Der "Sommer der Willkommens" 2015 hat im kollektiven Gedächtnis der Deutschen tiefe und trennende Spuren hinterlassen. Die Entscheidung der Bundesregierung, die deutschen Grenzen nicht zu schließen und Schutzsuchende nicht abzuweisen, entzweite die deutsche Bevölkerung entlang den Bruchlinien ihres Verständnisses deutscher Staatlichkeit.
Auf der einen Seite stand die Empfindung des "Kontrollverlusts". Das unkontrollierte Einströmen Hunderttausender fremder Menschen in das Land wurde darin zur traumatischen Erfahrung und Verletzung eines Staats- und Volkswesens, das man sich körperhaft, mit einer eigenen Integrität, vorstellt. Die massenhafte, ungeregelte Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland erschien als beängstigendes Symptom der Schwäche oder sogar Kapitulation der Staatsmacht. In der als existenziell empfundenen Bedrohung sollte das Europarecht notstandsmäßig dem deutschen Recht untergeordnet werden. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit wurde damit an die Kontrolle der physischen Staatsgrenze geknüpft, und der Topos des Kontrollverlusts steigerte sich noch zum Mythos vom "Rechtsbruch".
Auf der anderen Seite stand eine viel weniger ausformulierte, offenere und ambivalentere und bis heute kaum verstandene zeitgenössische Empfindung: Da die tatsächlichen Herausforderungen globaler Natur sind, habe sich die deutsche Staatlichkeit an ihnen zu bewähren, ob das der deutschen Gesellschaft nun passt oder nicht. Demnach scheint, dass die Staatlichkeit den globalen Herausforderungen teilweise gewachsen ist, teilweise aber eben auch nicht, je nach Perspektive und je nach Situation. Diese Offenheit gegenüber dem Verhältnis von Staatlichkeit und Welt wurde in der sogenannten Flüchtlingskrise zugelassen und war, so meine These, das einigende Band, das im Sommer 2015 eine Blütezeit der "Willkommenskultur"
Ich möchte in diesem Beitrag einige Überlegungen zu ihrer Gestalt und Genese, zu ihrem Potenzial und ihrem Zukunftshorizont anstellen. Dabei werde ich auch auf eigene Erinnerungen und Erfahrungen rekurrieren, denn ich bin der Willkommenskultur engstens verbunden, nicht nur privat, durch Ehrenamt oder politisch, sondern auch akademisch, als Historikerin und Hochschullehrerin am Bard College Berlin, das viele geflüchtete Studierende beherbergt. Wo wir uns in unserem Verhältnis zur Willkommenskultur selbst verorten – als Teil von ihr, außerhalb von ihr oder im Gegensatz zu ihr in einer "Ablehnungskultur"
Die unwahrscheinliche Hegemonie der Willkommenskultur
Keine Kultur kommt ohne Vorläufer aus. Der großen Welle von Hilfsbereitschaft, die den langen Sommer 2015 für vollkommen fremde Menschen durch ganz Europa schwappte, gingen viele kleine Wellen voraus. Deren Ursprünge reichen bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts, als durch das Ende der alten Imperien die gewaltsame Schaffung möglichst homogener Nationalstaaten zur (Schein-)Lösung der Probleme der Moderne ihren Ausgang nahm. Selbst Flüchtling zu sein, selbst Flüchtlingen geholfen zu haben, ist in den kollektiven Erinnerungen von Deutschen ein häufiger Topos, ganz zu schweigen von den kollektiven Erinnerungen zum Beispiel von Sizilianerinnen oder Griechinnen.
Dennoch war 2015 anders als alle Male vorher. Das lag zunächst einmal vor allem daran, dass die Willkommenskultur für eine kurze Zeit Hegemonialität erlangte.
Ein persönlicher Blick in die Provinz: Ich war Anfang September 2015 bei meinen Eltern in dem tiefschwarz-katholischen oberbayerischen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, Österreich in Sichtweite. Der katholische Priester, der evangelische Pfarrer, der örtliche Arzt und ein Dutzend Hausfrauen bildeten im Milieu treuer CSU-Wählerschaft einen Helferkreis, dem sich auch meine Eltern anschlossen. Der Zusammenschluss, der Behördengänge übernimmt, Ausbildungs- und Arbeitsplätze sucht und zwischen den eingesessenen Dorfbewohnern und den Geflüchteten in der Containerunterkunft vermittelt, funktioniert bis heute. Das waren jene Leute, die sich später empört von der CSU abwandten, als Horst Seehofer seine Distanzierung von "Merkels Flüchtlingspolitik" programmatisch und rhetorisch bis an den Rand des Koalitionsbruchs vorantrieb. Dass einer meiner syrischen Studenten am Bard College Berlin, wie er mir später erzählte, im Sommer 2015 auch durch diese Gegend wanderte und, nach Jahren des Verfolgtseins, des Vertriebenwerdens, des Immer-wieder-fliehen-Müssens, von einem bayerischen Polizisten bei der Registrierung mit den Worten "Welcome to Germany" empfangen wurde, lässt die Provinz allerdings idyllischer erscheinen, als sie war. Meine bayerische Freundin aus Kindertagen berichtete mir, was ihr die vor 25 Jahren aus Bosnien geflohenen Frauen, die im Altenheim unseres Nachbardorfes die Alten pflegen, erzählten: In den bosnischen Dörfern sähe man nun wieder den großen schwarzen Hund herumstreunen, der damals den Ausbruch des Bürgerkriegs angekündigt habe. Es sei wieder so weit; böse Zeiten stünden bevor.
Jedenfalls lässt sich gerade an der Provinz ablesen, dass die kurze Hegemonialität der Willkommenskultur drei neue Entwicklungen hervorbrachte. Erstens: Der Stadt-Land-Gegensatz, der bis dahin Willkommenskulturen und Ablehnungskulturen geschieden hatte, wurde zwar nicht aufgehoben, aber doch deutlich durchlässiger. Zweitens: Neue Initiativen und Freiwilligenaktionen konnten sich so weit institutionalisieren, dass sie häufig das Ende der Hegemonialität überlebten. Und drittens fand in der Breite eine gewisse Konfrontation mit den Realitäten jenseits des deutschen Tellerrands statt, ein Aufblitzen der Realitäten, die hinter Zwangsmigrationen stehen und die immer politisch herbeigeführte, gestaltete Realitäten sind, auch wenn die Menschen sie in Legenden und Fabeln kleiden, um sie ertragen zu können.
Eingeebnet, eingebettet, handhabbar, aber auch verharmlost wurde das Aufblitzen durch Merkels Devise: "Wir schaffen das". In der Verfilmung von Robin Alexanders Bestseller "Die Getriebenen", die das gegen Merkel gerichtete Narrativ des Buches ins glatte Gegenteil verkehrt, wird ironisch deutlich, welchen politischen Kraftaufwand es bedeutete, die so fragile europäische Rechtsordnung nicht noch weiter zu beschädigen und die deutsche Grenze nicht zu schließen.
Zugehörigkeit und Universalismus
Was aber war die eigene Wirklichkeit, mit der sich die Deutschen nun zu beschäftigen hatten? Jede Einwanderung stellt die Frage nach der Verfasstheit; danach, was "das Land" eigentlich zusammenhält und wonach entschieden werden soll, wer unter welchen Bedingungen dazugehört und was Zugehörigkeit überhaupt bedeutet, welche Rechte und Pflichten gelten sollen, wie Teilhabe verstanden wird.
Diese Fragen können allerdings nie eindeutig beantwortet werden. Denn die Ambivalenz ist in das Grundgesetz selbst eingebaut – und damit auch das Zugeständnis, dass vollständige Kontrolle, vollständige Souveränität, gar nicht möglich ist. Das Grundgesetz ist durchzogen von sich ergänzenden, aber auch sich widersprechenden Normen, was Fragen der Zugehörigkeit anbelangt.
2010 zog der Politologe Jan-Werner Müller das Konzept des Verfassungspatriotismus heran, um das Verhältnis der Deutschen zu ihrem liberaldemokratisch verfassten Staat neu zu justieren und zwischen diesen Dimensionen einen neuen Ausgleich zu finden. Müller band den Verfassungspatriotismus an die universelle Anschlussfähigkeit: "[O]b man bei Nationalkultur anfängt und dann bei liberaldemokratischen Werten landet, oder umgekehrt (…) mit universellen liberaldemokratischen Prinzipien beginnt und daraus unter spezifischen historischen Umständen eine partikulare Verfassungskultur gewinnt, ist bei Weitem nicht gleichgültig."
Schon Jürgen Habermas hatte Ende der 1980er Jahre den Verfassungspatriotismus an den Universalismus geknüpft, zusätzlich aber auch noch an das Erbe der Französischen Revolution. Im Universalismus "jene[r] Ideen, die den demokratischen Rechtsstaat inspiriert haben", liege das eigentliche, das "uneingeholte Erbe" der bürgerlichen Revolutionen. Der universalistische Kern habe "seine Sprengkraft und Vitalität bewahrt, nicht nur in den Ländern der Dritten Welt und im sowjetischen Herrschaftsbereich, sondern auch in den europäischen Nationen". Allerdings habe nur die Französische Revolution, als einzige unter allen bürgerlichen Revolutionen, das entsprechende "revolutionäre Bewusstsein" erzeugt. Mit ihr sei ein "radikal innerweltlicher, nachmetaphysischer Begriff des Politischen" und eine revolutionäre, für universalistische Werte kämpfende Praxis entstanden. Doch genau dieses revolutionäre Bewusstsein sei schon bald "blass" geworden. Es sei zu einer "Mentalität" geronnen, die sich "sowohl verstetigt wie auch trivialisiert" habe. Es habe sich ihm "die Melancholie eingeschrieben – die Trauer über das Scheitern eines gleichwohl unaufgebbaren Projektes". Habermas löst sodann den normativen Gehalt der Französischen Revolution von dem revolutionären Bewusstsein und übersetzt ihn in die Arbeitsweisen der liberaldemokratischen Republik, wo er sowohl "gestaltend" als auch "sprengend" weiterwirke.
Enttäuschte Hoffnungen der 1990er Jahre
Nun hat das revolutionäre Bewusstsein – vom "Arabischen Frühling" bis zu den heutigen Protesten in Hongkong – immer wieder bewiesen, wie wenig trivial es ist. Gleichzeitig erhielt die Hoffnung in Deutschland, dass mit dem Zusammenbruch der DDR, mit der Vereinigung und der Einbindung Deutschlands in die Europäische Union der universalistische normative Gehalt des bundesrepublikanischen Verfassungspatriotismus bekräftigt und bestätigt oder wenigstens nicht beschädigt werden würde, herbe Schläge.
Bestärkt wurde zunächst einmal die ethnisch-kulturelle Dimension der Zugehörigkeit zu Deutschland, und zwar auf dreifache Weise: erstens in der weiter wirkenden Verantwortung für die "Volksdeutschen", die bis zum "Asylkompromiss" 1993 unbegrenzt und danach begrenzt nach Deutschland einwandern konnten und die deutsche Staatsangehörigkeit bekamen; zweitens in der Verantwortung für die jüdischen Kontingentflüchtlinge, die aufgrund der "gemeinsamen" Geschichte des Holocaust nach Deutschland einwandern und eingedeutscht werden konnten. Beides stand noch nicht im Konflikt mit der transnationalen Dimension, im Gegenteil, es ergänzte sie. Doch drittens, und all das muss zusammen gesehen werden, wurde die ethnisch-kulturelle Dimension auch bestätigt durch die politische Effektivität der Mordanschläge, der brennenden Flüchtlingsheime, der ungeschminkten Rassismen und der Sorge wegen der "Asylantenflut" – denn diese hatten die gravierende Einschränkung des Grundrechts auf Asyl im Asylkompromiss wesentlich mitmotiviert.
Die mörderische, rassistische Gewalt von Mölln und Rostock-Lichtenhagen 1992 steht nicht außerhalb unserer Verfassungskultur, sie wurde durch die Einschränkung des Asylrechts im Namen des "inneren Friedens" und des "friedlichen Zusammenlebens von deutschen und ausländischen Mitbürgern" in sie hineingeholt.
Aber auch in den 1990er Jahren gab es bereits eine Willkommenskultur. Wieder eine persönliche Erinnerung, diesmal an die städtischen und universitären Räume, auf die sie damals noch beschränkt war. 1991 gründete ich an der Münchner Universität den Verein "Deutsch für Flüchtlinge". Damals warteten Asylbewerberinnen in Bayern oft über Jahre, ohne arbeiten zu dürfen, auf eine Entscheidung ihres Asylverfahrens. Sie erhielten nur Sachleistungen und waren ohne die Möglichkeit, Deutsch zu lernen, vollständig von der Gesellschaft isoliert. Ebenso die "Geduldeten", die sich unter dem Paradigma der Exklusion in einem rechtlichen Limbo von Monat zu Monat hangelten. Wir gingen in die Flüchtlingsunterkünfte und boten dort umsonst Deutschunterricht an. Den Verein gibt es bis heute. Unterstützt wurde er von einer anderen Initiative, der Münchner Lichterkette, die am Nikolaustag 1992 400.000 Menschen mit Kerzen in der Hand auf die Straße brachte, um gegen rechte Gewalt und Ausländerhass zu demonstrieren.
Im Ergebnis brachte die Willkommenskultur der ersten Flüchtlingskrise Anfang der 1990er Jahre mit Vereinen wie dem unsrigen bereits einige Institutionalisierungen des humanitären Engagements für Geflüchtete hervor. Sie war aber auch der Beginn einer Politisierung. Im Februar 1993 legte die SPD, nach Bündnis 90/Die Grünen, einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vor.
Weiterwirken des universalistischen Kerns
Gleichwohl wirkte in diesen Jahren der universalistische Kern des Verfassungsstaates gestaltend und sprengend weiter. 1998 kam eine rot-grüne Regierung an die Macht, mit dem Wählerauftrag, endlich die Selbstanerkennung Deutschlands als Einwanderungsland gesetzlich festzuschreiben. Ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz fügte dem Ius Sanguinis, der Abstammungsgemeinschaft, Elemente des Ius Soli, der Territorialgemeinschaft, hinzu. Die "Ausländergesetze" wurden nun in "Aufenthaltsgesetze" und "Integrationsgesetze" umformuliert. Das "Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge", das früher ganz und gar der Ablehnungskultur verhaftet war, erhielt als "Bundesamt für Migration und Flüchtlinge" eine willkommenskulturelle Anreicherung; und die Ausländerämter bekamen die Chance, sich ebenfalls nicht mehr ausschließlich als Schrankenwärter und Deportationsbehörden, sondern auch als Dienstleister zu verstehen.
Soweit das Gestaltende. Das Sprengende zeigte sich immer dort, wo die transnationale Dimension in einen echten Konflikt mit der ethnisch-kulturellen Dimension geriet. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Jan-Werner Müllers Buch, in dem er den Verfassungspatriotismus unauflöslich an den universalistischen Kern bindet, ebenso 2010 erschien wie Thilo Sarrazins rassistisch-exkludierendes Werk "Deutschland schafft sich ab".
In dieser Konstellation konnte im Sommer 2015, unter Merkels Führung, die sogenannte Willkommenskultur zu ihrer großen Blüte kommen. Das gewaltsame Sterben von Menschen auf der Flucht wurde plötzlich nicht mehr verdrängt, sondern trat medial flächendeckend in Erscheinung. Die Angriffe auf Schutzsuchende in Deutschland, wie in Freital vor laufender Kamera, taugten plötzlich nicht mehr als Vorwand für ein strengeres Asylrecht, sondern im Gegenteil, wurden Anlass für eine großzügigere Handhabung. Der Legitimationsmangel des Flüchtlingsregimes ließ sich sogar in einen Legitimationsgewinn für die unkontrollierte, "illegale" Migration umbuchen. Da den Flüchtlingen keine andere Wahl gelassen wurde, um ihr Leben zu retten, so schien es, konnte man immerhin verstehen, dass sie sich ihren Weg selbst bahnten.
Gerade in den Schutzräumen der Kunst war das Engagement häufig begleitet von Ideen, wie mit Gesetzesverstößen experimentiert werden könnte, um den Staat dazu zu zwingen, die Rechtmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit der Gesetze gegen illegale Migration zu überprüfen.
Dies alles geschah getragen vom Mainstream. Aber es geschah auch in dem Zeitgefühl, etwas völlig Neues, einen radikalen Anfang zu erleben. Es herrschte eine merkwürdige Euphorie. Begegnungen, Beziehungen auf Augenhöhe fanden statt. Es wurde nicht nur geholfen, sondern geteilt. Es schien im Bereich des Möglichen, das "Migrationsregime"
Integrationismus und Inklusionismus
Wenn die Euphorie ein ferner Ausläufer des "revolutionären Bewusstseins" war, wie von Habermas beschrieben, im Dienste der zugleich unaufhebbaren und unerreichbaren transnationalen Werte der Französischen Revolution und unserer eigenen Verfassungskultur, dann bleibt zu fragen, worin genau die Selbsttäuschung bestand, die diese Mini-, Proto- oder vielleicht auch Pseudo-Revolution des Sommers 2015 möglich und unmöglich zugleich machte. Die Willkommenskultur 2015 war äußerst heterogen, sie vereinigte ganz unterschiedliche Interessen, Ziele und Erfahrungen. Aber man kann sie vereinfachend auf zwei Richtungen festlegen:
Die Inklusionistinnen wollten Zugehörigkeit auf der Grundlage politischer und sozialer Rechte und Pflichten, inklusive des Menschenrechts und Grundrechts auf Asyl. Sie wollten eine Verwirklichung des universellen Anspruchs der Verfassung, unabhängig und wenn nötig auch auf Kosten der ethnisch-kulturellen Dimension. Die Integrationistinnen hingegen machten diesen Sprung nicht: Sie sahen auf Deutschland als eines der reichsten Länder der Welt und hielten die deutsche Gesellschaft für fähig, eine neue postmigrantische Identität zu finden.
Doch genau dieser Integrationismus wurde zum Einfallstor, durch das die Exklusionisten, die Vertreter der Ablehnungskultur, nach dem Ende des Sommers spazieren konnten. In der Ablehnungskultur war man in den Jahren seit 1990 auch nicht faul gewesen. Es hatten sich Bewegungen gebildet, die den Rassismus nicht mehr auf Suprematie oder Genetik gründeten, sondern auf der Behauptung, dass die Welt aus säuberlich voneinander abgegrenzten "Kulturkreisen" bestünde. Der Kulturalismus und Ethnopluralismus konnte sich das Integrationsparadigma durch Verabsolutierung zunutze machen: Das Verständnis vom Deutschsein wurde auf die "christlich-jüdische Traditionsgemeinschaft" ausgeweitet, europäisiert und mit der self-fulfilling prophecy verknüpft, dass es angeblich nicht möglich sei, eine größere Zahl von Menschen aus "muslimischen Kulturkreisen" mit der christlich-jüdischen Traditionsgemeinschaft zu verschmelzen. Gleichzeitig wurden rassistische Handlungen und Redeweisen wieder als Erpressungswerkzeuge eingesetzt. Je lauter die Rechten wurden, desto schwieriger konnte Merkel ihren Anspruch, dass Deutschland es "schaffen" würde, aufrechterhalten. Egal, wie gut die wirtschaftliche und soziale Integration funktionierte – es war jedem Deutschen jederzeit möglich, durch gut platzierte Islamophobie und Ausländerfeindlichkeit die kulturelle Integration zu verweigern. Merkel musste sich wohl in ihrem Land getäuscht haben. So wanderten nach dem Ende des langen Sommers immer mehr Integrationisten von der Willkommenskultur in die Ablehnungskultur ab, weil die Integration, von Teilen nicht gewollt, im Ganzen nicht funktionierte – während die Inklusionistinnen als naive "Gutmenschen" dastanden, als angeblich unverantwortliche Komplizen eines Einwanderungsexperimentes, das von vornherein zum Scheitern verurteilt schien.
Was wird aber bleiben von der Willkommenskultur 2015? Erstens bleiben wieder die Institutionalisierungen, die von ihr und in ihr geschaffenen Strukturen, Netzwerke, Mentalitäten. Zweitens bleiben die Furcht und das Wissen, dass – so Hannah Arendt ahnungsvoll schon 1963 – "aller Grund (besteht), sich zu fürchten": In der Begegnung mit den Realitäten und Revolutionen, die hinter den Zwangsmigrationen stehen, bekamen wir eine Anschauung der "konkreten Gründe, die für die Möglichkeit einer Wiederholung der von den Nazis begangenen Verbrechen sprechen".