Einleitung
Indien befindet sich seit fast drei Jahrzehnten in einer Phase tiefgreifender wirtschaftlicher, sozialer und insbesondere politischer Veränderungen. Die Entwicklung des indischen Parteiensystems von einer Einparteiendominanz zu einem Quasi-Zweiparteiensystem, der damit verbundenen Politik der Koalitionen
Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen ist jedoch das Auftreten eines Phänomens, welches mit Hilfe unterschiedlichster Begrifflichkeiten wie Hindu-Nationalismus, Hindu-Fundamentalismus, Hindu-Chauvinismus oder Hindu-Kommunalismus zu erfassen versucht wird. Die damit assoziierten negativen Konnotationen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft wurden dabei stets zu den bedrohlichsten Herausforderungen für die indische Demokratie gezählt. Die sich vermeintlich abzeichnende Veränderung der politischen Kultur, geprägt durch gewalttätige Ausschreitungen gegenüber religiösen Minderheiten, zunehmende Versuche der Aushöhlung grundlegender Verfassungsprinzipien wie den Säkularismus sowie das immer stärkere Formulieren radikaler politisch-gesellschaftlicher Forderungen, schien das indische Modell der Konsensdemokratie grundlegend in Frage zu stellen und düstere Prognosen zu bestätigen.
Dabei wurde der wesentlichen Frage nur bedingt nachgegangen: Inwieweit kann sich ein solches Phänomen dauerhaft zu einer geschlossenen politischen Kraft formieren, mit Aussicht nicht nur auf eine kurzfristige Machtübernahme, sondern auch auf längerfristigen Machterhalt? Zwar erlebten die Hindu-Nationalisten bei den Bundeswahlen 2004 und weiterer Landeswahlen einen gewissen Niedergang. Doch kann daraus nicht geschlossen werden, dass sich dies in Zukunft wiederholen wird. Vielmehr gilt es daher, die organisatorischen Strukturen, die bis dato als Motor und Erfolgsgarant galten, perspektivisch auszuleuchten und deren Zusammenspiel sowie etwaige Probleme zu bewerten, um diese aus dem Bereich der Bedrohungswahrnehmungen ausschließen zu können.
Phänomen Hindu-Nationalismus
Hindu-Nationalismus soll hier als ein gesellschaftliches Phänomen aufgefasst werden, welches seinen sichtbaren Ausdruck in der Genese einer sozialen Bewegung findet, deren Trägergruppe ein Verbund von Organisationen darstellt, der unter dem Namen Sangh Parivar bekannt ist.
Vorweg kann festgestellt werden, dass der Hindu-Nationalismus keine in sich homogene Größe ist, sondern von seiner personellen wie organisatorischen Trägerschaft her in seiner themenspezifischen Zielsetzung durchaus vielgestaltig und variabel ist. Dennoch kann dieses Phänomen, trotz zum Teil erheblich divergierender programmatischer und institutioneller Formen, als eine nach außen klar definierte soziale wie politische Bewegung gesehen werden. Es steht dabei außer Frage, dass es sich um eine außerordentlich untypische soziale Bewegung handelt, entsprechend den Worten von Amrita Basu, "more orchestrated than spontaneous, more elitist than subaltern, and more hateful than compassionate".
Hindutva - Ideologie und Identität
Die Entwicklung eines ideologischen Konzeptes zur Schaffung einer kulturellen Identität als Rüstzeug für den angestrebten sozialen Wandel entwickelte sich u.a. aus der Reaktion auf die Konfrontation mit dem Islam, insbesondere aber mit dem Christentum. Kennzeichen sind dabei unterschiedliche regionale Strömungen, vielfältige personelle wie ideologische Überschneidungen sowie westliche Einflussgrößen. Das umfassendste und einflussreichste Konzept stellt das Hindutva-Manifest von Vinayak Damodar Savarkar dar.
Neben dieser essentiellen Loyalitätspflicht des Individuums ist die Gemeinschaft als Ganzes dazu angehalten, die Basis nach dem "Gesetz der Zahl" nachhaltig zu schützen und zu erweitern. Dieser Prozess der Nationenbildung (Hindu Rashtravad) wird bestimmt durch politische Determinanten, die auch den nicht-hinduistischen Minderheiten ihre Position zuweisen und rudimentäre makroökonomische Zielvorstellungen und soziale Reformen vorgeben. Hierunter sind in erster Linie Maßnahmen gegen Phänomene zu verstehen, die in der hinduistischen Gesellschaftordnung als Fehlentwicklung interpretiert werden. Im Zentrum der von Savarkar angestrebten Reformansätze stehen dabei die Aufhebung der Unberührbarkeit sowie das auf Geburt basierende Kastensystem mit den damit verbundenen gesellschaftlichen Restriktionen.
Damit das Hindutva-Konzept identitätsstiftende Wirkung entfalten kann, erfolgt dessen Ausgestaltung auf der Basis dreier kognitiver Codes:
Sangh Parivar
Unter dem Begriff Sangh Parivar (Familie) wird ein Verband von parlamentarischen und außerparlamentarischen Organisationen verstanden, der sich weitestgehend der Hindutva-Ideologie verpflichtet hat und als Trägergruppe der hindu-nationalistischen Bewegung zu betrachten ist. Im Zentrum dieser Familie steht ein arbeitsteiliges Triumvirat der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) als organisatorisches und ideologisches Rückgrat, der Vishwa Hindu Parishad (VHP) zur Abdeckung religiöser Fragen sowie die Bharatiya Janata Party (BJP), welche die parlamentarische Vertretung übernimmt. In ihrer "Kulturarbeit" werden sie von einem weitgespannten Netz unterschiedlichster Einrichtungen wie Missionsorganisationen, Schulen, Krankenhäuser und Verlagen unterstützt.
Der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, Nationale Freiwilligen-Vereinigung) wurde 1925 als eine "kulturelle" Organisation mit einer klaren politischen Agenda gegründet, um der Zersplitterung der Hindu-Gesellschaft Einhalt zu gebieten und einen starken hinduistischen Staat zu etablieren. Ein Mangel an Moral, Disziplin und Charakter hat dieses bisher verhindert. Gelänge es dem RSS einen bestimmten Anteil der Hindus im Sinne von Hindutva zu schulen, würde eine physisch und moralisch neue hinduistische Elite erschaffen werden.
Auf Bestreben des RSS wurde der Vishwa Hindu Parishad (VHP, Weltrat der Hindus) 1964 ins Leben gerufen und gilt als dessen wichtigste kultur- und religionspolitische Nebenorganisation. Für die Gründung lassen sich zwei wichtige Motive nennen: Erstens sollte den institutionalisierten monotheistischen Religionen des Westens eine Organisation gegenüber gestellt werden, die den "desorganisierten und selbstvergessenen Zustand" der Hindus aufhebt und diese darüber hinaus formiert.
Der VHP wurde daher als eine Plattform für die verschiedenen hinduistischen Bewegungen, Schulen und Sekten geschaffen, nicht nur um die Einheit der Hindu-Gemeinschaft, die Ekatmata, zu propagieren, sondern auch, um die Möglichkeit zu haben, direkten Einfluss auf diese Gruppen auszuüben. Darüber hinaus bietet der VHP wichtige Dienstleistungen für entsprechende Parteien und andere Organisationen an, sofern diese mit seinen Zielen übereinstimmen. Trotz der personellen Kontrolle durch RSS-Kader in der Führungsspitze hat sich der VHP im Laufe der Jahre als eine politisch einflussreiche sowie zunehmend eigenständige hindu-nationalistische Organisation etabliert.
Der Aufstieg der Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei), die 1980 aus dem bereits 1951 gegründeten Bharatiya Jan Sangh (BJS) hervorgegangen ist, gilt als eines der signifikantesten politischen Ereignisse des modernen Indiens. Mit ihren radikalen Positionen fristete die Partei lange Zeit ein politisches Schattendasein. So propagierte sie beispielweise den Bau eines Ram-Tempels in Ayodhya und die Außerkraftsetzung des Artikels 370, der die Sonderstellung Kaschmirs und die Vereinheitlichung des Zivilrechts regelt.
Erst mit dem Bruch der Dominanz des bislang herrschenden INC
Im Verbund des Sangh Parivar fungiert der RSS als eine Art Mutterorganisation und Kaderschmiede. Unter anderem durch Doppelmitgliedschaften und die Bereitstellung personeller und infrastruktureller Unterstützung
Ayodhya - Kulminationspunkt und Krise
Ayodhya ist der Mittel- und Brennpunkt auf der politischen Landkarte des unabhängigen Indiens. Die dortige Babri-Moschee wurde von der hindu-nationalistischen Bewegung auserwählt, einen Wandel in Indiens Selbstverständnis herbeizuführen. Diese heilige Stätte bietet stets Anlass zu Gewaltausbrüchen zwischen Hindus und Muslimen. Ihre Bedeutung ist eher mythischer als historisch belegbarer Natur und kann als Synthese von Religion, Geschichte und Politik aufgefasst werden.
Der Legende nach ist Ayodhya nicht nur die Geburtsstätte des hinduistischen Gottes Ram,
Die Ayodhya-Agitation symbolisiert für den RSS einen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Sie stand für die Wiederherstellung des nationalen Stolzes und als signifikante Wegmarke in Richtung eines hinduistischen Staates. Folglich unterstützte der RSS den VHP leidenschaftlich. Das Zusammenspiel der einzelnen Organisationen der Sangh-Familie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der VHP organisierte die Massenunterstützung, und als deutlich wurde, dass diese groß genug war, engagierte sich die BJP. Zu entscheidenden Zeitpunkten beteiligte sich der RSS direkt. Während RSS und VHP für den ideologischen und auch organisatorischen Rückhalt der Mobilisierung sorgten, gewährleistete die BJP die parlamentarische Rückendeckung und politische Transformation der radikalen Inhalte.
Seit die BJP aber mit der Regierungsverantwortung betraut war, versuchte sie, sich von dem Konflikt und von ihren einstigen Bewegungspartnern zu distanzieren. Die radikale VHP dagegen treibt das Projekt mit unverminderter Vehemenz voran und zeigt, dass der außerparlamentarische Hindu-Nationalismus gerade im spezifisch religiösen Kontext besondere Radikalität an den Tag legt. Für die BJP war die Zerstörung der Moschee ein Pyrrhus-Sieg. Ein großer Teil der Mittelklasse, Stammwähler der BJP, empfand die Zerstörung der Moschee als ungerechtfertigt und entzog der Partei ihr Vertrauen.
Das Dilemma der Bewegung
Die zu beobachtenden Vorgänge innerhalb der Sangh Parivar weisen typische Merkmale eines Bewegungsdilemmas auf. Neben Spannungen zwischen den moderaten und radikalen Strömungen innerhalb der BJP traten zunehmend Dissonanzen im Außenverhältnis zu RSS und VHP auf. Bis zur Übernahme der Regierungsverantwortung durch die BJP waren offen ausgetragene Konflikte zwischen den einzelnen Gruppierungen selten - zu bedeutend war der Stellenwert des RSS und des VHP, als dass die BJP unverhüllt Kritik an diesen geübt hätte. Neben der starken emotionalen Bindung sind sich die Parteikader durchaus bewusst, dass der politische Aufstieg ohne den Rückhalt der Bewegung nicht möglich gewesen wäre. Zudem hat die BJP die politische Vertretung des organisierten Hindu-Nationalismus nicht monopolisiert, eine Tatsache, die dieser bereits in der Vergangenheit durch die Wahl einer anderen parteipolitischen Option unterstrichen hat.
Dennoch sind die Risse in der Architektur der Sangh-Familie, welche im Zuge der "Ayodhya-Erschütterung" aufgetreten sind, während der BJP-Regierungszeit deutlicher geworden. So scheint es, dass die Beziehungen von RSS und VHP zur BJP wie zu anderen Parteien mehr eine Frage von Kalkül und Taktik, nicht von Loyalität sind. Dementsprechend haben sich die Beziehungen zwischen BJP und VHP nicht nur abgekühlt und versachlicht, auch das Konfliktpotential ist gewachsen.
Die Regierungsjahre der BJP haben gezeigt, dass die Aneignungsstrategie des RSS auch ihre Schwächen hat. So besteht beim liberalen Mainstream der BJP-Elite die Vorstellung, dass es sich bei der BJP und dem RSS und anderen Bewegungsteilen um unterschiedlich ausdifferenzierte, kollektive Akteure handelt, die zwar in Wechselbeziehungen zueinander stehen, die aber sowohl überschneidende wie unterschiedliche Interessen vertreten. Insbesondere wurde offensichtlich, dass sich die BJP nicht nur als Spielbein betrachtet, also gewissermaßen eine nachrangige Funktion übernimmt, die lediglich darauf ausgerichtet ist, als eine Art Befehlsempfänger oder Sprachrohr der Bewegung zu fungieren. Die Partei bezog zunehmend Positionen, die sie immer mehr auf Distanz zur Kernideologie des RSS brachten. Infolgedessen hatte der VHP im Kontext der Ayodhya-Kontroverse zunehmend den Druck auf die BJP erhöht, um Regierung und Volk daran zu erinnern, dass es dem Hindu-Nationalismus um mehr geht als um den "Thron von Delhi".
Hindu-Nationalismus als Danaergeschenk?
Der Hindu-Nationalismus befindet sich aus eigener Perspektive in einer grotesken Situation. Um gemäß Hindutva die säkulare Staatskonzeption in eine hinduistische zu transformieren, musste er sich als eine anti-systemische Kraft konstituieren. Anstatt jedoch den gewünschten Wandel herbeizuführen, trug er, eher ungewollt als bewusst, zur Konsolidierung der bestehenden Ordnung bei. Entgegen den Forderungen des radikalen Flügels der Bewegung hat sich die BJP aufgrund politischer Notwendigkeiten zu einer Partei entwickelt, die weder die Struktur, die Spielregeln noch die normative Begründung des politischen Systems ablehnt und aktiv bekämpft.
Die alleinige Betrachtung der Entwicklung der Parteienlandschaft mag an dieser Stelle zu einer Zwischenbilanz verleiten, die wie folgt aussehen könnte: Der BJP gelang es, gegenüber anderen Regionalparteien oder vielmehr "dritten Kräften" der Dominanz des INC zunächst eine bemerkenswerte Opposition entgegenzustellen und den INC in freien und fairen Wahlen abzulösen. Dieses führte zu einem funktionierenden Quasi-Zweiparteiensystem. Sie füllte damit nicht nur das Machtvakuum, welches durch die schwere Krise des INC entstanden ist, sondern etablierte eine politische Alternative. In der Folge konnte einer drohenden Fragmentierung des Parteiensystems Einhalt geboten und die politische Ordnung als Ganzes stabil gehalten werden.
Den Hindu-Nationalismus aber als eine Art Stütze der indischen Demokratie zu bezeichnen, führt weit an der politischen und gesellschaftlichen Realität vorbei. Er wird nicht nur mit außerordentlich bedrohlichen Begleiterscheinungen in Verbindung gebracht, wie die bürgerkriegsähnlichen Zustände nach Ayodhya und den pogromähnlichen Ausschreitungen in Gujarat 2002, denen mehrere tausende Muslime zum Opfer fielen, sondern auch mit einem Sozial- und Staatskonzept, das dem Fundamentalkonsens der indischen Gesellschaft diametral entgegensteht.
Die BJP musste bereits früh erkennen, dass ihr Aufstieg auf den Bewusstwerdungs- und Partizipationsprozessen der neuen Mittelklasse basierte, welche sie temporär als Alternative zu identifizieren glaubte. Hindutva als Programm konnte weder eine ausreichende kohäsive Wirkung entwickeln, um die Sangh Parivar als eine geschlossene Bewegung zusammenzuhalten, noch erwies es sich im Rahmen einer nachhaltigen politischen Mobilisierung als brauchbar.
Die soziale Basis der BJP war mehr am wirtschaftlichen Wachstum sowie an Recht und Ordnung als an antiken Mythen und Gewalt gegenüber Minderheiten interessiert. Die Widerstände gegen Versuche, wenigstens ein sogenanntes Soft-Hindutva