Zwischen 2003 und 2013 lag die Zahl der Asylbewerber in Deutschland durchschnittlich bei 34.000 pro Jahr. 2014 stieg sie auf 173.000, und seit dem Frühjahr 2015 nahm sie noch einmal erheblich zu.
Am 21. August 2015 erteilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge intern eine Weisung an seine Außenstellen, wonach Flüchtlinge aus Syrien, die nach Deutschland einreisen wollten, fortan nicht mehr abgewiesen werden sollten, auch wenn sie in einem EU-Land, das sie zuvor betreten hatten, nicht registriert worden waren. Diese Regelung war durchaus plausibel, da das Bundesamt heillos überlastet war und Flüchtlinge aus Syrien angesichts der humanitären Lage in ihrem Heimatland in Deutschland nahezu ausnahmslos einen Schutzstatus erhielten. Die Anweisung geriet jedoch in die Öffentlichkeit und wurde vielfach so verstanden, dass Deutschland alle Flüchtlinge ungeprüft ins Land lassen würde. Daraufhin weigerten sich die Flüchtlinge in Ungarn, sich dort registrieren zu lassen. Tausende von ihnen kampierten stattdessen auf dem Bahnhof in Budapest, forderten ihre Weiterreise nach Deutschland und skandierten "Germany" und "Merkel".
Am Tag darauf, am 28. August, wurde an der Autobahn 4 im österreichischen Burgenland ein Lastwagen entdeckt, in dem 71 Tote lagen – Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, von den Schleppern verlassen und in dem Wagen erstickt. Vier Tage später, am 2. September, wurde das Foto eines kleinen Jungens verbreitet, der leblos an einem Strand lag. Der zweijährige Alan Kurdi war bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunken. Die Bilder des LKWs in Österreich und des Jungen wurden innerhalb weniger Tage zu Symbolen der katastrophalen Lage der Flüchtlinge auf den Fluchtrouten nach Westeuropa und entfachten weltweit eine Welle der Betroffenheit und Empörung. In Deutschland setzte sich insbesondere die "Bild" geradezu massiv für die Unterstützung der Flüchtlinge ein. Mit schwarzem Trauerrand druckte sie über die gesamte Titelseite das Bild von Kurdi und schrieb: "Wer sind wir, was sind unsere Werte wirklich wert, wenn wir so etwas weiter geschehen lassen?" Das Boulevardblatt war es auch, das die Kampagne "Wir helfen" initiierte und dafür sorgte, dass Fußballprofis am Samstag darauf mit entsprechendem Logo und dem Hashtag #refugeeswelcome auf den Trikots die Bundesligaspielfelder betraten. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel reagierte nun öffentlich: Bei einer Rede vor der nordrhein-westfälischen CDU in Köln betonte sie, dass noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg so viele Menschen nach Deutschland gekommen seien, wiederholte mehrfach ihren bereits zuvor geäußerten Satz "Wir schaffen das!" und fügte unter viel Applaus hinzu: "In dieser Situation haben wir die Verpflichtung zu helfen."
Eine Woche später, am 4. September, beschlossen rund 3.000 der Flüchtlinge, die seit Tagen am Bahnhof von Budapest ausharrten, nicht länger in Ungarn zu bleiben, sondern sich zu Fuß auf den etwa 180 Kilometer langen Weg nach Österreich und nach Deutschland zu machen. Sie marschierten entlang der Autobahn nach Westen und wurden von zahlreichen Fernsehteams begleitet, die dem Zug bald den Namen "march of hope" verliehen. Daraufhin kündigte der ungarische Ministerpräsident an, Ungarn könne die Flüchtlinge nicht mehr ordnungsgemäß registrieren und werde sie deshalb aus "humanitären Gründen" mit Bussen an die österreichische Grenze bringen – falls Österreich und Deutschland sich bereit erklärten, sie aufzunehmen. Bis zur Ankunft der Busse blieben nur wenige Stunden. Bundeskanzlerin Merkel und der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann stimmten überein, dass eine Verweigerung der Einreise nur mit massiver Gewalt durchzusetzen sei und zu einer humanitären Katastrophe führen würde. Am späten Abend gab Faymann bekannt, dass in Abstimmung mit Merkel "aufgrund der heutigen Notlage an der ungarischen Grenze" entschieden wurde, die Flüchtlinge nach Deutschland und Österreich weiterreisen zu lassen.
Diese Entscheidung gilt als Auslöser jener Entwicklung, durch die bis zum Sommer 2016 insgesamt etwa 1,4 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland einreisten. Die politischen Auswirkungen waren gravierend: Die "Flüchtlingsfrage" wurde in Deutschland, der EU und darüber hinaus zu einem der am heftigsten umkämpften Streitpunkte. Der 5. September 2015 wird zudem als Auftakt, jedenfalls als Verstärker einer Rechtsverschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in Europa und darüber hinaus angesehen.
Asyl als Grundrecht
Das Recht auf Politisches Asyl geht in der Bundesrepublik zurück auf die Entscheidungen im Parlamentarischen Rat 1948/49, der dieses Recht in Artikel 16 ins Grundgesetz aufnahm. Im verbreiteten Verständnis wird dieser Artikel als Referenz an die nach 1933 vor den Nationalsozialisten flüchtenden jüdischen und nichtjüdischen Deutschen angesehen, die überall in der Welt Aufnahme und Asyl gesucht und so selten gefunden hatten. Deshalb habe sich der Parlamentarische Rat 1948/49 dazu entschlossen, das Recht auf Asyl für politische Flüchtlinge ins Grundgesetz aufzunehmen. Es galt einschränkungslos und war nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament zu verändern.
Schaut man etwas genauer hin, so ergibt sich ein etwas anderes Bild.
Die US-Militärregierung in Deutschland verfolgte hier allerdings andere Ziele. Für sie war erstens ausschlaggebend, dass der neue westdeutsche Staat die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aus Ostmitteleuropa aufnahm und hier auf Dauer integrierte, um so allen Bestrebungen zur Rückkehr der Flüchtlinge in die Ostgebiete entgegenzuwirken. Zweitens sollte Westdeutschland die im Sommer 1948 noch etwa 500.000 sich im Lande aufhaltenden Displaced Persons (DPs) versorgen. Und drittens forderte das State Department mit Nachdruck, dass die Bundesrepublik auch nichtdeutsche Flüchtlinge aus den kommunistischen Ländern aufnehmen würde.
In der Praxis wurde das Asylrecht in der Bundesrepublik bis in die späten 1970er Jahre nur selten und nahezu ausschließlich auf Flüchtlinge aus den kommunistischen Staaten des Ostblocks angewandt, von denen im Durchschnitt jährlich 2.000 bis 3.000 ins Land kamen. Ihre Anträge auf die Gewährung von Asyl wurden zu 80 Prozent anerkannt. Die Höhepunkte dieser Entwicklung bildeten die Ungarnkrise 1956, als Westdeutschland 15.000 der 20.0000 ungarischen Flüchtlinge aufnahm, und der Prager Frühling 1968, in dessen Folge die Bundesrepublik etwa 5.000 Geflüchteten Aufenthalt gewährte.
Internationale Flüchtlingspolitik
Diese selektive Gewährung von Asyl war jedoch keine deutsche Sonderentwicklung, sondern stand in Einklang mit der internationalen Flüchtlingspolitik nach 1945. Da die Fluchtbewegungen infolge des Zweiten Weltkrieges alle bis dahin gekannten Größenordnungen übertrafen, schuf die Staatengemeinschaft die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die in Europa über sieben Millionen Menschen repatriierte. Zudem wurde die internationale Flüchtlingsorganisation (IRO) gegründet, um die etwa eine Million DPs, die nicht in ihre osteuropäischen Heimatländer zurückkehren konnten oder wollten, in anderen Ländern dauerhaft unterzubringen. Allerdings begrenzten die Vereinten Nationen ihre Hilfe geografisch auf Europa und zeitlich auf Flüchtlinge, die vor 1951 geflohen waren – obwohl am Ende der 1940er Jahre weltweit etwa 100 Millionen Menschen auf der Flucht waren. UNRRA und IRO wurden geschlossen. An ihre Stelle trat mit dem UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) eine kleine Institution, die keine eigenen Hilfsoperationen umsetzen durfte und nach drei Jahren aufgelöst werden sollte.
Auch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 war auf diese Konstellation abgestellt. Sie galt ursprünglich nur für Europa und hier insbesondere für Flüchtlinge aus dem Machtbereich des kommunistischen Lagers. Sie stand ganz im Zeichen der europäischen Flüchtlingsdramen der Nachkriegsjahre und wurde erst 1967 über Europa hinaus ausgedehnt. Vor allem aber gewährte (und gewährt) sie kein Recht auf Asyl und begründet keine Einreiserechte für Individuen, sondern normierte das Recht im Asyl, nicht auf Asyl.
Insbesondere die USA aber setzten sich mit der Ungarnkrise 1956 wieder für eine aktive UN-Flüchtlingspolitik ein.
Politisches Asyl in der bundesdeutschen Praxis
In der Bundesrepublik indes wurde Politisches Asyl weiterhin nahezu ausschließlich für Flüchtlinge aus kommunistischen Staaten gewährt. Im Zuge des Algerienkriegs warnte das Bundesinnenministerium 1960 in Bezug auf die nordafrikanischen Flüchtlinge vor "gefährlichen Ausländern", denen Asyl nicht gewährt werden könne.
Auch die Aufnahme der vietnamesischen "Boatpeople" seit 1979 stand noch im Zeichen der Blockkonfrontation. Nach dem Ende des Vietnamkriegs hatten mehr als 1,6 Millionen Flüchtlinge versucht, in Booten über das Südchinesische Meer ins Ausland zu gelangen. Fast 250.000 starben bei der Überfahrt. Die USA nahmen einen großen Teil von ihnen auf, drängten aber ihre Verbündeten, ebenfalls Flüchtlinge aus Vietnam aufzunehmen. Das stieß bei der Bundesregierung zunächst auf Ablehnung. Schließlich wurden dann aber doch zunächst 1.000 Boatpeople nach Deutschland eingeflogen, die hier das vorgeschriebene Asylverfahren durchlaufen mussten. Dabei zeigte sich aber, dass die meisten von ihnen nicht unter die Kategorie der politischen Flüchtlinge fielen, sondern als Teil der vermutlich eher wohlhabenden Bevölkerung Vietnams vor wirtschaftlichem Ruin geflohen waren. Dies wurde von den westdeutschen Behörden zunächst als politische Verfolgung durch den Kommunismus und somit als Asylgrund angesehen, blieb aber rechtlich umstritten. Als die Bundesrepublik in den folgenden Jahren auf Bitten des UNHCR und der USA insgesamt rund 38.000 Flüchtlinge aus Vietnam aufnahm, umging sie die Prüfung der Asylberechtigung und schuf einen neuen Status, den der "Kontingentflüchtlinge". Ihnen konnte künftig aufgrund einer humanitären Krisensituation im Herkunftsland eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden, ohne dass sie das Asylanerkennungsverfahren durchlaufen mussten.
Allerdings geriet diese Beschränkung des Politischen Asyls auf vornehmlich europäische Flüchtlinge aus kommunistischen Ländern ins Wanken, als das Bundesverwaltungsgericht im Oktober 1975 im Zusammenhang mit den chilenischen Flüchtlingen entschied, dass das Asylrecht keine Schranken kenne und die Ausländereigenschaft von Flüchtlingen diesen nicht zum Nachteil werden dürfe. Damit aber entfaltete der Asylartikel eine ursprünglich nicht vorgesehene universelle Wirkung, wie sich bald erwies. Denn während die Zahl der Asylsuchenden in den 1970er Jahren sehr klein war und in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde, begann sich dies um 1980 zu ändern. Die Machtübernahme der Islamisten in Iran, der Bürgerkrieg im Libanon, vor allem aber der Militärputsch in der Türkei im September 1980 zogen große Fluchtbewegungen nach sich. Erstmals wurde der Begriff "Asyl" in der Bundesrepublik einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Schon früh machte die Bunderegierung deutlich, dass sie einer Ausweitung des Politischen Asyls nicht ohne Weiteres zustimmen würde. Als Hauptargument gegen die Ausdehnung galt nun aber nicht länger die Beschränkung auf Flüchtlinge aus kommunistischen Ländern, sondern der Verdacht, die Flüchtlinge kämen aus wirtschaftlichen, nicht aus politischen Gründen ins Land. So erklärte Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann im Dezember 1982: "Eine Vielzahl der Bewerber sieht im deutschen Asylverfahren das Instrument, aus wirtschaftlichen Gründen einen Aufenthalt im Bundesgebiet zu erzwingen. Eine immer größer werdende Zahl von Asylbewerbern benutzt das Asylrecht als ein ‚Sesam-öffne-Dich‘ in das wirkliche oder manchmal auch nur vermeintliche Sozialparadies Bundesrepublik."
Daraufhin wurde in der Öffentlichkeit mit dem Hinweis auf Artikel 16 GG eine Liberalisierung der Asylpraxis gefordert. Das traf vor allem bei den Unionsparteien auf strikte Ablehnung. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich jene scharfe und in weiten Teilen hysterische Debatte der späten 1980er und frühen 1990er Jahre über die Asylgewährung, die für etwa zehn Jahre zu einem der beherrschenden Themen der bundesdeutschen Innenpolitik wurde.
Viel stärker als die Krisen in der Türkei und im Nahen Osten wirkte sich hier aber der Zusammenbruch der kommunistischen Länder im Machtbereich der Sowjetunion aus. Die Zahl der "Ostflüchtlinge" war bereits seit 1980 deutlich angestiegen. 1986 kam jeder sechste Asylsuchende aus Osteuropa, 1988 jeder dritte. Mit der Öffnung der Grenzen in Osteuropa seit 1989/90 nahm die Zahl der Asylbewerber dann drastisch zu. Sie stieg von 1989 bis 1992 von 120.000 auf 438.000, um nach der Änderung des Artikels 16 GG im Dezember 1992 ("Asylkompromiss") wieder auf das Ausgangsmaß zurückzufallen. Von 1986 bis 2006 beantragten etwa 2,8 Millionen Menschen in Deutschland Politisches Asyl. Zwei Drittel von ihnen kamen aus Osteuropa.
Zur gleichen Zeit stieg auch die Zahl der aus den Ostblockländern in die Bundesrepublik einwandernden deutschstämmigen "Aussiedler" in erheblichem Maße. Bei diesen Menschen handelte es sich um die in Osteuropa lebenden Deutschen, die nach den großen Flucht- und Vertreibungswellen zwischen 1944 und 1949 in ihren Heimatgebieten verblieben waren. Von ihnen hatten in den vorangegangenen Jahren nur wenige in den Westen übersiedeln können, meist nach Vereinbarungen unter dem Rubrum "Familienzusammenführung". Von 1986 bis 2006 kamen 3,1 Millionen Aussiedler nach Deutschland; jeweils zu etwa einem Drittel aus der Sowjetunion, aus Polen und aus Rumänien. Sie erhielten umgehend die deutsche Staatsbürgerschaft und wurden als Deutsche bevorzugt behandelt, etwa nach dem Muster der insgesamt etwa 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen der Nachkriegsjahre.
Insgesamt kamen also zwischen 1986 und 2006 fast 8 Millionen Zuwanderer nach Deutschland, jeweils etwa 3 Millionen als Asylbewerber und als Aussiedler, überwiegend aus Osteuropa, sowie etwa 1,4 Millionen Zuwanderer aus den EU-Staaten, die in der EU Aufenthaltsrecht besaßen. Die Aussage vom Herbst 2015, noch nie seien so viele Zuwanderer nach Deutschland gekommen, muss also stark relativiert werden.
"Asylkompromiss" und "Dublin"
Bereits seit 1988 hatten die Unionsparteien darauf bestanden, dass der stark zunehmende Zuwanderungsdruck nach Deutschland abgewehrt werden müsse – und zwar durch die Änderung des Grundgesetzartikels über die Gewährung von Politischem Asyl. Bei der SPD war diese Frage umstritten. Daraufhin begann die Union im Vorfeld der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen vom Dezember 1990 mit einer Kampagne für eine Veränderung des Asylartikels, zu der man eine Zweidrittelmehrheit und also die Zustimmung der Sozialdemokraten benötigte. Im Zentrum der Kampagne stand die Behauptung, dass es sich bei den Asylbewerbern überwiegend um Schwindler und Betrüger handele, die von den hohen sozialen Leistungen in der Bundesrepublik angelockt würden. Und obwohl zwei Drittel der Asylbewerber aus Osteuropa stammten, konzentrierte sich die Asylkampagne auf Menschen aus dem südlichen Afrika. Dabei spielte die "Bild" eine entscheidende Rolle, die die Zuwanderung von Asylbewerbern stetig dramatisierte: "Je länger das Verfahren dauert, umso genauer wissen sie, wie man sich zum politischen Märtyrer hochfrisiert", schrieb sie. "Aber kein Ausländer muss sofort Asyl beantragen. Er kann warten, bis man ihn erwischt. Als Schwarzarbeiter. Als Dieb. Als Drogenhändler."
Mit jedem Monat, in dem steigende Asylbewerberzahlen gemeldet wurden, verschärfte sich der Ton weiter. Kein anderes Thema, auch nicht die Wiedervereinigung, bewegte die Deutschen in den Jahren zwischen 1990 und 1993 so sehr wie die Asylproblematik. Es war deshalb nicht sehr überraschend, dass es seit dem Sommer 1991 vermehrt zu "ausländerfeindlichen" Aktionen kam – wohl aber, welches Ausmaß und welchen Grad an Gewalttätigkeit sie erreichten. Die Exzesse von Hoyerswerda, von Rostock-Lichtenhagen, von Hünxe, Mölln oder Solingen erregten bald national wie international Aufsehen und Entsetzen. Von 1990 bis 1995 kamen bei derartigen Ereignissen mindestens 49 Menschen ums Leben.
Unter dem Druck dieser Ereignisse und der weiter eskalierenden Kampagne hatte die SPD schließlich der Änderung des Asylartikels zugestimmt, wonach Asyl nur beantragen kann, wer nicht aus einem sicheren Drittstaat einreist. Deutschland riegelte sich dadurch gegenüber einer Zuwanderung auf dem Asylweg ab und übertrug die Verantwortung auf die Staaten an den Außengrenzen der EU.
Deutschland war hier allerdings keine Ausnahme. In dem Maße, in dem die Fluchtbewegungen zunahmen, hatten die Zielländer im Globalen Norden Mechanismen geschaffen, um Flüchtlinge abzuwehren. Die EU hatte mit den Schengener Abkommen 1985 und 1990, die 1999 in europäisches Recht übernommen wurden, ein Europa ohne Binnengrenzen geschaffen. Die Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten fielen nun weg. Im Dubliner Übereinkommen von 1990 (in Kraft ab 1997, abgelöst durch die Dublin-Verordnung 2003) hatten die EU-Staaten weiterhin vereinbart, dass Flüchtlinge in dem ersten EU-Land, das sie betraten, um Asyl nachsuchen und sich registrieren lassen mussten.
Folgen des "Arabischen Frühlings"
Seit 1960 war der Anteil wandernder Menschen an der Weltbevölkerung relativ stabil und lag bei etwa 0,6 Prozent. Seit 2010 aber stieg er weltweit sprunghaft an – 2019 galten 272 Millionen Menschen als Migranten, 3,5 Prozent der Weltbevölkerung.
Bis 2011 hatten die nordafrikanischen Regime die Durchreise von Migranten auf dem Weg nach Europa weitgehend verhindert – meist in Absprache mit den europäischen Staaten und gegen erhebliche finanzielle Zuwendungen. Als nach dem Sturz der alten Diktatoren in den meisten nordafrikanischen Ländern jedoch islamistische Parteien die Regierung stellten, rissen in Ägypten und Algerien bald wieder autoritäre Militärregierungen die Macht an sich. Libyen jedoch wurde nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis zum failed state, der seine Küsten nicht mehr kontrollieren konnte. Daraufhin nahm die Zahl der nach Europa strebenden Migranten aus dem subsaharischen Afrika deutlich zu.
Die bei Weitem meisten afrikanischen Migranten suchten innerhalb des afrikanischen Kontinents Aufnahme – wegen fehlender finanzieller Ressourcen, unzureichender Netzwerke und nicht zuletzt der restriktiven europäischen Migrationspolitik. Demgegenüber lebten 2017 rund 17 Millionen Menschen aus Afrika außerhalb des Kontinents, etwa die Hälfte von ihnen in Europa. Der Anteil afrikanischer Menschen an der Gesamtmigration nach Europa lag 1990 bei 20 Prozent, fiel im folgenden Jahrzehnt stark und stieg bis 2017 auf 36 Prozent. Die Süd-Nord-Wanderungen sind allerdings, anders als die grenzüberschreitende Binnenmigration, nicht durchgehend als Elendsmigration anzusehen, sondern auch als rationaler Versuch der Migrantenfamilien, die eigene Lage nachhaltig zu verbessern. Durch die Migrationsprozesse in den Norden wird die wirtschaftliche Lage des Südens nicht grundsätzlich verbessert, aber individuell entlastet.
Das Beispiel Senegals mag das verdeutlichen. 2005 lebten rund vier Prozent der senegalesischen Bevölkerung im Ausland. Wie in anderen westafrikanischen Ländern ist die Auswanderung hier meist Familiensache: Das heißt, oft finanziert die Familie die teure und riskante Reise durch die Sahara und die Passage über das Mittelmeer, die in über acht von zehn Fällen von Männern angetreten wird. Etwa 70 Prozent der Haushalte haben Verwandte im Ausland, die Hälfte davon in Europa. Der Anteil der Arbeitslosen unter den Ausgewanderten ist deutlich unterdurchschnittlich, ihre Ausbildung und ihr sozialer Status sind hingegen überdurchschnittlich. 2005 hatten 51,4 Prozent der im Land ausgebildeten Ärzte und ein Viertel des Pflegepersonals den Senegal verlassen.
Die meisten Migranten aus dem subsaharischen Afrika wählten nach dem Zusammenbruch des Gaddafi-Regimes den Weg nach Europa über Libyen. Sie wurden von dort von Schleusern meist nach Süditalien gebracht. 2011, also nach Beginn des Arabischen Frühlings, kamen allein bis August fast 50.000 Migranten aus dem südlichen Afrika in Italien an, vor allem auf Lampedusa. Tausende von ihnen ertranken während der Überfahrt, woraufhin Italien ein Rettungssystem einrichtete ("Mare Nostrum"), das bis 2014 vermutlich mehreren Zehntausend Migranten das Leben rettete. Auf diese Weise aber verringerten sich die Risiken der Überfahrt, was zur Ausdehnung der Schleuserfahrten und zum deutlichen Anstieg der Zahl der Bootsflüchtlinge führte. Daraufhin wurde – nicht zuletzt auf Druck der deutschen Regierung – "Mare Nostrum" eingestellt. Die Zahl der Ertrunkenen stieg an, die Zahl der Migranten auf der Mittelmeerroute nahm wieder ab.
Da eine Vereinbarung über die Verteilung der in Italien ankommenden Migranten auf die EU-Staaten nicht zustande gekommen war, boten sich den italienischen Behörden nur zwei Möglichkeiten: sie zu registrieren und im Lande zu behalten oder sie zurückzuschicken. Da Ersteres auf scharfe Proteste der italienischen Bevölkerung stieß, Letzteres sich aber als unmöglich erwies, entschieden sich die italienischen Behörden für einen dritten Weg. Sie registrierten die Zuwandernden nicht, sondern überließen sie ihrem Schicksal. Ein Teil von ihnen kam als billige Erntehelfer in Süditalien oder in der Schattenwirtschaft unter. Die anderen wurden nach Nordeuropa "durchgewunken". Da es in der EU keine Binnengrenzen mehr gab, konnten sie reisen, wohin sie wollten.
Die im Dezember 2010 von Tunesien ausgehende Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen in der arabischen Welt fand ihre schärfste Zuspitzung im syrischen Bürgerkrieg. Zwischen 2011 und 2015 mussten mehr als 12 Millionen Syrer fliehen, etwa 60 Prozent der Bevölkerung. Rund 6,3 Millionen von ihnen flohen ins Ausland, davon 3,4 Millionen in die Türkei, eine Million in den Libanon und 630.000 nach Jordanien.
Durch die Ausbreitung des "Islamischen Staates" in Syrien und im Irak 2014 stieg die Zahl der Flüchtlinge weiter an. Dabei flohen die Anhänger der Opposition vor den Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und die Anhänger Assads vor den Truppen des IS, und ein Großteil der Bevölkerung vor beiden. Zugleich sank die Aussicht auf ein baldiges Ende des Bürgerkrieges und eine Rückkehr in die Heimat. Eine Weiterreise nach Europa schien aber zunächst kaum möglich, bis sich mit der Überfahrt vom türkischen Festland zur nur zehn Kilometer entfernten griechischen Insel Lesbos eine neue Option ergab. Die griechischen Grenzbehörden waren infolge der gewaltigen Staats- und Finanzkrise des Landes schlecht ausgestattet und weder in der Lage noch gewillt, die rasch anwachsende Zahl der Flüchtlinge zu registrieren oder sie gar im Lande unterzubringen. So winkten sie sie vielfach nach italienischem Vorbild durch. Mit Bussen wurden die Flüchtlinge durch Mazedonien und Serbien an die ungarische Grenze gebracht – die Balkanroute. Angesichts dieser Entwicklungen wurde der Weg über Griechenland für Flüchtlinge attraktiver, und seit dem Frühjahr 2015 boten die Schleuser die Route über Lesbos in großem Stil an.
August 2015
Damit sind wir nun wieder im August 2015 angekommen und bei den eingangs geschilderten Ereignissen rund um den 5. September. Die Entscheidung Merkels stieß in Deutschland auf große Zustimmung. "Sie dürfen zu uns – Merkel beendet die Schande von Budapest", jubelte die "Bild am Sonntag" am 6. September. Nach ihrer Ankunft in Österreich wurde ein Großteil der Flüchtlinge mit Zügen nach München gebracht. Am Münchner Hauptbahnhof versammelten sich viele Einheimische, die die ankommenden Flüchtlinge betont freundlich begrüßten. Überall erklärten sich zahlreiche Deutsche bereit, bei der Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge zu helfen, im Fernsehen und über soziale Medien wurde live berichtet. Bis zum Abend des 6. September wurden in München etwa 17.000 Flüchtlinge gezählt. Die Behörden versuchten, sie in der Stadt oder im Umland irgendwie unterzubringen. An eine Registrierung war zunächst nicht zu denken.
In den Folgetagen nahm die Zahl der Ankommenden stetig zu. Die Bundespolizei forderte daraufhin die sofortige Grenzschließung nach dem Vorbild der Sicherungsmaßnahmen beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau im Frühjahr 2015, als vorübergehend Grenzkontrollen eingeführt worden waren. Die Bundesregierung folgte diesem Vorschlag jedoch nicht. Bundesinnenminister Thomas de Maizière begründete dies damit, dass eine solche Grenzschließung dem europäischen Recht widerspreche und zudem nur mit massiver Gewaltanwendung durchzusetzen sei. Ein solches Auftreten der Staatsorgane hatte die Bundesregierung am Vorgehen der Ungarn scharf kritisiert und war, so de Maizière, in Deutschland angesichts der prononciert flüchtlingsfreundlichen Stimmung nicht durchzuhalten.
Die zunächst sehr positive, zum Teil enthusiastische Reaktion in der deutschen Öffentlichkeit begann sich allerdings bereits nach wenigen Wochen zu verändern. Das lag vor allem an der gewaltigen Zahl der Flüchtlinge. Bis Ende des Jahre 2015 wurden 1.091.894 Flüchtlinge registriert, im Jahr darauf 321.361. 1,2 Millionen von ihnen stellten einen Asylantrag.
Die Bundesregierung drängte nun die übrigen EU-Mitgliedstaaten, einen Teil der nach Deutschland eingereisten Flüchtlinge zu übernehmen – allerdings ohne Erfolg. Daraufhin legte die EU-Kommission auf deutschen Druck hin einen Plan zur gerechten Verteilung der Flüchtlinge auf alle EU-Staaten vor, der auf weitgehende Ablehnung stieß. Denn hatte Deutschland, so hieß es aus Italien und anderen Staaten, nicht bis vor Kurzem noch jede Lastenteilung strikt verweigert? Auch der Beschluss, 120.000 besonders Schutzbedürftige umzuverteilen, wurde nicht umgesetzt; und selbst mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen EU-Staaten, die das gemeinsame EU-Asylrecht verletzt oder nicht angewandt hatten, führten zu keinem Ergebnis. Schließlich forderte die EU-Kommission sogar, diejenigen EU-Länder, die sich der Aufnahme von Flüchtlingen verweigerten, mit der Kürzung von EU-Geldern zu bestrafen, was die deutsche Position endgültig unhaltbar machte. Die meisten EU-Länder planten vielmehr, wieder Kontrollen an EU-Binnengrenzen einzurichten, was zur sofortigen Verstärkung der Fluchtbewegungen führte, weil viele Flüchtlinge befürchteten, dass die Grenzen bald ganz geschlossen würden.
Das geschah auch, und zwar in zwei Schritten: Ende Februar 2016 schlossen Österreich, Ungarn, Kroatien, Slowenien, Serbien und Nordmazedonien ihre Grenzen für Flüchtlinge. Damit war die sogenannte Balkanroute geschlossen. Das verursachte, wie von de Maizière vorausgesagt, einen erheblichen Rückstau in Griechenland und verstärkte dort die teilweise chaotischen Zustände in den grenznahen Flüchtlingslagern. Am 19. März traf die EU-Kommission mit der Türkei eine von der Bundesregierung geforderte Vereinbarung, das die Türkei gegen Zahlung von zunächst drei, dann sechs Milliarden Euro verpflichtete, Flüchtlingen die Überfahrt aus der Türkei nach Griechenland zu verwehren.
Fazit
In den Ereignissen um den 5. September 2015 bündeln sich verschiedene historische Entwicklungen, die abschließend in sechs Punkten zusammengefasst werden sollen.
Erstens: Die deutsche Asylpolitik ist im Kontext des Kalten Krieges entstanden und wurde jahrzehntelang in diesem Kontext praktiziert. Erst in den 1980er Jahren wurde das Recht auf Politisches Asyl als unumschränktes Aufnahmegebot politischer Flüchtlinge interpretiert, aber sogleich reduziert und schließlich durch den Asylkompromiss von 1992 weitgehend außer Kraft gesetzt. Diese Entwicklung stand im Einklang mit der internationalen Asylpolitik, die bis in die 1960er Jahre auf Europa und Flüchtlinge aus den kommunistischen Ländern ausgerichtet war. Der späte Aufbau des UNHCR zu einer handlungsfähigen Organisation und seine stetige Aufgabenerweiterung wurden durch seine Unterfinanzierung und die Konzentration auf eine lokale Unterbringung der Flüchtlinge in Lagern beeinträchtigt.
Zweitens: Die Abschaffung der europäischen Binnengrenzen ohne eine verbindliche gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik, ohne eine einheitliche Sicherung der Außengrenzen und eine Vereinbarung über die Verteilung der Zuwandernden auf die Mitgliedstaaten hat sich als gravierendes Versäumnis der EU herausgestellt. Es ist indes nicht abzusehen, dass es hier zu raschen Veränderungen kommen wird.
Drittens: Die Ausschreitungen und Pogrome der frühen 1990er Jahre in Deutschland stellten die politische Brisanz der Flüchtlingsproblematik, aber auch generell des wachsenden Anteils an Zuwanderern in der deutschen Bevölkerung unter Beweis. Diese Erfahrungen wurden nach dem Rückgang der Asylbewerberzahlen nach dem Asylkompromiss aber rasch und weitgehend verdrängt. Die Einreise von fast acht Millionen Menschen mit unterschiedlichem Status in die Bundesrepublik zwischen 1986 und 2006 hat jedoch gezeigt, dass die Aufnahme und Integration auch sehr hoher Zahlen von Zuwanderern in Deutschland möglich und auch sinnvoll ist, wenn die Aufnahmegesellschaft dem zustimmt und daran ein Interesse hat. Dies aber war seit dem Sommer 2015 nur zum Teil der Fall.
Viertens: Die Höhepunkte der Zuwanderung seit 1990 waren auf politische Großereignisse wie den Zusammenbruch der Sowjetunion oder den syrischen Bürgerkrieg zurückzuführen. Gleichwohl ist auch in Zukunft jenseits solcher Entwicklungen mit stetiger Zuwanderung in den reichen Globalen Norden zu rechnen. Die Ursachen der Massenmigration liegen im eklatanten wirtschaftlichen Gefälle zwischen den reichen und den armen Regionen der Welt, das durch kurzfristige Maßnahmen nicht zu beseitigen ist. Zudem sind Armut und politische Destabilisierung miteinander verbunden, sodass politische und wirtschaftliche Motive der Migranten oft kaum unterscheidbar sind. Insofern würde der pragmatisch klingende Hinweis, man möge doch die "Fluchtursachen" bekämpfen, im Kern einen strukturellen Umbau der Weltwirtschaft bedeuten und ist schon deshalb jedenfalls kurz- und mittelfristig wenig aussichtsreich.
Fünftens: Wer darauf setzt, die Massenmigration von Süd nach Nord komplett abzuschneiden, etwa durch massive Grenzbefestigungen, wie sie derzeit im Süden der USA entstehen, wird die ohnehin schon explosive Situation in den Emigrationsländern weiter verschärfen, die sich auch in politischen Bewegungen wie etwa dem islamischen Extremismus ausdrückt. Wer darauf setzt, die Zahl der aufgenommenen Zuwandernden deutlich zu erhöhen, wird die Abwehrreaktionen von Teilen der einheimischen Bevölkerungen in den Einwanderungsländern weiter befördern und damit der Verbreitung rechtsextremistischer Einstellungen Vorschub leisten. Die bereits mehrfach diskutierte Aufnahme von etwa einer halben Million Zuwanderer pro Jahr in die Länder der EU kann je nach wirtschaftlicher Lage ein gangbarer Weg sein, den Migrationsdruck einerseits und die Interessen der Zuwanderungsländer andererseits miteinander zu vereinbaren. Er setzt allerdings sowohl einen mehrheitlichen Konsens in den Einzelstaaten voraus als auch die Vereinbarung einer einheitlichen Asyl- und Flüchtlingspolitik in der EU. Nicht zuletzt aufgrund der hier erörterten Entwicklungen ist aber vermutlich weder mit dem einen noch mit dem anderen zu rechnen.
Sechstens: Wer darauf wartet, dass sich diese vielfältige und sich dynamisch verändernde Problematik auf einen Schlag durch irgendeine große Lösung entwirren lässt, wird enttäuscht werden. Die "Lösbarkeit" von Flucht und Migration ist eine Fiktion. Tatsächlich ging es in der Praxis der vergangenen Jahrzehnte meist um Abmilderung und Steuerung, und es gibt keine Hinweise, dass sich das in Zukunft ändern würde. Insofern sind die Aussichten aus dem hier Vorgetragenen vielleicht nicht gänzlich hoffnungslos, aber gewiss auch nicht optimistisch.