Ab Mitte März 2020 wurden in Deutschland aufgrund der Corona-Pandemie flächendeckende Grundrechtsbeschränkungen eingeführt, die in ihrem Ausmaß und in ihrer Tragweite für diese rechtsstaatliche Demokratie bislang einmalig sind. Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen betrafen die allgemeine Handlungsfreiheit und das Grundrecht der Bewegungsfreiheit. Das Verbot, Gottesdienste abzuhalten, schränkte die Religionsfreiheit ein, insbesondere die Freiheit der Religionsausübung. Inhaberinnen und Inhabern von Unternehmen verschiedener Branchen war es durch Betriebsschließungen und -einschränkungen mehr oder weniger nicht möglich, ihre Berufsfreiheit auszuüben. Viele Selbständige unterlagen oder unterliegen quasi einem zeitweiligen Berufsverbot. Dies gilt ebenso für viele künstlerisch Tätige, sodass auch die Kunstfreiheit hier erörtert werden könnte. Durch die weitgehende Schließung der Universitäten war die Forschungs- und Lehrfreiheit eingeschränkt. Angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen dieses weitgehenden Lockdowns stellen sich ferner Fragen der Eigentumsfreiheit.
Inzwischen sind viele dieser Beschränkungen wieder aufgehoben worden – angesichts immer noch bestehender Ungewissheiten und Unwägbarkeiten möglicherweise nur vorläufig. Zahlreiche Freiheitsbeschränkungen sind aber nach wie vor in Kraft und werden wohl auch noch eine nicht überschaubare Zeit lang bestehen bleiben. In Zeiten eines pandemischen Notstands von nationaler und internationaler Tragweite ist eine Besinnung auf grundlegende demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien von Verfassungs wegen geboten. Es gibt verschiedene Aspekte von Grundrechtsbeschränkungen, und jede muss im Einzelnen überprüft werden, ob verfassungsrechtlich ein noch zulässiger, insbesondere ein noch verhältnismäßiger Eingriff vorliegt.
Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit
Die Corona-Pandemie stellt den Staat und seine zuständigen Organe vor die schwierige Aufgabe, einen angemessenen Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen. Grundrechte sind in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheit des Einzelnen vor ungerechtfertigten und unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu schützen: Sie sind Abwehr- oder Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat. In dieser Funktionsausrichtung liegt ihr historischer Entstehungsgrund. Die zweite Schutzfunktion der Grundrechte besteht darin, dass sie als objektive Verfassungsprinzipien staatliche Schutzpflichten den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber begründen und dadurch die prinzipielle Geltungskraft der Grundrechte in der Gesellschaft verstärken.
Wie die staatlichen Organe den grundrechtlichen Schutzpflichten nachkommen, ist grundsätzlich von ihnen in eigener Verantwortung zu entscheiden. Das Grundgesetz (GG) verlangt aber vom Gesetzgeber, von der Verwaltung und der Justiz eine permanente Rückbesinnung auf die vom Staat zu verteidigenden Freiheitsrechte und die Herstellung und Wahrung einer angemessenen Balance. Dabei haben sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes dagegen entschieden, sämtliche verbürgte Grundrechte abwägbar oder gar "wegwägbar" zu machen. Die Menschenwürdegarantie und der Menschenwürdegehalt der speziellen Freiheitsrechte gehören zu diesem absolut geschützten Kernbestand. Anders als frühere deutsche Verfassungen stellt das Grundgesetz die Grundrechte als einklagbare Freiheitsrechte des Einzelnen gegen den Staat in den Mittelpunkt, sie sind nicht mehr als bloße Programmsätze, verfassungslyrische Verheißungen oder Staatszielbestimmungen zu verstehen. Das zeigt nicht nur die Stellung des Grundrechtekatalogs am Anfang der Verfassung, sondern ganz deutlich auch Art. 1 Abs. 3 GG, der die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht für alle staatlichen Gewalten, einschließlich der gesetzgebenden Gewalt, für verbindlich erklärt. Die staatlichen Eingriffe, nicht aber die Geltendmachung der Freiheitsrechte bedürfen der Rechtfertigung.
Bei der Wahl der Mittel zur Erfüllung seiner grundrechtlich fundierten Schutzpflichten ist der Staat also auf die Mittel beschränkt, deren Einsatz mit den rechtsstaatlichen Gehalten der Verfassung in Einklang stehen. Dabei gelten für ihn vor allem zwei verfassungsrechtliche Grenzen: Einerseits muss er nach dem "Untermaßverbot" ein gewisses Mindestmaß an Schutz gewähren. Diese Pflicht ist verletzt, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben.
Verhältnismäßigkeit der Eingriffe
Im Rahmen seiner Schutzpflichterfüllung gegen die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus aufgrund des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG hat der Staat daher stets die Verhältnismäßigkeit der Eingriffe in die konfligierenden Grundrechte zu prüfen:
Der Staat muss unter Hinzuziehung externen Sachverstands stets prüfen, welche Gefahrenabwehr- und Vorsorgemaßnahmen angemessen im Verhältnis zur aktuellen Gefahrenlage sind. Diese Fragen der rechtlichen Abwägung sind zwingend interdisziplinär zu beantworten und dürfen nicht ausschließlich Virologinnen, Medizinern, Epidemiologinnen und Naturwissenschaftlern überlassen werden. Vor dem Hintergrund der in wissenschaftlicher Hinsicht mitunter schwer zu beantwortenden Fragen nach der Effektivität von bestimmten Schutzmaßnahmen und dem Gefährdungsgrad der Bevölkerung durch das neuartige Corona-Virus ist den zuständigen Organen des Staates zwingend ein gewisser Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zuzubilligen, dessen Einhaltung die Gerichte nur unter Vertretbarkeitsgesichtspunkten nachprüfen können. Die gesetzlichen Befugnisnormen in §28 Abs. 1 und §32 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sind notgedrungen sehr weit gefasst: Es sind demnach die "notwendigen Schutzmaßnahmen" zu treffen, "soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist".
Immer noch besteht kein hinreichendes Maß an Gewissheit über Inhalt und Umfang der Gefahren sowie über die Eignung und Erforderlichkeit der ergriffenen beziehungsweise alternativer Maßnahmen. Weil wir darüber nicht genügend wissen, kann niemand sagen, dass die angeordneten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen von vornherein unverhältnismäßig gewesen sind. Daher können auch keine generellen rechtlichen Bedenken gegen die im März erlassenen Maßnahmen erhoben werden, obgleich sie zu schwerwiegenden Eingriffen in die erwähnten Grundrechte führten. Auch die gegen diese Maßnahmen angerufenen Gerichte sehen sich – wie die Politik und die Exekutive – mit diesen Ungewissheiten über Art und Ausmaß der Gefahren sowie die Eignung und Erforderlichkeit der eingesetzten Mittel konfrontiert. Angesichts dieser Lage kommen auch sie gar nicht umhin, den zuständigen Organen der zweiten Gewalt einen erheblichen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum sowie einen Ermessensspielraum bei der Auswahl der Einzelmaßnahmen einzuräumen. Es konnte nicht erwartet werden, dass die Gerichte abweichend von den Beurteilungen und Einschätzungen der Exekutive die Verantwortung dafür übernehmen, den Schutz von Leben und Gesundheit einer unbestimmten Zahl von Menschen hintanzustellen.
Da es sich allerdings um besonders schwerwiegende Grundrechtseingriffe handelt, die sich mit fortschreitender Zeit weiter intensivieren können, wird das Anforderungsprofil an die Rechtfertigung der Eingriffe mit zunehmender Dauer wachsen. Mit anderen Worten: Nicht die Lockerungen der Corona-Beschränkungen bedürfen einer Rechtfertigung, sondern ihre Aufrechterhaltung oder Wiedereinführung.
Es bestehen berechtigte Zweifel, ob die rechtfertigungsbedürftigen Beschränkungen – gerade in den Zeiten einer Lockerung – vonseiten der Entscheidungsträgerinnen und -träger immer richtig und plausibel begründet werden können. Wenn beispielsweise zeitweilig bestimmt wurde, dass Ladengeschäfte öffnen dürfen, es sei denn ihre Verkaufsfläche liegt über 800 Quadratmeter,
Parlamentsvorbehalt
Im Kontext der Grundrechtsbeschränkungen durch die Corona-Schutzmaßnahmen drängt sich ein weiteres Problem auf: Nach den grundgesetzlichen Strukturprinzipien von Demokratie und Rechtsstaat im Sinne des Art. 20 GG, die den verfassungsrechtlichen "Wesentlichkeitsgrundsatz" insbesondere bei Grundrechtsbeschränkungen enthalten, sind alle wesentlichen Entscheidungen zur Grundrechtsausübung und -einschränkung durch das unmittelbar durch Wahlen vom Volk legitimierte Parlament zu treffen. Der Gesetzgeber ist in den Worten des Bundesverfassungsgerichts dazu verpflichtet, "in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen".
Dies betrifft nicht allein die Frage, ob ein bestimmter Sachbereich überhaupt gesetzlich zu regeln ist, sondern auch den Detaillierungsgrad einer parlamentsgesetzlichen Regelung, also die Frage, "wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben".
Die Corona-Schutzmaßnahmen sind mittlerweile in allen Bundesländern durch Rechtsverordnungen geregelt worden, gestützt auf die §§28 und 32 IfSG.
Eigentum und Berufsfreiheit
Von den ergriffenen Schutzmaßnahmen sind viele Unternehmen, etwa Handels- und Dienstleistungsbetriebe, die Gastronomie sowie Beherbergungsunternehmen in besonderem Maße betroffen. Angesichts der empfindlichen, nicht selten existenzbedrohenden wirtschaftlichen Verluste dieser Unternehmen ist zu fragen, ob in diesen Fällen nicht gesetzliche Entschädigungsregelungen von Verfassungs wegen geboten wären. Die Unternehmensinhaberinnen und -inhaber sind in diesen Fällen nicht betroffen, weil sie krankheits- oder ansteckungsverdächtig sind, ihnen wird aufgrund der Betriebsschließungen gewissermaßen ein "Sonderopfer" zum Wohle der Allgemeinheit abverlangt. Es geht hier nicht um klassische Enteignungen, aber um Eingriffe in das Eigentum und in die Berufsfreiheit, die man als "ausgleichspflichtige Sozialbindungen" bezeichnen kann.
Solche Eingriffe müssten an sich von Verfassungs wegen durch gesetzliche Ausgleichs- beziehungsweise Entschädigungsansprüche abgefedert werden. Zwar sieht das Infektionsschutzgesetz durchaus Entschädigungsregelungen vor (§56 IfSG), aber eben nur für Personen, die ansteckungs- oder krankheitsverdächtig sind und deswegen Beschränkungen, etwa eine Quarantäne, hinnehmen müssen.
Eine rechtsstaatliche Aufarbeitung des Geschehenen wird diesen Aspekt aufgreifen und etwa das Gesetz entsprechend novellieren müssen. Das Problem ist in politischer Hinsicht zunächst dadurch etwas entschärft worden, weil Bund und Länder mit haushaltsgesetzlich ausgewiesenen Finanzleistungen oder Kreditgewährungen reagiert haben. Aber von Verfassungs wegen wird man feststellen müssen, dass der Gesetzgeber in der Pflicht steht, selbst Art und Ausmaß der Entschädigungen oder des sonstigen finanziellen Ausgleichs zu regeln.
Kritik am Föderalismus
Der Föderalismus, der zum Identitätskern der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik gehört, wird in der politischen Öffentlichkeit immer wieder als hemmend diskreditiert. Der Vorwurf der "Kleinstaaterei" und des "Flickenteppichs" ist immer wieder schnell zur Hand und wird auch im Kontext der Corona-Maßnahmen vorgebracht. Die Bundesstaatlichkeit Deutschlands ist aber ein wichtiger Faktor für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, insbesondere für die Gewaltenteilung und für das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, das auf bestimmten Feldern in kleineren politischen Einheiten eher möglich ist als in größeren. Es mag sein, dass das Infektionsschutzgesetz des Bundes an einigen Stellen ergänzungsbedürftig ist, aber die generelle Zuständigkeit der Länder für den Vollzug dieses Bundesgesetzes sollte nicht infrage gestellt werden. Prinzipiell sind die Länder schneller in der Lage, den örtlichen oder regionalen Gegebenheiten gebührend Rechnung zu tragen. Das Infektionsschutzgesetz geht von Infektionslagen aus, die in aller Regel regional spezifisch oder lokal begrenzt verlaufen. Es macht daher durchaus Sinn, dass die regionalen Behörden – etwa Oberste oder Obere Landesbehörden oder die örtlichen Gesundheitsämter – auf diese regionalen Herausforderungen angemessen reagieren können. Die gegenwärtige Besonderheit ist aber, dass die Corona-Pandemie Deutschland insgesamt und die ganze Welt erfasst. Zwar gab es bisher auch gewisse regionale Schwerpunkte, aber grundsätzlich war die Infektionslage auf ihrem Höhepunkt relativ gleich verteilt. Gerade wenn es um die Frage der Verhältnismäßigkeit der Beschränkungen geht, ist es deshalb nicht sonderlich sinnvoll, dies von Land zu Land unterschiedlich zu beurteilen und zu entscheiden.
Diesen Konflikt könnte man im konkreten Fall auflösen, indem man den bundesweiten Parlamentsvorbehalt umsetzt. Auf diese Weise könnte man einerseits die für derartig schwerwiegende Grundrechtseingriffe erforderliche demokratische Legitimation stärken und andererseits eine national einheitliche Grundstruktur der Schutzmaßnahmen erreichen. Regionalen und örtlichen Besonderheiten könnte durch gesetzliche Öffnungsklauseln zugunsten landesrechtlicher Regelungen Rechnung getragen werden, die für eine zielgenauere Präzisierung, Lockerung oder Verschärfung der im Grundsatz bundesgesetzlich geregelten pandemischen Notstandsordnung sorgen könnten.
Ausblick
Die Grundprinzipien unseres Verfassungsstaates, nämlich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, verlangen, dass der Gesetzgeber sich besser auf epidemische und pandemische Notlagen nationaler beziehungsweise internationaler Tragweite aufstellt. Das bisherige Instrumentarium des Infektionsschutzgesetzes musste angesichts der akuten Gefährdungslage deshalb genutzt werden, weil es keine besseren rechtlichen Instrumentarien gab. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die zuständigen staatlichen Instanzen es viel zu lange versäumt hatten, die notwendigen und geeigneten Maßnahmen zu treffen und nach solchen Versäumnissen mit den schärfsten Mitteln reagieren mussten. Zu erwähnen ist hier vor allem die lange Zeit versäumte Anordnung des Tragens von Schutzmasken in der Öffentlichkeit, obwohl eine solche die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger am wenigsten beeinträchtigt. Der Gesetzgeber sollte daraus lernen und Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch in dieser Hinsicht krisenfest machen. Für den Verteidigungsfall, also wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht, ist vor Jahrzehnten durch Etablierung einer sogenannten Notstandsverfassung im Grundgesetz in rechtlicher Hinsicht Vorsorge getroffen worden. Für den epidemischen Notstand von nationalem Ausmaß fehlt indes nach wie vor eine rechtlich hinreichende Vorsorge. Dieser Frage sollte man umgehend nachgehen und sie zukunftsorientiert angemessen lösen.