die Grünen, minimale Zugewinne verzeichnet die FDP, und nur durch die Fusion von WASG und PDS hat Die Linke hinzugewonnen.

Einige Beobachter meinen, bei den Kleinparteien so etwas wie - wenigstens im Ansatz - Milieubildung erkennen zu können, am ehesten bei Bündnis 90/Die Grünen. Diese haben sich zu einer Partei der bürgerlichen aufgeklärten Mittigkeit mit ökologischem Profil entwickelt. Bei ihnen sind die Traditionen der drei sozialen Bewegungen, aus denen sie kommen (Friedens-, Frauen-, Umweltbewegung), kulturell und organisatorisch sowie an einem gewissen Grad der Vernetzung in bestimmten Nachbarschaften durchaus zu spüren. Die FDP hingegen ist eine Klientelpartei des selbständigen kleinen und mittleren Mittelstandes geblieben, kulturell als spezifisches Segment des Bürgertums erkennbar, profiliert durch die permanent erhobene Forderung nach Steuersenkungen. Dabei hat sich die Sozialstruktur der Mitglieder und Wähler von Grünen und FDP anhand der Indikatoren von Bildung und Einkommen bekanntlich angenähert, sie klaffen aber kulturell und in der Frage nach der Bedeutung des Staatseingriffs in Wirtschaft und Gesellschaft weit auseinander. Gleichwohl ist nicht zu Unrecht argumentiert worden, hinter dem Rücken der Akteure habe sich die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Heppenheimer Parteitag überwunden geglaubte Spaltung des Liberalismus wieder eingestellt, seine Trennung in einen freisinnig-aufgeklärten Sozialliberalismus und einen staatsfernen Marktliberalismus sei wieder aktuell.

Bei der Linken sind die Milieuansätze in den ostdeutschen Bundesländern am ehesten entwickelt, nämlich durch die gewaltsame Kooptation der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft in die SED sowie durch ihre aktuelle Verankerung in den Nachbarschaften, nicht zuletzt mit Hilfe einiger ehemaliger DDR-Massenorganisationen wie der Volkssolidarität, dem Kulturbund und dem Frauenbund. Eine völlig andere Situation findet sich bei der Linken in den westlichen Bundesländern, hier ist die Partei sozial und programmatisch nicht nur äußerst heterogen, sondern sie wird zerrissen zwischen ideologischen Sektierern und Relikten des solidargemeinschaftlichen Milieus, wie es besonders über die Gewerkschaften lokal erhalten geblieben ist.

Trotz der angedeuteten Milieuansätze bei den kleinen Parteien: Ein Milieu, das mit dem katholischen oder dem solidargemeinschaftlich-sozialdemokratischen vergleichbar wäre und Bindekraft einer Partei gegenüber einem festen Wählersegment hergestellt hätte, hat sich bei keiner der drei kleinen Parteien herausgebildet. Legt man die oben skizzierten Kriterien für ein sozialmoralisches Milieu an, dann fehlt es an einer breiten und soliden sozialen Basis. Es mangelt an einem Netzwerk von Freizeit- und anderen Organisationen, das eine Grundlage für eine alternative Lebensweise bieten würde. Eine Vision, ein alternatives gesellschaftliches und wirtschaftliches Konzept ist nicht entwickelt worden.

Gleichwohl: Programmatisch haben wenigstens FDP und Grüne versucht, sich zu erweitern, um über die "Alleinstellungsmerkmale" Steuersenkung und Ökologie hinauszukommen. Entsprechende Konferenzen haben stattgefunden, Konzeptpapiere wurden geschrieben: Bei der FDP in den Bereichen Umwelt und Sozialpolitik, und bei den Grünen ist mit dem "green New Deal" eine ökologische Industriepolitik in den Bundestagswahlkampf 2009 eingebracht worden. Die Linke hingegen vertritt einen recht undifferenzierten, allgemein-populistischen Ansatz und meidet jede Programmdiskussion aus Furcht, die Partei zu zerreißen.

Festgehalten werden kann: Das, was die beiden großen Volksparteien an Bindekraft gegenüber den Wählern verloren haben, ist von den kleinen Parteien nicht gewonnen worden. Bewusst und in Anlehnung an Otto Kirchheimer kann formuliert werden: Die Volksparteien haben erst nach der Erosion der volksparteilichen Milieus die Versuche aufgegeben, sich die Wähler geistig und moralisch einzugliedern. Tiefere ideologische Durchdringung wird jetzt für einen raschen Wahlerfolg geopfert.

Aber vielleicht können sich die Parteien auch gar nicht anders verhalten. Denn die alten sozialmoralischen Milieus, durch die einst Bindekraft - im heutigen Jargon: Parteiidentifikation - hergestellt worden ist, sind, wie wir gesehen haben, aufgrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Modernisierung zerbröselt. "Volatilität" bei Wahlen und Wahlkämpfen wird also erhalten bleiben. Wähler wandern zwischen den Parteien, aber auch ins Nichtwählen. Der Anteil der Wahlabstinenten wird groß bleiben oder sogar wachsen. "Stammwähler" wird eine immer seltenere Spezies. Die Wahlkämpfe werden weiter personalisiert werden. Die Klagen in den politischen Feuilletons, dass es nicht mehr um inhaltliche Alternativen gehe, dass es überhaupt an Konzepten, Programmen und Zukunftsentwürfen mangele, werden so lange fortgesetzt, bis von außen aufgrund dramatischer gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer Ereignisse Themen aufgezwungen werden. Bis dahin wird der souverän geführte präsidiale Wahlkampf von Angela Merkel und der CDU im Jahre 2009 als beispielhaft gelten. Das Gerede vom "Markenkern" (begrifflich eine Anleihe bei der Betriebswirtschaftslehre und bei Public Relations), den eine Partei entwickeln müsse, um nach innen ihre eigene Identität und nach außen Attraktivität zu gewinnen, zeigt nur, wie sinnentleert Wahlkämpfe geworden sind.

Schließlich: Die Parteien werden sich künftig noch schneller und gründlicher verändern, als dies in den vergangenen Jahrzehnten, in denen die Volksparteien mit ihren sozialmoralischen Milieus erodierten, schon geschehen ist. Ein ganz neuer Parteitypus wird sich entfalten, wie er in der politikwissenschaftlichen Literatur unterschiedlich kategorisiert und beschrieben wird. Da ist die Rede von der professionellen Medienkommunikationspartei, von professionalisierter Wählerpartei, von Kartellpartei, von Medienpartei oder von Fraktionspartei. Alle diese Begriffe weisen in eine Richtung: Die Zeit der Milieubindung der Parteien ist endgültig vorbei, und damit auch die der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Funktionäre. An deren Stelle treten "Profis", innerparteiliche Spezialisten oder Agenturen für Organisation, PR, Wahlkämpfe und Machterringung. Patronage, nämlich Nominierung und Wahl von Kandidaten für öffentliche Ämter, wird das Parteileben wesentlich bestimmen. Das Zentrum parteipolitischer Macht dürfte sich endgültig von der Organisation hin zu den Fraktionen, Regierungen und Kommunaldezernenten und ihren Mitarbeitern verschieben. Innerparteiliche Entscheidungsprozesse werden zunehmend von außen, von den Medien beeinflusst, das traditionelle Delegiertensystem wird obsolet.

Neuer Parteitypus

Wird hier ein düsteres Bild von den deutschen Parteien und dem Parteiensystem gezeichnet? Es mag auf den ersten Blick so scheinen. Doch der zweite Blick offenbart, dass wir uns normativ immer noch an den "guten alten Zeiten" orientieren, in denen zwei starke Volksparteien miteinander konkurrierten und eine kleine, eine halbe Partei den Ausschlag gab über die Koalition und die Regierungsbildung. In unseren Köpfen hat sich dieses alte Parteiensystem der 1950er, 1960er und 1970er Jahre wie ein Vorbild verfestigt. In der politischen Realität aber existiert es nicht mehr.

Wir haben es heute nicht nur mit einem Fünfparteiensystem zu tun, sondern die Parteien selbst haben sich fundamental verändert. Genau hier setzt die These an, die in diesem Essay - einseitig und zugespitzt - vorgetragen worden ist: Soziale, wirtschaftliche, politische, also strukturelle Entwicklungen haben zum Ende der Volksparteien geführt, indem die sozialmoralischen Milieus, auf denen diese einst basierten, erodierten. Ein ganz neuer Parteitypus ist dabei, sich zu entfalten. An das neue Bild von Parteien und Parteiensystem haben wir uns noch nicht gewöhnt. Das ist aber kein Grund, Zeter und Mordio zu schreien und zu glauben, die bundesrepublikanische Demokratie zerbreche, weil die Wahlbeteiligung sinke, die Parteibindung bei Wahlen nachlasse und die Zahl der Parteimitglieder drastisch abnehme. Bekanntlich ist es demokratietheoretisch umstritten, wie intensiv die parteiliche und generell die politische Partizipation sein müsste. Nur sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass das Zeitalter der Volksparteien an sein Ende gekommen ist und mit einer neuen historischen Periode der Parteiengeschichte auch neue Formen der (partei)politischen Beteiligung entstehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Otto Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Gilbert Ziebura (Hrsg.), Beiträge zur allgemeinen Parteienlehre, Darmstadt 1969, S. 352.

  2. Vgl. Sigmund Neumann, Die Parteien in der Weimarer Republik, Stuttgart 19652, S. 8f.

  3. Vgl. hierzu Franz Walter, Vor dem großen Umbruch: Die SPD, in: Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft? Konzepte, Konkurrenzen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2009, S. 112f.

  4. Vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2007, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 39 (2008) 2, S. 385.

  5. Vgl. hierzu Uwe Jun, Wandel des Parteien- und Verbändesystems, in: APuZ, (2009) 28, S. 28f. und Heinrich Oberreuter, Parteiensystem im Wandel - Haben die Volksparteien Zukunft?, in: V. Kronenberg/T. Mayer (Anm. 3), S. 48 - 53.

  6. Uwe Jun/Henry Kreikenbom/Viola Neu (Hrsg.), Kleine Parteien im Aufwind. Zur Veränderung der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt/M. 2006.

  7. Vgl. O. Kirchheimer (Anm. 1), S. 352.

  8. Vgl. Wolfgang Merkel, Der Parteienverächter. Wider den publizistischen Stammtisch. Ein Zwischenruf, in: WZB-Mitteilungen, Nr. 124 (Juni 2009), S. 14.