Einleitung
Im Februar 2003 beauftragte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine unabhängige Sachverständigenkommission mit dem Siebten Familienbericht zum Thema "Zukunft der Familie - Gesellschaftlicher Wandel und sozialer Zusammenhalt". Ziel des Berichts sollte es sein, grundlegende und längerfristige Trends zur demografischen Entwicklung, zu den Veränderungen von Arbeitswelt und Wirtschaft, den Geschlechterrollen und auch zum Zusammenhalt der Gesellschaft zu prüfen und Empfehlungen zu entwickeln. In ihrer Stellungnahme erklärte die Bundesregierung, dass Familienpolitik "in die Mitte der politischen Anstrengungen" gehöre: "Das Ziel, mehr Kinder in die Familien und mehr Familien in die Gesellschaft zu bringen", benötige "eine Aufwertung der Familie sowie eine Familienpolitik, die neue Wege wagt. Familienpolitik ist darauf ausgerichtet, Familien zu unterstützen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern und dabei zu helfen, dass Lebensentwürfe mit Kindern realisiert werden können." Die Bundesregierung versprach, ihre Familienpolitik verstärkt "auf den Ausbau einer wirksamen Infrastruktur für Bildung und Betreuung sowie Maßnahmen zur Erwerbsintegration von Frauen und eine bessere Balance von Familie und Arbeitswelt" auszurichten.
Der erklärte "Paradigmenwechsel", mit dem die Bundesregierung der Empfehlung der Sachverständigenkommission folgte, ist bemerkenswert.
Der Report gab der Diskussion um die Zeitstruktur des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens weiteren Auftrieb, die nach den ersten Berichten über das schlechte Abschneiden deutscher Schüler und Schülerinnen in den Erhebungen des Programme for International Student Assessment (PISA) der Organization for Economic Co-operation and Development (OECD) 2000/01 eingesetzt hatte. PISA hatte insbesondere die ungleichen Bildungschancen von Kindern aus der Unterschicht, vor allem aber von Migrantenkindern im deutschen Bildungssystem kritisiert.
Wieso waren und sind die Vorbehalte gegen eine Ganztagserziehung in Kindergarten und Schule so stark ausgeprägt? Was hat dazu geführt, dass Deutschland hinsichtlich des ganztägigen Erziehungsangebots nach wie vor zu den Schlusslichtern der EU gehört? Wir gehen davon aus, dass die "Sonderentwicklung" in der Bundesrepublik nur im Vergleich mit der DDR verstanden werden kann. Beide Staaten waren hinsichtlich ihrer Zeitpolitik im Erziehungs- und Bildungswesen durch ein spannungsreiches Verhältnis von Abgrenzung und Verflechtung verbunden.
Bundesrepublik: Strukturelle Beharrung und kulturelle Restauration
Die Bundesrepublik knüpfte nach dem Zweiten Weltkrieg an bildungs- und familienpolitische Traditionen der Weimarer Republik an. Die allgemeine Not nach Kriegsende ließ wenig Raum für die Beschäftigung mit strukturellen Reformplänen. Es fehlte an den elementaren Voraussetzungen für Schularbeit und Jugendfürsorge.
Derartige Reformvorstellungen stießen auf wenig Gegenliebe. Vor allem bürgerlich-liberale und christlich-konservative Kreise entwickelten ihre Vorstellungen zur Bildungspolitik in einer dreifachen Frontenbildung: in Abgrenzung gegen das desavouierte NS-Erziehungssystem mit seiner Tendenz zur totalitären Gemeinschaftserziehung, welche die Jugend von der Familie entfremdet hatte; in Abgrenzung zur Schulpolitik in der SBZ;
In dieser Konstellation hatten weiterreichende Reformen keine Chance. Bildungspolitik blieb in der Länderhoheit. Die sozial segregierende, mehrgliedrige Struktur des Schulsystems wurde beibehalten. Bildung galt nach wie vor als Aufgabe des Staates - Erziehung wurde als elterliche Pflicht definiert. Öffentliche Kindererziehung in Schulhorten oder Kindergärten wurde nur als sozialfürsorgerische Notmaßnahme begriffen und blieb wie in der Weimarer Republik der Jugendfürsorge unterstellt. Das tradierte bürgerliche Leitbild, nach dem die Familie der Haupterziehungsort und die Mutter die bestmögliche Erzieherin war, wurde in der frühen Bundesrepublik im Kontext einer vor allem von den christlich-konservativen Parteien und Verbänden betriebenen Politik der Re-Christianisierung und Familiarisierung zur alle Politikbereiche dominierenden kulturellen Norm. Im Zentrum stand das Leitbild der Ernährer-Hausfrau-Familie. Das Angebot an Kindergarten- und Hortplätzen wurde bewusst knapp gehalten, um Mütter von einer Erwerbstätigkeit abzuhalten. Das zumeist halbtägige Angebot an Kindergartenplätzen für drei- bis sechsjährige Kinder überstieg bis 1965 nie eine Marke von 33 Prozent und blieb damit auf dem Niveau der Kriegszeit.
Die Ganztagsschule war im bildungspolitischen Diskurs bis Mitte der 1950er Jahre kaum ein Thema. Lediglich Reformpädagogen und -pädagoginnen plädierten vor allem aus sozialpädagogischen Motiven für die "Tagesheimschule", die sie "als soziale Maßnahme im Kampf gegen die zeitspezifische Not der Kinder und Jugendlichen" propagierten.
Noch Ende der 1950er Jahre wurde die "Tagesheimschule" von den Unionsparteien, den Kirchen, von Ärzten, Sozialwissenschaftlern und Lehrerverbänden scharf abgelehnt. Vor allem die katholische Kirche und die ihr nahe stehenden Verbände plädierten für ein starkes "Elternrecht". Ihr Hauptargument war, dass die Ganztagsschule die Erziehungsmöglichkeiten der Familie in ihrer Substanz bedrohe und die Kinder der Familie entfremde.
Müttererwerbstätigkeit blieb im Wirtschaftsboom der 1950er und 1960er Jahre umstritten. Das Angebot von Teilzeitarbeitsplätzen für Ehefrauen und Mütter wurde zwar ausgebaut,
DDR: Politischer Umbruch und ökonomischer Zwang
In der DDR wurde ein Bruch mit den alten Strukturen betrieben, der hier mit den Stichworten Entnazifizierung, "Neulehrer", Verdrängung der Kirche, Chancengleichheit und Gegenprivilegierung nur angedeutet werden kann. Die achtjährige Einheitsschule hob die traditionelle Differenzierung in Volksschule und Höhere Schule auf und brach mit dem bürgerlichen Bildungsmonopol. Die scharfe Trennung von Erziehung und Bildung wurde gelockert; Kindergärten und Schulhorte wurden erstmals in das Bildungssystem integriert und dem Bildungsministerium unterstellt. Die traditionelle Halbtagsschulstruktur wurde allerdings beibehalten - vor allem aus finanziellen Gründen, aber auch, weil ein bildungspolitisches Vorbild fehlte. Die Tradition der sozialistischen Reformpädagogik der Weimarer Republik, die sich wie der "Bund Entschiedener Schulreformer" für eine "elastische Einheits- und Arbeitsschule" mit ganztägigem Unterricht eingesetzt hatte, wurde seit Beginn der 1950er Jahre als "bürgerlich" abgelehnt.
Öffentliche Kindererziehung war fortan Staatsaufgabe. Die Familie als traditionelle Erziehungsinstanz galt als historisch belastet und somit ungeeignet, das weit reichende gesellschaftliche Umbauprojekt voranzubringen. Erstrebt wurde zumindest in der Rhetorik der SED die Gleichberechtigung von Mann und Frau; in der Praxis wurde die Zwei-Ernährer-Hausfrau-Familie zur Norm. Vor allem aus finanziellen Gründen war das Angebot an Kindergartenplätzen in der DDR mit 33 Prozent Mitte der 1950er Jahre nicht viel höher als in der Bundesrepublik. Das zumeist ganztägige Angebot für Drei- bis Sechsjährige überstieg mit 49 Prozent erst 1960 deutlich das der Bundesrepublik.
Der institutionelle Bruch in der DDR verbunden mit der wachsenden Politisierung der Schule verstärkte im Westen die reformfeindliche Haltung im Bildungswesen. Dort wurde die Kollektiverziehung im Staatssozialismus mit der NS-Gemeinschaftserziehung gleichgesetzt.
Bundesrepublik und DDR: Reformen und Rückschritte
Bildung wurde - ausgelöst durch den "Sputnikschock" - allgemein zum Schlüsselthema in der Ost-West-Konkurrenz und damit zum zentralen Austragungsort des Systemwettbewerbs.
In beiden deutschen Staaten fiel die nachhaltige Weichenstellung in Richtung eines Halbtags- oder Ganztagssystems in die 1960er und 1970er Jahre. In der DDR trafen mehrere Entwicklungen zusammen, welche die Ganztagserziehung auf die politische Tagesordnung setzten: Erstens wurde aufgrund der zunehmenden Abwanderung in den Westen, vor allem von qualifizierten Arbeitskräften, eine stärkere Einbeziehung vor allem von Hausfrauen und Müttern ins Erwerbsleben erforderlich. Zweitens wurde das ehrgeizige bildungspolitische Ziel verfolgt, für alle Schüler die "10-klassige allgemein bildende polytechnische Oberschule" einzuführen. Dem Schulhort wurde eine neue Funktion zugeschrieben: Nicht mehr der Gedanke von Aufbewahrung und Aufsicht stand im Mittelpunkt, sondern das bildungsökonomische Argument. Mit Hilfe des Horts war der Lernprozess, der ganz auf die technische Revolution ausgerichtet werden sollte, zu intensivieren. Alle Kinder sollten den zehnklassigen Schulabschluss erreichen, "Arbeiter- und Bauernkinder" speziell gefördert und die hohe Sitzenbleiberquote gesenkt werden.
Ende 1959 zeichnete sich ab, dass die DDR dem sowjetischen Beispiel folgen würde. Bis 1966 sollten alle allgemeinbildenden Schulen in Tagesschulen umgewandelt werden. Das ZK der SED verfolgte dabei allerdings eine heimliche Agenda: Die Tagesschule war nur als Zwischenstadium gedacht, dem in den 1980er Jahren flächendeckend Internatsschulen folgen sollten. Anfang 1960 initiierte Walter Ulbricht eine Kampagne, mit der eine Gründungswelle von Tagesschulen angestoßen werden sollte.
Der Plan, die Tagesschule flächendeckend einzuführen, wurde bereits im Sommer 1960 gestoppt. Hauptgrund war die fehlende Finanzierung. Das Ministerium für Volksbildung hatte es versäumt, mit der Staatlichen Plankommission die benötigten Personal- und Sachmittel detailliert abzustimmen. Hinzu kam unerwarteter gesellschaftlicher Widerstand: Die DDR geriet in eine sich zuspitzende gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise. Der Anteil von Lehrern und Ärzten unter den DDR-Flüchtlingen war sprunghaft gestiegen. Im ZK wurde dies als Reaktion auf die Tagesschulkampagne interpretiert.
Nach dem Mauerbau im August 1961 stellte sich die Frage der Ganztagserziehung in der DDR neu. Das weibliche Arbeitskräftepotential musste noch dringender als zuvor ausgeschöpft werden.
Die Zahl der Kindergarten- und Hortplätze wurde zügig ausgebaut. Der Anteil der Drei- bis Sechsjährigen in einem Kindergarten stieg von 53 % im Jahr 1965 auf 85 % im Jahr 1975 und erreichte fünf Jahre später 92 %. Parallel dazu stieg die Frauenerwerbsquote von 54 % im Jahr 1953 auf 66 % im Jahr 1970 und 73 % im Jahr 1980 an.
In der Bundesrepublik setzte der seit Ende der 1950er Jahre unter dem Schlagwort "Bildungskatastrophe" diskutierte Rückstand in der Bildungsentwicklung, der zunehmend selbst von den Unionsparteien anerkannt wurde, erhebliche Reformkräfte frei.
Dementsprechend schlug der Deutschen Bildungsrat den Ausbau der Vorschulerziehung und der Ganztagsschule mit bildungsökonomischen Argumenten vor. Beides sollte zur besseren "Ausschöpfung der Bildungsreserven" und zu mehr "Chancengleichheit" beitragen.
Zunächst fanden die ganztägigen Schulversuche breite Unterstützung.
Nach dem Ende der Großen Koalition 1969 setzten heftige ideologische Kontroversen über die Bildungspolitik ein, in deren Zentrum die ganztägige Gesamtschule stand. Die Unionsparteien nutzten erneut das Negativklischee DDR und denunzierten die ganztägige Gesamtschule als "sozialistische Einheitsschule", die sie vehement ablehnten.
Im Unterschied dazu war in der späten DDR die Ganztagserziehung gesellschaftliche Normalität. 1989 besuchten 94 % der Drei- bis Sechsjährigen einen Ganztagskindergarten, und 81 % der Grundschulkinder gingen nach der Halbtagsschule in einen Hort. Die Erwerbsquote der 15- bis 64-jährigen Frauen war in der DDR mit 78 % die höchste innerhalb des Ostblocks. Der westdeutsche Vergleichswert lag bei 53 %, deutlich hinter Ländern wie Schweden (84 %), Dänemark (76 %) oder Großbritannien (63 %).
Annäherungen, Abgrenzungen und Folgen
Rückblickend fällt auf, dass die Ganztagsschule seit den späten 1950er Jahren in beiden deutschen Staaten im Kontext der internationalen Bildungsreformdebatten thematisiert wurde. Bildungspolitik wurde in dieser kurzen Periode der Bildungsreformen in Ost und West als Bildungsökonomie betrieben. Planungsoptimismus und die zunehmende Bedeutung wissenschaftlicher Experten als Politikberater gehörten zu den systemübergreifenden Gemeinsamkeiten. Die Ausschöpfung der Bildungs- und Arbeitsmarktreserven zielte in der DDR vor allem auf die Frauen, in der Bundesrepublik auf die Kinder aus unteren sozialen Schichten. Anders als in der DDR war die Vereinbarkeit von Familie und Vollzeitberufstätigkeit der Mütter in der Bundesrepublik nie Ziel der Ganztagserziehung. Die Halbtagsstruktur von Kindergärten und Schulen wurde vielmehr bewusst genutzt, um das erstrebte Modell der Ernährer-Hausfrau/Zuverdienerin-Familie durchzusetzen.
Traditionelle kulturelle Vorstellungen zu Bildung, Erziehung und Familie, bildungspolitische Ideologien, die eine realistische Wahrnehmung der Probleme verhinderten, und politische Abgrenzung zum Osten bestimmten in erheblichem Maße die westdeutsche Bildungspolitik zur Ganztagserziehung und verhinderten, dass die Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre, als andere westeuropäische Länder Bildungssystem und Familienpolitik zu modernisieren begannen, eine zeitgemäße Politik entwickelte.
Die Folgen zeigen sich bis heute, wurden gar durch die Wiedervereinigung noch verstärkt. Zu einem Zeitpunkt, als andere Länder die strukturelle Modernisierung ihres Bildungssystems vorantrieben, wurde das mehrgliedrige Halbtagsschulmodell auch in den neuen Bundesländern zur Regel gemacht, d.h. die Einheitsschule wurde dort abgeschafft und das intensive Betreuungsangebot im Hort dramatisch abgebaut, blieb allerdings besser als im Westen. Lediglich das Angebot an ganztägigen Kindergartenplätzen blieb im Osten weitgehend unangetastet.
Damit leistet sich die Bundesrepublik vor allem in den westlichen Bundesländern eines der rückständigsten Bildungs- und Betreuungssysteme Europas. Das mehrgliedrige Halbtagssystem steht einer gleichberechtigten Einbindung von Müttern in das Erwerbsleben ebenso im Wege wie der sozialen Chancengleichheit von Kindern.