Jedes Sprechen über Antisemitismus ist heute untrennbar verknüpft mit dem nationalsozialistischen Völkermord an den Jüdinnen und Juden.
Tatsächlich wäre es sonderbar, die grundsätzliche Gültigkeit von Adornos Forderung begründen zu müssen. Und doch wohnt dem Kategorischen und Exzeptionellen dieses Imperativs eine Problematik inne. Es geht dabei um die Frage der Universalisierbarkeit der Lehren von Auschwitz und deren konkrete Inhalte. Es stellen sich Fragen wie: Sind alle anderen Probleme dann nur nachrangige? Und welche wären das? Und was impliziert das für politische Bildungspraxis im Hier und Jetzt? Diese Fragen sind hoch aktuell, weil sich in der Praxis der Erinnerung an den Nationalsozialismus eine starke Fokussierung auf den Topos Auschwitz und dabei wiederum auf den eliminatorischen Antisemitismus etabliert hat – mit Folgen für verschiedene gesellschaftliche Debatten wie die um den Nahostkonflikt. Der Streit über diese Fragen ist keineswegs nur ein philosophischer, sondern zugleich von unterschiedlichen Interessen durchdrungen: angefangen bei den unmittelbar evidenten Anliegen der von Antisemitismus Betroffenen bis hin zu den die Geschichte der Bundesrepublik durchziehenden Instrumentalisierungen der Erinnerungspolitik für den Nachweis nationaler Läuterung. Dafür steht das Schlagwort des "Erinnerungsweltmeisters", mit dem noch die größten Verbrechen zum indirekten Quell "deutscher Größe" werden können.
Das durch diese erinnerungspolitischen Bezüge überformte Sprechen über Antisemitismus ist zunehmend von der Auseinandersetzung mit israelbezogenem Antisemitismus dominiert. Es findet also anhand eines spezifischen Konfliktgegenstands mit langer eigener Geschichte und hoher Komplexität statt. Dieser erlaubt kaum eine einfache Rezeptanwendung, schon gar nicht die Indienstnahme von Imperativen wie dem Adornos für ein allzu simples Parteiergreifen für eine der Konfliktparteien. Diese Parteilichkeit ist gleichwohl typisch für die deutsche Nahostdebatte. "Radikale Identifikation" mit der israelischen oder palästinensischen Seite im Konflikt ist weit verbreitet und über alle politischen Lager hinweg institutionalisiert.
Antisemitismus als Symbol
Der Antisemitismus stand nicht immer im Zentrum der deutschen NS-Erinnerung, sondern ist erst im Zuge einer erinnerungspolitischen Konfliktgeschichte dahin gerückt.
Die Varianten des Umgangs mit dieser Ausgangslage sind vielfältig. Die vom Antisemitismus Betroffenen verfügen nicht nur über persönliche und medial vermittelte Erfahrungen wie die begrenzte Sichtbarkeit ihrer Sorgen außerhalb des politischen Symboldiskurses, sondern haben als Deutungshorizont nachvollziehbarerweise immer auch den Horror der nationalsozialistischen Vernichtungslager vor Augen. Antisemitinnen und Antisemiten leugnen oder rationalisieren die Verbrechen. Generell neigen diejenigen, die sich mit den Täterinnen und Tätern des "Dritten Reichs" identifizieren, dazu, die Schuld ihrer Identifikationsobjekte zu rechtfertigen, indem sie beispielweise den Holocaust bagatellisieren oder die Opfer als Täterinnen und Täter inszenieren. Eine andere, im konservativen Spektrum entstandene Variante nachträglicher Selbstentlastung resultiert in einer problematischen Instrumentalisierung und doppelten Vereinfachung: Die Opfer des Nationalsozialismus werden mit Israel identifiziert und dieses wird als Beweis der nationalen Läuterung idealisiert. Empathie und Solidarität mit den Opfern von Antisemitismus, die es als weitere Option gibt, ist mithin nur eine unter vielen. Und selbst diese kann in aktuellen Konflikten in Opferkonkurrenz umschlagen, was gegenwärtig beispielsweise zwischen den von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus Betroffenen zu beobachten ist. Unterstützerinnen und Unterstützer der Palästinenserinnen und Palästinenser deuten hingegen schon die Thematisierung von Antisemitismus häufig als eine gegen ihre Parteinahme gerichtete Strategie und wehren sie ab.
Nicht zuletzt deswegen muss auch herausgestellt werden, dass zu jedem Sprechen über Antisemitismus eben auch die Dauerpräsenz antisemitischen Sprechens und somit Handelns gehört. Dass in dieser Koexistenz von Diskriminierungs-, Ausgrenzungs- und Gewaltpraktiken einerseits und ihrer zusätzlichen Aufladung mit den "Bewältigungsversuchen" der Erinnerungspolitik und weiteren gegenwärtigen Indienstnahmen andererseits das Thema vor allem in konflikthafter Form in der Öffentlichkeit erscheint, ist wenig verwunderlich.
Dass diese Überlagerung für ein Verständnis und eine adäquate Reaktion auf gegenwärtige Erscheinungsformen des Antisemitismus nicht immer hilfreich ist, ist verschiedentlich angemerkt worden.
BDS-Debatte im Zeichen der NS-Erinnerung
Die Debatte um BDS vollzieht sich in diesem Rahmen. Die lose strukturierte Kampagne wurde 2005 als Reaktion auf das Ende des Nahostfriedensprozesses, den Mangel an Fortschritten für die Palästinenserinnen und Palästinenser und das Scheitern ihrer militanten und terroristischen Handlungsformen ins Leben gerufen und findet mittlerweile weltweit Unterstützung. Die Kampagne, hinter der sich zumindest nominell ein Großteil der palästinensischen Zivilgesellschaft, indirekt aber auch militante, islamistische und terroristische Gruppen versammeln, will mit den namensgebenden Strategien Druck ausüben, um ihre Ziele zu erreichen: das Ende der Besatzung, die Rückgabe aller arabischen Gebiete, den Abbau der Sperranlagen, die vollständige Gleichberechtigung der arabischen Israelis sowie das Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge. Zur formalen Legitimation ihres Ansatzes bezieht sich die Bewegung insbesondere auf ihre Anliegen stützende UN-Resolutionen.
Die BDS-Kampagne bekommt in Deutschland starken Gegenwind. Sie kann aufgrund einer Vielzahl von Punkten kritisiert werden, etwa für die radikale Interpretationen begünstigende Unklarheit in ihren Forderungen, eine unversöhnliche bis feindselige Grundhaltung, die unvermeidliche Stigmatisierung Israels und die Verunmöglichung israelisch-palästinensischer Friedensarbeit.
So verurteilte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller die Praxis der BDS-Bewegung, "mit antisemitischen Schildern vor jüdischen Geschäften" zu stehen, als "unerträgliche Methoden aus der Nazizeit".
Zur administrativen Abfertigung des Themas kommen gerichtliche Auseinandersetzungen um BDS-nahe beziehungsweise der BDS-Nähe verdächtige Veranstaltungen und zivilgesellschaftliches Campaigning bis hin zu Blockaden durch israelsolidarische und antisemitismuskritische Gruppierungen, die auf die Verhinderung öffentlicher Präsenz der BDS-Bewegung setzen. Gerichte haben dem aber unter Verweis auf die Meinungsfreiheit immer wieder Grenzen gesetzt.
Die BDS-Anhängerinnen und -Anhänger reagieren spiegelbildlich. Im Beharren auf der formalen Berechtigung ihrer Anliegen wird Kritik, die Teile der Unterstützerinnen und Unterstützer und der Forderungen zu Recht trifft, nicht reflektiert oder mit strategischen Argumenten abgefedert. So definieren die deutsche BDS-Sektion in ihrem Aufruf und das BDS-Komitee aus Ramallah in einem offenen Brief das zu befreiende "arabische Land" explizit als die 1967 völkerrechtswidrig durch Israel besetzten Gebiete.
Verrechtlichung, Versicherheitlichung, Antifaisierung
Fast alle administrativen Anti-BDS-Beschlüsse beziehen sich auf die Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Das Dokument hat eklatante Schwächen, die es kaum erlauben, es als Definition im Wortsinne zu betrachten, die die Erfassungs- oder Bekämpfungspraxis erleichtern könnte. Es ist bei oberflächlicher Betrachtung allgemein verständlich und leicht zugänglich, faktisch aber in sich widersprüchlich und äußerst vage. Verschiedene Aspekte von Antisemitismus (vor allem mit Bezug zum Nahostkonflikt) werden von der Definition zudem sehr umfangreich erörtert, während andere weitgehend fehlen. Ihr beigefügte verdeutlichende Beispiele laden zum ungeeigneten Gebrauch als Kriteriencheckliste ein.
Die Thematisierung von Phänomenen israelbezogenen Antisemitismus war dabei durchaus eine sinnvolle Ergänzung der klassischen Antisemitismuskonzepte um drängende Gegenwartsphänomene, auch wenn sie viel zu undeutlich gefasst wurden. Genau diese Anlage machte sie aber auch für einen problematisch vereinfachenden Diskurs nutzbar – und damit attraktiv für die Politik, um Handlungsfähigkeit und Aktivität gegen Antisemitismus zu demonstrieren, obwohl jedwede Handlungssicherheit angesichts der Bruchstückhaftigkeit und inneren Widersprüchlichkeit der "Definition" eine Fiktion bleiben muss.
Das Resultat, das sich derzeit in dieser Verflechtung von BDS- und Definitionsdebatte abzeichnet, stimmt wenig hoffnungsfroh. Die teils quasi-rechtliche Geltung der Arbeitsdefinition als Sanktionierungsinstrument befördert eine sukzessive Verrechtlichung und Versicherheitlichung der Debatte um Antisemitismus, die immer mehr als Ordnungsproblem gefasst und entsprechend ordnungsbehördlich und gerichtlich behandelt wird. Dies wird zivilgesellschaftlich und in der Wissenschaft flankiert von einer Verrohung der Umgangsformen (etwa in Form von Gegenboykotten und Blockaden) und dem Umsichgreifen von Kontaktschuldvorwürfen. Man kann dies – nicht zuletzt angesichts des vergleichbaren moralischen Horizonts und der vergleichbaren Handlungsstrategien – als eine Antifaisierung des Umgang mit BDS bezeichnen.
Durch diese Entwicklungen werden Diskursräume geschlossen, wo Ambivalenzen anerkannt, ausgehalten und diskutiert werden müssten, beispielweise die, dass Israel sowohl eine Folge des Holocaust und Schutzraum für jüdische Menschen als auch Besatzungsmacht mit einer Siedlungsgeschichte ist, die von den ersten jüdischen Neuansiedlungen im Palästina vor der Staatsgründung bis zum heutigen Siedlungsbau in den palästinensischen Gebieten reicht; oder die, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser einen legitimen Kampf gegen ihre Entrechtung führen, ihr Rumpfstaat aber zugleich undemokratisch und ihre Befreiungsbewegung in Teilen terroristisch und antisemitisch ist. Eine so verfahrene und multidimensionale Konfliktkonstellation, die durch die Eigenläufigkeit der mit ihr verbundenen Interpretationskämpfe zusätzlich an Komplexität gewinnt, erfordert eher Deutungsdemut und emotionale Abrüstung. Stattdessen wird auf administrative Diskursbeendigung gesetzt.
Das aber ist kein Lernen im emanzipatorischen Sinne, sondern eine entsetzte Flucht aus der Geschichte. Denn man hat wenig gelernt, wenn man schlicht das Gegenteil des Verworfenen bekräftigt und in dessen historischem Kontext gefangen bleibt.